· 

Neuartiges Material zeigt auch neue Quasiteilchen

Niels Schröter (links) und Vladimir Strocov an ihrer Experimentierstation in der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS des PSI. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Niels Schröter (links) und Vladimir Strocov an ihrer Experimentierstation in der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS des PSI. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)

DMZ - Technik / Forschung ¦

 

Forschende des PSI haben ein neuartiges kristallines Material untersucht, das bislang nie gesehene elektronische Eigenschaften zeigt. Es handelt sich um einen Kristall aus Aluminium- und Platin-Atomen, die in besonderer Weise angeordnet sind. In den sich symmetrisch wiederholenden Einheitszellen dieses Kristalls waren einzelne Atome so gegeneinander versetzt, dass diese – gedanklich verbunden – der Form einer Wendeltreppe folgten. Daraus ergaben sich für den Kristall als Ganzes neuartige Eigenschaften des elektronischen Verhaltens, darunter sogenannte Rarita-Schwinger-Fermionen in seinem Inneren sowie sehr lange und zudem vierfache topologische Fermi-Bögen an seiner Oberfläche. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden nun im Fachblatt Nature Physics.

 

Forschende am Paul Scherrer Institut PSI haben eine neue Sorte Quasiteilchen gefunden. Quasiteilchen sind Zustände im Material, die sich in gewisser Weise wie tatsächliche Elementarteilchen verhalten. Eine bestimmte Sorte Quasiteilchen hatten die beiden Physiker William Rarita und Julian Schwinger bereits 1941 vorhergesagt, die nach ihnen als Rarita-Schwinger-Fermionen bekannt wurden. Genau diese wurden nun erstmals experimentell nachgewiesen – unter anderem dank Messungen an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS am PSI. „Soweit wir wissen, sind wir – zeitgleich zu drei weiteren Forschungsgruppen – mit die ersten, die Rarita-Schwinger-Fermionen gesehen haben“, freut sich Niels Schröter, Forscher am PSI und Erstautor der neuen Studie.

 

Die Suche nach exotischen Elektronen-Zuständen

Auf die Quasiteilchen stiessen die Forschenden bei der Untersuchung eines neuartigen Materials, eines besonderen Aluminium-Platin-Kristalls. „Mit blossem Auge betrachtet war unser Kristall einfach ein kleiner Würfel: etwa ein halber Zentimeter gross und schwarz-silbern“, erzählt Schröter. „Unsere Kollegen am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden haben ihn nach einem besonderen Verfahren hergestellt.“ Neben den Forschenden in Dresden waren an der aktuellen Studie auch Wissenschaftler in Grossbritannien beteiligt sowie weitere in Spanien und in den USA. Das Ziel der Dresdner war, eine massgeschneiderte Anordnung der Atome im Kristallgitter zu erreichen.

 

In einem Kristall hat jedes Atom einen exakt zugewiesenen Platz. Eine oft würfelförmige Gruppe beieinanderliegender Atome bildet dabei ein Grundelement, die sogenannte Einheitszelle. Diese wiederholt sich in alle Richtungen und bildet so den Kristall mit seinen typischen, auch von aussen sichtbaren Symmetrien. In dem nun untersuchten Aluminium-Platin-Kristall waren jedoch in nebeneinanderliegenden Elementarzellen einzelne Atome so gegeneinander versetzt, dass diese – gedanklich verbunden – der Form einer Wendeltreppe folgten; oder anders gesagt: einer Schraubenlinie. „Es hat also genau wie geplant geklappt: Wir hatten einen chiralen Kristall“, erklärt Schröter.

 

Kristalle wie zwei Hände

Chirale Materialien lassen sich mit unseren Händen vergleichen: Die rechte Hand ist ein Spiegelbild von der linken. In chiralen Kristallen bedeutet dies, dass in einigen Exemplaren die gedachte Wendeltreppe der Atome linksherum verläuft, in anderen dagegen rechtsherum. Egal, wie man den einen Kristall dreht und anschaut, er wird sich immer vom andershändigen Kristall unterscheiden. „Wir Forschenden finden chirale Materialien sehr spannend“, erläutert Vladimir Strocov, PSI-Forscher und Mitautor der aktuellen Studie, „denn mathematische Modelle machen etliche Voraussagen, dass sich darin exotische physikalische Phänomene finden lassen.“

 

Und so war es tatsächlich bei dem nun untersuchten Aluminium-Platin-Kristall. Mit der Röntgenstrahlung der SLS und über die Methode der Fotoelektronenspektroskopie machten die Forschenden die elektronischen Eigenschaften im Inneren des Kristalls sichtbar. Komplementäre Messungen desselben Kristalls an der Diamond Light Source in Oxfordshire, England, erlaubten zudem den Blick auf die elektronischen Strukturen an seiner Oberfläche.

 

Diese Untersuchungen zeigten, dass es sich bei dem besonderen Kristall nicht nur um ein chirales Material handelte, sondern zusätzlich um ein topologisches. „Wir nennen diese Materialsorte ein chirales topologisches Semimetall“, so Strocov. „Dank der hervorragenden spektroskopischen Fähigkeiten der ADRESS-Strahllinie hier an der SLS sind wir nun mit die ersten, die ein solches Material experimentell nachgewiesen haben.“

 

Die Welt der Donuts

Topologische Materialien rückten durch den Physik-Nobelpreis im Jahr 2016 in die Öffentlichkeit, als drei Forscher für ihre Untersuchungen topologischer Phasen und Phasenübergänge ausgezeichnet wurden.

 

Die Topologie ist ein Bereich der Mathematik, der sich mit Strukturen und Formen beschäftigt, die einander ähnlich sind. Beispielsweise lässt sich aus einer Knetkugel nur durch Drücken und Ziehen ein Würfel, ein Teller oder eine Schüssel formen – all diese Formen sind also einander topologisch gleich. Um jedoch einen Donut oder eine Acht zu erhalten, muss man Löcher in den Ton machen: eines für den Donut, zwei Löcher für die Acht.

 

Diese Einteilung nach der Anzahl der Löcher sowie weitere Eigenschaften der Topologie übertrugen schon die 2016 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Wissenschaftler auf andere physikalische Eigenschaften von Materialien. So entstand beispielsweise die Theorie von sogenannten topologischen Quantenflüssigkeiten.

 

„Dass unser Kristall ein topologisches Material ist, bedeutet, dass im übertragenen Sinne die Anzahl der Löcher im Inneren des Kristalls eine andere ist als ausserhalb des Kristalls. An dem Übergang zwischen Kristall und Luft, also an der Kristalloberfläche, ist die Anzahl der Löcher darum nicht gut definiert. Klar ist jedoch: Hier ändert sie sich“, erläutert Schröter. „Wir sagen dazu, dass an der Kristalloberfläche ein topologischer Phasenübergang stattfindet. Als Folge entstehen dort neue elektronische Zustände: topologische Fermi-Bögen.“

 

Quasiteilchen im Inneren, Fermibögen an der Oberfläche

Genau die Kombination dieser beiden Phänomene, der Chiralität sowie der Topologie des Kristalls, führen zu den ungewöhnlichen elektronischen Eigenschaften, die sich ebenfalls im Inneren des Materials sowie an seiner Oberfläche unterscheiden.

 

Während die Forschenden im Inneren des Materials die Rarita-Schwinger-Fermionen nachweisen konnten, offenbarten komplementäre Messungen an der englischen Synchrotronstrahlungsquelle Diamond Light Source andere exotische elektronische Zustände an der Oberfläche des Materials: vier sogenannte Fermi-Bögen, die zudem alle deutlich länger sind als bisher beobachtete Fermi-Bögen.

 

„Es ist ganz klar, dass die Rarita-Schwinger-Fermionen im Inneren und diese besonderen Fermi-Bögen an der Oberfläche zusammenhängen. Beide werden bedingt dadurch, dass es sich um ein chirales topologisches Material handelt“, sagt Schröter. „Dass wir nun mit als erste ein solches Material gefunden haben, freut uns sehr. Denn es geht nicht nur um diese beiden elektronischen Eigenschaften. Die Entdeckung topologischer chiraler Materialien wird eine ganze Spielwiese von neuen exotischen Phänomenen eröffnen.“

 

Für neue Materialien und exotische Verhaltensweisen von Elektronen interessieren sich Forschende, weil einige davon sich für Anwendungen in der Elektronik der Zukunft eignen könnten. Das Ziel ist – beispielsweise mit Quantencomputern – eine auch in Zukunft immer dichtere und schnellere Speicherung sowie Datenübertragung zu erhalten sowie den Energieverbrauch der elektronischen Bauteile zu senken.