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Strassenkinder in der Schweiz sind Realität

Bild: sbb
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DMZ - GESELLSCHAFT / LEBEN ¦

#mittellaendische ¦

 

Dieser Inhalt wurde am 24. Dezember 2003 17:40 publiziert

In den Gassen Berns leben rund 100 Strassenkinder, ohne erwachsene Bezugspersonen und feste Übernachtungsmöglichkeit. In anderen Grossstädten sind es sogar noch mehr. Unglaublich mag manch einer nun denken, und so etwas in der Schweiz?! Ja, auch das gibt es in unserer wunderbaren und fortschrittlichen Schweiz. Für die Strassenkinder in der Schweiz nehmen wir als Beispiel die Stadt Bern, da die Geografin Andrea Staub das Phänomen der Strassenkinder in Bern vertieft untersucht hat. Anzutreffen sind Strassenkinder in Bern oft im Bahnhof oder in den Einkaufs-Strassen. Dort sind sie vom Nachmittag an am "Mischeln": Sie betteln Passanten um Geld an, um sich damit Essen und Trinken, das Nötigste zum Leben, zu kaufen.

"Ihr Wohnort ist der öffentliche Raum, und die Gruppe ist ihre Familie", umreisst Staub das räumliche und soziale Umfeld von Jugendlichen auf der Gasse. Weil ihnen zudem eine feste Übernachtungsmöglichkeit fehle, müssten sie nachts Unterschlupf bei Kollegen oder in Wohngemeinschaften suchen.

Ob ausgerissen oder hinausgeworfen: Die Strassenkinder würden Autoritäten und Hierarchien ablehnen, nach den Grundsätzen der Selbstbestimmung und des Miteinanders leben wollen. Zum Beispiel in einem besetzten Haus oder auf einem Bauernhof auf dem Land. Es ist nicht zwangsläufig Armut, die Kinder auf die Strassen treibt. In der Schweiz stammen die Jugendlichen praktisch aus allen Schichten.

Die Jugendlichen hier wie dort hätten aber zum Beispiel drogensüchtige oder gewalttätige Eltern, Pflegeeltern oder Betreuungspersonen, welche sie misshandelten, missbrauchten oder sich sonst nicht genügend um sie kümmerten.

Die Jugendlichen lebten meist mehrere Monate auf der Strasse. "Danach kehren sie wieder nach Hause oder in eine Institution zurück, tauchen in eine andere Stadt ab, oder haben eine Nische gefunden, beispielsweise in einem besetzten Haus", so Andrea Staub.

Für Jürg Stacher, Leiter des Dezernats der Stadtpolizei Bern, dem der Jugenddienst unterstellt ist, sind die bettelnden Strassenkinder in Bern kein Problem. Da Betteln vom Gesetz her erlaubt sei, habe die Polizei keinen Grund zu handeln. Ganz junge Menschen auf der Gasse würden jedoch kontrolliert. "Falls die Person polizeilich gesucht wird, nehmen wir Kontakt mit den Eltern oder den zuständigen Ansprechpartnern auf." Dies hilft aber auch nicht, das versteckte Problem zu lösen, welches unsere Gesellschaft hat.

Strassenkinder sind laut Andrea Staub junge Menschen (Minderjährige unter 18 Jahren), die von zu Hause geflüchtet sind oder dort vor die Tür gesetzt wurden. In was für Zuständen lebt unsere Gesellschaft, dass sogar die Strassenkinder der Schweiz systematisch verschwiegen werden? Wie muss diese Gesellschaft kränkeln, wenn es soweit kommen muss?

Über die Situation von Kindern und Jugendlichen der Strasse in der Schweiz liegen einige weitere Studien vor. F. Schenker und T. Etter zum Beispiel (Strassenkinder in der Schweiz? Kinder und Jugendliche auf der Strasse) stellten fest, dass dieses Phänomen als versteckte Randproblematik tatsächlich existiert. Gründe, die die jungen Menschen auf die Strasse treiben, seien in erster Linie Konflikte, Probleme und Zerrüttung in der Familie. Im Hintergrund stünden kulturelle Problemlagen, Autonomiebestreben der Jugendlichen, Pubertätskrisen, Gewalt, sexueller Missbrauch und unerträgliche Lebenssituationen.

C. Braun, T. Siegenthaler und T. Niederhauser (Strassenkinder in Zürich) untersuchten die Lebenssituationen schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher, die einen grossen Teil ihrer Freizeit auf der Strasse verbringen, sich dort in ihrer Peer-Group bewegen und nachts nicht regelmässig nach Hause kommen, wobei ihre Eltern tagelang nicht wissen, wo sich ihre Sprösslinge herumtreiben. Es handelt sich also um junge Menschen, die zwar im klassischen Sinne nicht obdachlos waren, bei denen aber die Integrationsversuche verschiedener Sozialisationsinstanzen (Familie, alleinerziehende Elternteile, Kindergarten, Schule, Sportverein, „peer-group“usw.) mit Hilfesystemen versagt hatten.

Unter den gezählten Personen machten Mädchen 39 Prozent, Jungen 61 Prozent aus. Dabei waren die männlichen etwas älter als die weiblichen Jugendlichen. Nur in der niedrigsten Altersklasse der Dreizehn- und Vierzehnjährigen stiessen die Forscher ausschliesslich auf Mädchen. Die meisten Jugendlichen stammten aus der Schweiz! Arme Schweiz...

 

Literatur 

A.Staub (Läbe uf dr Gass – Eine qualitative Studie über Strassenkinder in der Stadt Bern, Bern 2002)

C. Braun, T. Siegenthaler und T. Niederhauser (Strassenkinder in Zürich, Zürich 2002)

Norbert Hänsli und Silvia Ihle (Kinder und Jugendliche auf der Strasse? Pilotstudie der Stadt Zürich. Studie im Auftrag der Jugendseelsorge Zürich – Katholische Arbeitsstelle für Jugendarbeit und Jugendberatung im Kanton Zürich, Zürich 2004)