Tagebuch eines Hunger-Bauern vom Malcantone

Die Bäuerliche Schreib-Küche ist heute noch erhalten  Bildquelle: Museo del Malcantone
Die Bäuerliche Schreib-Küche ist heute noch erhalten Bildquelle: Museo del Malcantone

DMZ - KULTUR ¦ Marco Perroulaz ¦

 

Aus dem Süden unseres Landes erreicht uns eine wundervolle Geschichte. Dort war Giovanni Anastasia (1797-1883) gerade sechs Jahre alt, als der Tessin zusammen mit fünf weiteren Kantonen in die Eidgenossenschaft aufgenommen wurde. Schreiben hat Anastasia wohl in der Dorfschule seines Wohnortes Breno1 gelernt und geschrieben hat er vermutlich schon immer gerne. So begann er bereits als Zwanzigjähriger damit, in einem Tagebuch regelmässig festzuhalten was ihn bewegte. In knapp fünfzig Jahren, zwischen 1817 und 1866, schrieb er 2100 Seiten voll mit knapp 4500 täglichen Anmerkungen. Anastasia war nicht nur Bauer, er war auch ein begabter Schreiberling und verfasste wohl nebst seinen Tagebucheinträgen auch zahlreiche Einträge in den Chroniken von Kirche und Staat sowie persönliche Schriftstücke für Dritte.

 

Der Bauer vom Malcantone hinterliess am Ende seines Lebens ein voluminöses Tagebuch, das einige Zeit als verschwunden galt. Darin hielt er nicht nur seine zahlreichen Aktivitäten fest, sondern auch seine persönlichen Gedanken und Nöte, die Wetterbedingungen, die Schwierigkeiten der Landwirtschaft und Viehzucht, die Probleme der Migration sowie die Sorge um das unruhige Alltagsleben seiner Familie. Des öfteren erwähnt er, dass sie nichts zu essen hatten oder nur Kartoffeln.

 

Die Menschen lebten sehr ärmlich in jener Zeit, die eigentlich noch gar nicht lange vergangen ist. Erst 1860 liess Anastasia in seinem Haus Fenster einsetzen. Zuvor lebte er mit seiner Frau und sieben Kindern in der offenen, dreissig Quadratmeter grossen Küche, dem wohl einzigen geheizten Raum, der im Winter auch mal eingeschneit wurde. Dort schrieb er auch in sein wachsendes Tagebuch. Das weiss man genau, weil er erwähnte, er schreibe am Kaminfeuer und vor dem Fenster, wo man den Sonnenaufgang sehe.

 

Nun wurde das gesamte handschriftliche Tagebuch in siebenjähriger Expertenarbeit im ›Museo del Malcantone‹ vollständig transkribiert (in Maschinenschrift übertragen). Die daraus entstandene tausendseitige Publikation enthält in drei Bänden Anastasias vollständiges Werk (1817-1846, 1847-1855, 1856-1866). Ein Begleitheft bereichert die Arbeit mit Notizen, Bildern und Datenblättern (Werkzeuge, Leitartikel, Glossar, Toponymie/Ortsnamenforschung, Biographie, Stammbaum sowie Chronologie).

Das fertige Werk wurde »OGGNI COSA È MAL INCAMINATA« genannt (übersetzt etwa ›Was heute schlecht gelaufen ist‹), eine Phrase, die Anastasia offenbar öfter benutzt hat.

 

Miriam Nicoli, Universität Bern, hat am Projekt mitgewirkt und schreibt in einem erläuternden Beitrag, dass man das Gesamtwerk in jeder Hinsicht als einzigartiges Unikat bezeichnen dürfe. Bei der Aufzeichnung des Bauern handle es sich um eine bisher unveröffentlichte und in der Schweizer Geschichtsschreibung unbekannte Quelle mit einem reichhaltigen Schatz an Informationen, die es Historikern, Anthropologen und Linguisten ermögliche, das frühe neunzehnte Jahrhundert eingehend zu studieren.

 

Das Tagebuch wird allerdings schwer zu lesen sein. Wie es heisst, ist die Sprache schwierig, manchmal gar bizarr. Museumsleiter Bernardino Croci Maspoli sagt dazu sinngemäss »Einer der interessantesten Aspekte des Tagebuchs ist die verwendete Sprache, eine Mischung aus literarischem Italienisch, lokalem Dialekt und einer ‚kultivierten Formel‘, die in der Kirche oder in den Reden der Politiker üblich war. Eine Übersetzung ist daher nicht geplant, sie würde alles zerstören.«

Dafür wurde äusserst sorgfältig darauf geachtet, alles zu belassen wie es war und zum besseren Verständnis zahlreiche Hinweise und entsprechende Fachkenntnisse anzufügen. Die Arbeit der Kuratoren wurde, wie es heisst, zusätzlich erschwert durch den Zustand der Manuskripte, in welchen Falten, Flecken und Risse das Lesen des vergilbten Papieres behinderten und hier und da sogar verunmöglichten.

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1 Breno ist eine Ortschaft im oberen Malcantone mit rund 250 Einwohnern und liegt auf 798 Meter über Meer. Vor fünfzehn Jahren wurde Breno mit Arosio, Fescoggia, Mugena und Vezio zur neuen politischen Gemeinde ›Alto Malcantone‹ im Bezirk Lugano fusioniert. Heute ist es eines der wenigen Dörfer im Tessin, das noch aussieht wie im 19. Jahrhundert. Der Malcantone ist eine geographische Region auf den üppig bewachsenen Hügeln des Luganersees ganz im Süden des Tessin.

 

Quellen: Museo del Malcantone, Wikipedia 


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