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Zeigt Schweden gerade allen anderen europäischen Staaten, wie es geht?

Die Menschen geniessen die Sonne in einem Park in Schweden (Quelle: Maxim Thore/Bildbyran via ZUMA P)
Die Menschen geniessen die Sonne in einem Park in Schweden (Quelle: Maxim Thore/Bildbyran via ZUMA P)

DMZ – INTERNATIONAL ¦ Tony Lax ¦

 

Ein von André Anwar in der "shz" vom 14. April 2020 verfasster Artikel macht Hoffnung und wird daher in den sozialen Medien gegenwärtig eifrig geteilt.

Ja, es wäre sowas von wünschenswert.

Ein Wunsch, den bestimmt nicht nur diejenigen hegen, die das Vorgehen unseres Bundesrats für überzogen halten, sondern wohl auch nicht wenige von denen, welche die Massnahmen unserer Regierung als zielführend erachten.

Wird Schweden also zum nachahmenswerten Vorbild oder könnte es sich zum Schreckbild entwickeln?

 

Ein paar Überlegungen dazu:

Es erweckt, nicht erst nach der Lektüre dieses Artikels, den Eindruck, dass die Politiker - und vor allem deren Berater - im kühleren Norden, zumindest in Schweden, einen kühleren Kopf bewahren würden als die Verantwortlichen hierzulande.

Die Debatte, ob dieser Weg der richtige sei, wird indes auch in Schweden hitzig geführt.

Viele Wissenschaftler kritisieren den schwedischen Sonderweg und befürchten, dass das Land "direkt in einen Sturm laufe", wie der Historiker Peter Eglund es mit drastischen Worten formuliert. Über 2000 Wissenschaftler*innen haben einen offenen Brief an die Regierung unterzeichnet, in dem vor einer plötzlich unkontrollierbaren Ausbreitung und der damit einhergehenden Überlastung der Krankenhäuser gewarnt wird. Es wird daher eindringlich gefordert, strengere Massnahmen zum Schutz des Gesundheitssystems zu ergreifen. In diesem Schreiben wird das gegenwärtige Vorgehen mit dem Ziel, eine Herdenimmunität zu erreichen, zudem als "sehr zynische Einstellung, die Hunderte oder sogar Tausende von Menschen das Leben kosten kann", bezeichnet.

 

Kritik kommt auch direkt aus der "Front":

Eine Krankenschwester von der Uni-Klinik Uppsala postete vor einigen Tagen etwa einen Hilferuf auf Social Media in dem sie die plötzliche Zunahme von Corona-Patienten und die damit verbundene Anstrengung beklagt. „Die letzten Tage waren erdrückend", schreibt sie, "jetzt strömen die Patienten mit Covid-19 wirklich zu uns, und sie sind krank, sehr schwer krank. Von denen, die wir derzeit betreuen, ist die Hälfte jünger als 50 Jahre. Und nicht jeder hat Vorerkrankungen.“

Natürlich fühlen sich jetzt auch viele Kritiker des schwedischen Gesundheitssystems angesichts der Gefahr, dass das schwedische Gesundheitssystem sehr schnell an seine Grenzen kommen könnte, bestätigt. Der Sparkurs der vergangenen Jahre führe jetzt beispielsweise auch dazu, dass es weder genügend Tests gebe, noch ausreichend Personal, das die Tests durchführen könnte.

 

Es sollte bei der Betrachtung des schwedischen Wegs im der Coronakrise und dem Vergleich, den wir zum Vorgehen unserer Regierung ziehen, auch nicht aus dem Blick geraten, dass Schweden seinen zu Beginn äusserst lockeren Umgang ebenfalls nach und nach verschärft hat. Die Bevölkerung hat die jeweiligen Massnahmen aber mit im Allgemeinen recht grosser Disziplin befolgt. Und - das uns am meisten Imponierende ist: Der Lockdown im grossen Stil, unter dem wir hier ächzen, blieb bislang aus.

 

Allerdings hatte die schwedische Regierung offenbar eine Zeit lang mit falschen Fallzahlen argumentiert, die dann aber, wie die schwedische Nachrichtenagentur "tt" in der ersten Aprilwoche berichtete, in der offiziellen Corona-Statistik rückwirkend geändert wurden. Die neuen Todeszahlen waren an den jeweiligen Daten nun plötzlich doppelt so hoch wie noch zuvor angegeben worden war.

 

Verdrängen liess sich das Virus bereits Ende Februar nicht mehr: In Uppsala hatte eine Firma wegen eines Verdachtsfalls die gesamte Belegschaft von 700 Mitarbeitenden nach Hause geschickt.

 

Die sich zurzeit in Schweden aufhaltende Redakteurin des Radiosenders MDR-JUMP, Christiane Luft, vermeldet, dass es hinsichtlich der kurz vor Ostern an die immer noch geöffneten Restaurants und Cafés nochmals eine unmissverständliche Ermahnung gegeben habe: "Der Innenminister drohte im Fernsehen, dass alle Freisitze, die zu eng besetzt sind, sofort geschlossen werden. Es wurden Kontrollen angekündigt." Die Betreiber haben das aber ernst genommen, sich daran gehalten und Tische und Stühle auseinandergerückt. Positives Fazit: Kein einziges Lokal musste schliessen.

 

Die Journalistin schreibt weiter aber noch Folgendes:

"Was den Schweden Sorge bereitet, ist die vergleichsweise hohe Sterblichkeit in den Altersheimen in und um Stockholm. Staatsepidemiologe Anders Tegnell hofft, dass die Einrichtungen im Rest des Landes daraus lernen und bessere Routinen in ihren Heimen einführen. Er musste heute früh im Radio einräumen, dass die schwedische Strategie durchaus fragwürdig ist."

Schon vor Tagen machte der schwedische Ministerpräsident Lövgen zudem in aller Offenheit klar, dass die Strategie, die Verlangsam der Ausbreitung durch den Appell an die Selbstverantwortung und nicht mittels Verbote zu erreichen, durchaus davon ausgehe, „dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen.“

 

Dies und der Umstand, dass inzwischen sogar der epidemologische Chefberater der schwedischen Regierung Zweifel an der eigenen Strategie einräumt, vermag die Hoffnung, dass Schweden im Umgang mit Corona das leuchtende Vorbild abgibt, schon ein bisschen trüben.

Ich hoffe dennoch, dass es sich nicht zum grausigen Schreckbild entwickelt – so, wie es gerade in den USA der Fall ist, weil deren Administration zu lange auf "cool" gemacht hat und deren Präsident nun als ziemlicher "fool" dasteht.

 

Zurzeit hat auch Schweden bei den im Zusammenhang mit einer Coronainfektion Gestorbener die Tausenderschwelle überschritten, bei gemessen mehr als 11'000 Infizierter.

Dass solche Zahlen nicht allzu viel Aussagekraft haben, ist freilich hinlänglich bekannt.

 

Dennoch kurz eine vergleichende Zahlenhuberei:

Schweden verzeichnet inzwischen nämlich ungefähr fast gleich viele Tote, die im Zusammenhang mit Covid-19 registriert wurden, wie die Schweiz.

Schweden hat zwar knapp 2 Millionen Einwohner mehr als die Schweiz (10.3/8.5 Mio), die Einwohnerdichte ist hingegen 9 Mal kleiner (23/207 E/km2).

In Schweden war erste Corona-Todesfall am 11. März, also erst 5 Tage nach dem ersten diesbezüglichen Todesbericht in der Schweiz (6.3.), gemeldet worden.

Am 18. März waren es in Schweden 10 Tote, in der Schweiz 48; am 27.3. wurden in Schweden 105, in der Schweiz bereits 230 Verstorbene verzeichnet. Am 6. April gab es Schweden 477, in der Schweiz 746 Tote. Und aktuell (14.4.) sieht es so aus: Schweden 1033, Schweiz 1176 durch/an/mit/wegen/trotz Corona gestorbener Menschen.

(Zahlen gemäss den Angaben der John Hopkins University)

 

Diese Zahlen-Vergleiche sind ohne grossen Erklärungswert und geben insbesondere auf die Frage, welcher Weg nun der bessere sei, keine Antwort.

 

Der Schweizer Weg ist im Moment zweifellos der teurere und frustrierendere.

Angesichts der Tatsache jedoch, dass die gestrigen Zahlen für die Schweiz die seit Tagen beobachtbaren Tendenz einer Abflachung bestätigen, für Schweden aber, allerdings nach einer beinahe stagnierenden Zahl in den letzten Tagen, einen Sprung nach oben dokumentieren sowie des Umstands, dass die Schweiz, mit Blick auf den ersten im Zusammenhang mit Corona gemeldeten Todesfall, fast eine Woche "Vorsprung" auf Schweden hat, möchte ich jetzt wirklich ganz fest hoffen, dass all dies nichts, aber auch gar nichts über den weiteren Verlauf in Schweden zu besagen hat.

 

In Schweden macht Greta jedenfalls schon mal das Richtige: Sie hat ihre Followers dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben und die Anliegen im Kampf gegen die Klimakrise auf den sozialen Netzwerken zu verbreiten.

Im Moment sind in Teilen Schwedens in dieser Woche allerdings eh Schulferien.

 

 

Quellen:

https://www.shz.de/deutschland-welt/panorama/Schweden-atmet-auf-Lockere-Corona-Strategie-scheint-zu-funktionieren-id28010582.html?fbclid=IwAR32G6oLtnVL9X9yTKGbYzvKAC2pCZOLMPv5FbQb0TsoUTtILCUeIQe0vNw

 

https://www.svt.se/nyheter/lokalt/uppsala/coronalarm-pa-uppsalaforetag-smittorisk-stanger-thermo-fisher

 

https://www.derwesten.de/panorama/vermischtes/schweden-quittung-fuer-lockeren-corona-kurs-steuern-in-einen-sturm-coronavirus-tote-tausende-id228849757.html

 

https://www.dn.se/nyheter/sverige/forskare-i-upprop-till-regeringen/

 

https://www.jumpradio.de/thema/corona/der-schwedische-sonderweg-tagebuch-einer-mdr-jump-redakteurin-100.html 


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