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Viermal mehr Anträge auf Sozialhilfe ohne grosse Aussicht auf Erfolg

Der fehlende Respekt und die kaum vorhandene Empathie der Mitarbeitenden bei den Sozialdiensten sind nicht tragbar
Der fehlende Respekt und die kaum vorhandene Empathie der Mitarbeitenden bei den Sozialdiensten sind nicht tragbar

DMZ – SOZIALES / POLITIK / GESELLSCHAFT ¦ David Aebischer ¦

 

In den ersten beiden Wochen nach dem Coronavirus-Lockdown hat sich die Zahl der Anträge für Sozialhilfe vervierfacht. Betroffen sind laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) vor allem so genannte Working Poor.

Nach Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» am 16. März stieg die Zahl der Menschen, die Anspruch auf wirtschaftliche Sozialhilfe beantragten, abrupt an. Am stärksten betroffen seien Selbständigerwerbende und Arbeitnehmende im Stundenlohn oder mit prekären Teilzeitanstellungen, sogenannte Working Poor. Was nun auch diese Menschen feststellen mussten, ist, dass es sich bei der Sozialhilfe nicht in erster Linie um Hilfe handelt. Entblössung, Erniedrigung, Unterwerfung, Auslieferung - sind sicherlich treffendere Ausdrücke.

 

Seit Jahren melden sich immer weniger Leute bei den Sozialämtern

Schon lange melden sich immer weniger Leute bei den Sozialämtern - wegen der Missbrauchsdiskussionen einerseits und der Stigmatisierung und Scham andererseits. Viele Betroffene, die den Gang aufs Sozialamt trotzdem wagen, berichten eindrücklich von ihren Erlebnissen, von Scham und verlorenem Selbstwert. Caritas unterstützt Menschen, die in Armut leben, erzählt deren Geschichte und bekämpft  sowohl die Armut selber als auch deren gesellschaftliche Stigmatisierung. Trost bietet dies nur bedingt.

 

Gang zum Sozialamt
Viele wagen den Schritt zum Sozialamt nicht. Laut dem Präsidenten der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, Walter Schmid, gibt es diverse Gründe dafür. Die Betroffenen schämen sich, als Sozialhilfebeziehende identifiziert zu werden, weil sie dann als die Missbrauchenden erscheinen. Also gehen sie schon gar nicht mehr zum Sozialamt. Als Beispiel: Das Sozialdepartement Winterthur führte die Massnahme ein, dass neue Antragstellende zunächst einmal in den Wald arbeiten gehen müssen. Stolz wird dann verkündet, dass deshalb viele auf einen Antrag verzichten. Eine Ungeheuerlichkeit. Der Sozialdienst in Grenchen, als weiteres Beispiel, lehnt nach eigenen Aussagen zuerst einmal alle Anträge ab. Wer dann dringend Hilfe benötige, melde sich dann schon ein zweites oder gar drittes Mal.

 

Solche, leider sogar offenen, Missbräuche haben zur Folge, dass die versteckte Armut wächst. In den Neunzigern hat es dazu grössere Untersuchungen gegeben, in denen nachgewiesen wurde, dass der Anteil jener Leute sehr gross ist, die eigentlich Anspruch auf Unterstützung hätten, diesen aber nicht einlösen. Neuerdings wird dieser Frage aus politischen Gründen nicht einmal mehr nachgegangen. Ein absolutes Armutszeugnis für die "reiche" Schweiz, die wie fast kein zweites Land in Europa, arm an "Sozialem Gedanken" und "Hilfe" ist.

 

Wer es dann letztlich doch irgendwie schafft, von der Sozialhilfe aufgenommen zu werden, bleibt dann dafür länger, weil es schwer ist, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Es sind wohl die Untersten der Unteren, sie bleiben entsprechend länger in der Sozialhilfe. Wer von den Behörden noch als einigermassen "brauchbar" eingestuft wird, hat schon gar keine Chance, in die Sozialhilfe hineinzukommen. Oder nimmt sie - wegen Angst vor Stigmatisierung - nicht mehr wahr.

 

Eine Integration in den Arbeitsmarkt findet also kaum statt

Das nennt man dann wohl Ideologie, dass stets von Integration gesprochen wird. Dabei wird das Gegenteil betrieben, nämlich Ausschluss. Die zurückgetretene Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker etwa sagte wiederholt, dass ein grosser Teil der erwerbslosen Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger keine Chance habe, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.

 

Workfare heisst primär, dass Leute, die Sozialleistungen beziehen, im Gegenzug zu Arbeiten gezwungen werden, und die werden auf dem Niveau von Sozialleistungen abgegolten. Zweitens können die Leistungen relativ willkürlich bis auf null gekürzt werden. Zum Arbeitszwang und zu der Drohung mit Leistungskürzung kommt drittens der Zwang zur Weiterbildung.

 

Neuste Studie

Die Prüfung der Anträge auf Sozialhilfe ist gemäss der neusten Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aufgrund der aktuellen Umstände noch mehr erschwert, weil vor allem der persönliche Kontakt stark eingeschränkt sei. Komme es dann zu Verzögerungen, könne dies bei den Betroffenen zu akuten Notlagen führen.

 

In der Schweiz gibt es eine Dunkelziffer der Armut. Eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH) weist nach: Viele Armutsbetroffene verzichten aus oben genannten Gründen ohnehin auf die Unterstützung durch Sozialhilfe. Der politische und öffentliche Druck auf die Sozialhilfe und auf die von Armut betroffenen Menschen verstärkt dies zusätzlich.

 

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: 

  • In der Periode von Mitte bis Ende März 2020 hat sich die Zahl derjenigen Menschen, die einen Anspruch auf wirtschaftliche Sozialhilfe angemeldet haben, gegenüber dem erwartbaren Durchschnittswert aus der Periode Januar bis Mitte März vervierfacht. Die Berechnung basiert nur auf einem Teil der Stichprobe (n=34 Dienste), nicht alle Dienste konnten aktuelle Angaben machen.
  • Bei der Hälfte der Dienste meldeten sich mindestens sechsmal so viele (oder mehr) Menschen in der Sozialhilfe an.
  • Am stärksten betroffen sind gemäss den Aussagen der Fachpersonen Arbeitnehmende im Stundenlohn oder mit prekären Teilzeitpensen, Selbständigerwerbende, Personen, die aufgrund von Betreuungspflichten nur reduziert arbeiten können, sowie Alleinerziehende als spezifische Gruppe der Betreuungspflichtigen.
  • Trotz der Zunahme an Anmeldungen konnten die Dienste die wirtschaftliche Sozialhilfe bisher mehrheitlich sicherstellen. Immerhin 13.7 % der Fachpersonen berichten allerdings über Einschränkungen: Diese liegen vor allem in der erschwerten und teilweise verzögerten Prüfung von Ansprüchen. In einzelnen Fällen können Menschen in akute Notlagen geraten. Umgekehrt wird vereinzelt vermutet, dass es durch Lockerung von Kontrollen vermehrt zu unberechtigten Bezügen gekommen sei oder kommen könnte.
  • Die persönliche Sozialhilfe, d. h. die persönliche Beratung von Menschen und deren Vermittlung an dritte Stellen, ist derzeit erheblich beeinträchtigt. Dreiviertel aller Fachpersonen (74.1 %) nehmen Einschränkungen wahr. Beratungen werden meist nur noch telefonisch geführt und verlieren dadurch an Qualität, viele fallen aus. Externe Fachstellen haben ihr Angebot reduziert oder vorübergehend eingestellt.
  • Knapp die Hälfte der Befragten (45.1 %) berichtet über Einschränkungen im Kindesschutz. Erschwert ist besonders die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen. Hausbesuche werden nicht mehr durchgeführt, zudem besteht die Sorge, dass gefährdete Kinder nicht mehr auffallen, weil sie ausschliesslich in der Familie betreut werden. Externe Beratungsstellen sind geschlossen oder reduziert geöffnet.
  • Als Problembereiche werden auch der Erwachsenenschutz und das Asylwesen hervorgehoben. Im Asylwesen sei der Kontakt mit Asylsuchenden wegen des indirekten Kontakts von Verständnisschwierigkeiten belastet. Zudem würden viele Ehrenamtliche zur Risikogruppe gehören und folglich ausfallen.
  • Mit Blick auf die Zukunft befürchten viele Dienste einen weiteren Anstieg der Neuanmeldungen in der Sozialhilfe und damit eine Überforderung der Strukturen und des Personals.
  • Im Umgang mit der Corona-Krise entwickeln die Dienste derweil vielfältige Lösungsstrategien. So werden gewisse Auflagen vorübergehend aufgehoben, neue digitale Formen in der Klientenarbeit werden eingesetzt, und es werden organisatorische und räumliche Anpassungen vorgenommen, welche die Qualität der Arbeit weitestmöglich sichern. 

Das Fazit ist immer dasselbe 

Im Fazit überwiegt die Erkenntnis, dass sich die Sozialdienste mit grossen Herausforderungen konfrontiert sehen, die sie bisher nicht geschafft haben zu lösen. Was nun dazu kommt, wird es nur noch verschlimmern.

Die ergriffenen Massnahmen des Bundes zur Kurzarbeit und zum Erwerbsersatz sollten eigentlich gravierendere Folgen bei den Neuanmeldungen abfedern, doch sind Wirkung und Fortsetzung dieser Massnahmen noch ungewiss. Politik und Verwaltung unternehmen derzeit nur verbal grosse Anstrengungen, um zu verhindern, dass Menschen ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit verlieren. Dass sie darüber hinaus den Sozialdiensten jene Ressourcen zur Verfügung stellen müssten, einen Betrieb mit Sinn und Empathie überhaupt zu ermöglichen, die diese nun noch dringender benötigen, um hilfs- und schutzbedürftige Menschen wirksam zu unterstützen.

 

Respekt

Der fehlende Respekt und die kaum vorhandene Empathie der Mitarbeitenden auf diesen Ämtern sind nicht tragbar. Der Respekt vor den Personen, die den Mut trotzdem nicht verlieren und sich nahezu Unmenschliches auf die Schultern laden müssen, ist von mir umso grösser. Meine Bewunderung ist riesig für alle, die sich abmühen und eigentlich in die Depression versinken könnten, aber trotz allem ihren Angehörigen alles geben für eine gute Zukunft. Leider gibt es auch sehr viele Menschen, die an ihrer Last und an der Ohnmacht, keine Hilfe zu erhalten, zerbrochen sind. 

 

 

 

 

Quellen: Caritas ¦ https://digitalcollection.zhaw.ch/handle/11475/19947 ¦ Männerbüro Mittelland


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