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Die Freunde der Seuche

Ervin Tamás (1949), freier Journalist aus Ungarn, bis 2010  stellvertretender Chefredakteur von Népszabadság
Ervin Tamás (1949), freier Journalist aus Ungarn, bis 2010 stellvertretender Chefredakteur von Népszabadság

DMZ – POLITIK / GESELLSCHAFT ¦
GASTKOMMENTAR von Ervin Tamás

 

Ich bin überdrüssig der Unwahrheiten neben den Fakten, der vagen Anspielungen, des üblichen Parteigerassels, der in Klischees versteckten Besserwisserei, der chronischen Ausflüchte, der apokalyptischen Schaumschlägerei.

Ich bin es leid, dass während ich diese Zeilen schreibe die Zahl der Infizierten und die der Manipulationen erneut wachsen, nur weil der Chef einen Kampf an zwei Fronten austrägt.

 

Ihm genügt nicht das Corona-Virus, er muss auch noch seine politischen Gegner bekämpfen.

Diese Absicht war schon vor Wochen zu erkennen, als einer seiner Minister eine Zusammenarbeit mit der Opposition für möglich hielt. Orbán hackte sofort ein: „Die sind mit wenigen Ausnahmen alles Freunde der Seuche“.

 

Wie die ganze Welt inklusive WHO hatte auch die ungarische Regierung auf die globale Gefahr zu spät reagiert. Orbán verknüpfte den Kampf gegen das Corona Virus vom ersten Moment an mit seinen politischen Zielen. Im Nu spielte er die Migrantenkarte aus, und weil er damit nicht stechen konnte, wiederholte er gebetsmühlenartig, dass es in Ungarn an Schutzausrüstungen nicht mangelt. Man wird wahrscheinlich den Grund nie erfahren, warum in Ungarn so wenige Personen getestet wurden. Tat man es aus Prinzip, wegen Sparmaßnahmen, wegen dem Fehlen von Material, oder wegen allem zusammen? Jedenfalls ist es mittlerweile klar, dass man das Stochern im Nebel hätte vermeiden und anhand der Rückverfolgung der unkontrollierten Verbreitung der Seuche beikommen können. Fakt ist, dass der Regierungschef derweilen in den nächsten Gang schaltete und man kann nur hoffen, dass Branchen die ihre Bedeutung und als Opfer des Umkrempelns des Landes auch ihren Wert eingebüßt und ihre Fachkräfte verloren haben, wieder zu alter Stärke zurückfinden. Sicher ist sicher, Orbán ließ jedenfalls die Soldaten der Armee in den Boulevards von Budapest aufmarschieren.

 

Wie die Welt aus den Angeln gehoben wurde, demonstrierte am besten Matteo Salvini, der kürzlich noch darauf bestand, Europa mit kugelsicherer Grenzbefestigung gegen den das Corona-Virus verbreitenden Afrikaner zu verteidigen, während viele Europäer beklagen, dass die Flüchtlinge sie mit Steinen bewerfen, anspucken und nichts von ihnen annehmen. In den sozialen Medien in Afrika erscheinen Fotos von weißen Europäern und Amerikanern mit der Behauptung, sie würden das gefährliche Corona Virus verbreiten. Die abstrusesten Verschwörungstheorien und die bizarrsten Segregationen erscheinen im Internet. Alle haben Stress. Das allgemeine Vertrauen wurde zum konvertiblen Zahlungsmittel, dies zu verspielen bedeutet den Vorhof zur Hölle.

Zehn Jahre ist Orbán an der Macht. Seitdem ignoriert er alle Plattformen und Gruppierungen, die vorher den Meinungsaustausch und die Konfliktbewältigung gewährleistet hatten. Sich darüber hinwegzusetzen fällt einem schwer. Hier gilt die ewige Faustregel: Es sollten die Mächtigen sein, die als erste eine Geste zeigen. Mitnichten, der Regierungschef findet selbst die Statistenrolle der Opposition als zu viel.

 

Der im Oktober 2019 gewählte, zur Opposition gehörende Budapester Bürgermeister Karácsony wird in keinster Weise beteiligt oder zumindest informiert. Orbán missfällt auch, dass man zu viel systematisches Testen fordert, zu viel über den Mangel an Schutzmitteln, über nicht zu Ende gedachte Dekrete und Rückständigkeit redet. Am liebsten würde er selbst die Meinungsäußerungen unter Quarantäne stellen.

 

Nicht umsonst ist es schwarz auf weiß nachzulesen, dass ausschließlich wegen ihm das Ermächtigungsgesetz nicht zeitlich befristet wurde. Orbán konnte auch ohne dieses Gesetz schon lange durchregieren, doch jetzt ist es sein Ziel, seinen Parteifreunden vorzuführen, dass die Opposition selbst in dieser Notlage gegen die Regierung agiert.

 

Von jetzt an hat er die absolute Macht, er kann jeden, der den Mund aufmacht als Freund des Virus bezichtigen. Zu ihnen gehören offensichtlich auch manche Journalisten. Ihm ist bewusst, dass es nicht nur um die Impfung gegen das Corona-Virus geht, sondern auch Ungarns Wirtschaft und Gesellschaft nach einer Heilung sucht. Die Kosten dafür werden das Budget sprengen, selbst dann, wenn die EU und die Banken zur Schadensbegrenzung beitragen. Der Ministerpräsident wird die Maßnahmen dosieren, er rennt nicht, er schreitet nach Bedarf voran und beobachtet dabei die Reaktionen auf seine Entscheidungen. Manche sehen schon den Untergang erprobter Formen des Populismus, Liberalismus und Kapitalismus kommen. Diese könnten ersetzt werden --wir wissen aber noch nicht, durch was und durch wen. Im Wirrwarr wird Orbán sich bestätigt sehen, er wird aber abwarten, weil seine Antwort vom internationalen Geschehen nicht zu trennen ist. Man sieht nicht einmal den morgigen Tag klar, von der Zukunft gar nicht zu sprechen.

Die Herausforderung ist nicht lokal, sondern global. Die Menschheit ist am Scheideweg angelangt. Die Frage ist, welche Richtung man einschlägt; die der totalen Überwachung, der Zusammenarbeit, der Absonderung aufgrund nationaler Interessen oder die der globaleren Solidarität? Laut Orbán werden sich die neu geschaffenen Dekrete –egal wie vorübergehend sie auch erscheinen mögen –im Rechtssystem und in der Wirtschaft verfestigen. Sollte sich seine Vision bewahrheiten, werden wir viel leiden. Wenn es uns dann überhaupt noch geben wird. 


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