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CoViD-19-Pandemie. Und jetzt?

Dr. med. Thomas Bregenzer (Chefarzt Innere Medizin Spital Lachen, Facharzt FMH für Innere Medizin, Facharzt FMH für Infektiologie)
Dr. med. Thomas Bregenzer (Chefarzt Innere Medizin Spital Lachen, Facharzt FMH für Innere Medizin, Facharzt FMH für Infektiologie)

DMZ – WISSENSCHAFT / FORSCHUNG ¦
GASTKOMMENTAR von Dr. med. Thomas Bregenzer

 

„Das Schlimmste haben wir hinter uns“ haben wir in den letzten Wochen immer wieder gehört. Damit wird gerechtfertigt, dass seit dem 27.4. die bundesrätlich verordneten Massnahmen, welche die Ausbreitung des SARS-CoV2, also des Virus, das die Lungenkrankheit CoViD-19 verursacht, jetzt wieder stufenweise „zurückgefahren“ werden. Dadurch sollen die Wirtschaft oder die elektiven Angebote von Spitälern wieder „hochgefahren“ werden können. Und seit 29.4. wurde dieser Abbau der Massnahmen noch beschleunigt, ohne dass wir schon wüssten, wie die ersten Schritte sich auswirken werden. Ab 11. Mai öffnen auch Restaurants wieder.

 

Komplexe, träge Systeme verleiten zu Ungeduld. Es besteht das Risiko der Übersteuerung, so dass die angestrebten Ziele verfehlt werden. Eine Pandemie ist ein solches träges System, für welches Steuerungsmassnahmen erst nach Wochen beurteilt werden können. Seien wir gespannt auf das, was jetzt kommt. Vielleicht haben wir Glück, dass es diese Nachjustierung, die Beschleunigung im Abbau der Massnahmen verträgt, und so Arbeitsplätze geschützt und wirtschaftliche Schäden vermieden werden können. Vielleicht haben einige von uns Pech und erkranken oder sterben sogar, wenn die epidemische Welle nochmals kommt. Wir können uns zu diesen Szenarien ein Bild machen, eine Vorstellung davon haben und etwas glauben. Aber wir können nicht wissen, was jetzt kommt – auch diejenigen nicht, die sagen, sie seien ganz sicher.

 

Niemand hat Erfahrung mit der Steuerung einer Pandemie. Wir wissen höchstens, dass wir im Gegensatz zu SARS 2003 mit den alten Mitteln – Quarantäne, Isolation und Hygiene – diesmal den Durchbruch nicht schaffen können. Wir können kein „Ende“ der Pandemie erwarten. Der epidemische Charakter der Krankheit wird in einen endemischen übergehen. SARS-CoV2 dürfte uns lange begleiten. Es wird von Jahren, nicht nur von Monaten gesprochen. Wenn wirksame Medikamente oder Impfungen verfügbar werden, hilft dies vermutlich, die Schäden durch das Virus zu reduzieren. Wir warten also auf diese Erfolge von Wissenschaft und Medizin. Bis dahin bleibt das Risiko bestehen, dass immer wieder schwerkranke Menschen auf Intensivpflegestationen um ihr Leben kämpfen, dass Pflegende und Ärztinnen ihnen zu helfen versuchen, ohne dafür gute Mittel verfügbar zu haben. Durch die betroffenen Patienten sind sowohl das medizinische Personal als auch immer wieder andere Patientinnen einem Risiko ausgesetzt, angesteckt zu werden, weil niemand garantieren kann, dass nosokomiale Infektionen, also Ansteckungen im Spital, ganz vermieden werden können.

 

Prognosen, Spekulationen, „hätte man doch“ etc. können keine Sicherheit geben. Aber in einer Krise brauchen wir Orientierung. Also versuche ich, Aspekte der Pandemie aufzuzeigen, die eine Einschätzung ermöglichen und den Umgang mit der Ungewissheit erträglicher machen können:

 

1. Wir überblicken verschiedene Pandemien bzw. pandemische Risiken: 1997 die Vogelgrippe H5N1, deren Erreger die Eigenschaften, Menschen leicht anzustecken und von Mensch zu Mensch übertragbar zu werden, zum Glück nicht entwickelt hat. 2002/2003 SARS, die erste Coronavirusepidemie, die zur Pandemie zu werden drohte und die durch geeignete Massnahmen gestoppt werden konnte. 2009/2010 die Schweinegrippepandemie, welche glücklicherweise auf eine teilimmune Gesellschaft stiess und die wie saisonale Grippe endemisch weiterhin zirkuliert, schliesslich aber weniger Schaden verursachte als befürchtet, aber auch MERS, seit 2012 eine Coronavirusepidemie, welche mehr oder weniger unter Kontrolle ist, als Bedrohung aber weiterhin besteht. Pandemien haben die Menschheit immer wieder bedroht. Die aktuelle Bedrohung durch SARS-CoV2 ist grösser als die durch die oben aufgezählten Epidemien, und wir können die Folgen und Schäden möglicherweise erst in einigen Jahren quantifizieren. Aus den Erfahrungen früherer epidemischer Ereignisse können wir aber für die aktuelle Situation nur wenig nützliche Erkenntnisse ziehen. Die Rahmenbedingungen, die Dynamik der Ausbreitung, das am meisten gefährdete Kollektiv, das alles ist anders. Darum müssen wir versuchen, aus dauernd ändernden Erkenntnissen, die bestmöglichen Schlüsse zu ziehen, die bald wegen neuer Erkenntnisse wieder anzupassen sind. Es gibt zum Glück die Möglichkeit, Entscheidungen zu prüfen und wieder anzupassen.

 

2. Die einschränkenden Massnahmen sind uns fremd. Die ersten Tage des „lock downs“ haben viele Menschen als „surreal“ erlebt. Individuelle Interessen und Ansprüche wurden eingeschränkt, was wir alle nicht leicht akzeptieren können. Angesichts der Bedrohung sind wir aber bereit, uns einzuordnen und mitzumachen. Doch diese Bereitschaft ist nicht eine nachhaltige. Wenn die Einschränkungen durch die Massnahmen als schwerwiegender bewertet werden als das Risiko, welches sie reduzieren sollen, entstehen Widerstände dagegen. Unlösbare, schwerwiegende Interessenskonflikte ergeben sich aus dieser Situation: Im Alters- und Pflegeheim zum Beispiel leben Menschen, die ihre sozialen Kontakte pflegen wollen, sich über Besuche der Angehörigen freuen und die Grosskinder sehen wollen, ja gewissermassen davon leben. Sie würden dafür vielleicht in Kauf nehmen, wenn sie angesteckt würden, an der Krankheit zu sterben, wollen aber am Ende ihres Lebens keinesfalls diese wertvollen Begegnungen missen. Andere alte Menschen wollen geschützt werden, weil sie den ebenso berechtigten Anspruch haben, nicht krank zu werden und weiterleben zu können. Es ist nicht möglich, diesen beiden gegensätzlichen Ansprüchen, so berechtigt sie sind, in den Strukturen, die wir alten Menschen anbieten, gerecht zu werden. Wenn SARS-CoV2 uns weiterhin beschäftigt, stellt sich damit eine schwierige Aufgabe: Wir müssen Auswege aus solchen Dilemmata suchen.

 

3. Es nützt jetzt nichts, wenn wir fragen, wer verantwortlich ist für die zu knappen Lager an Schutzmaterialien oder wer die Vorgaben des Pandemieplanes hätte umsetzen sollen. Die Frage, wer für die Vorbereitungen verantwortlich sei, muss später geklärt werden. Eine ganz andere Frage gehört jetzt ins Zentrum: Was braucht es jetzt, um Menschen zu schützen, die sonst Schaden nehmen. Dabei geht es nicht nur um die Kranken oder die Risikogruppen sondern auch darum, dass wir die Lebensgrundlage Gesunder im Blick behalten. Sie ist, wie auch die Gesundheit, ein wichtiges Gut. Beide braucht es für eine gute Lebensqualität. Wenn wir unsere Pflicht wahrnehmen, dann tragen wir zu beidem Sorge. Die einschränkenden Massnahmen können ebenso wie die Krankheit Schaden anrichten. Wir müssen so viel Krankheit vermeiden, dass der Schaden durch die getroffenen Massnahmen nicht grösser ist als der Schaden durch die Krankheit. Dabei geht es nicht um die Frage, wie viel uns ein gerettetes Menschenleben wert sei. Die Milliarden durch die Zahl geretteter Leben zu teilen, wäre zynisch. Die Güter, die wir bei der Abwägung zu berücksichtigen haben, sind die Gesundheit, die persönlichen Freiheiten und die ökonomische Lebensgrundlage, die alle Grundbedingungen für eine gute Lebensqualität sind.

 

4. Die Massnahmen gegen die Virusausbreitung langfristig beizubehalten, schadet der Lebensqualität ebenso, wie wenn die Massnahmen zu früh wieder gelockert werden. Aber wir können nicht wissen, wann der beste Zeitpunkt ist, die Massnahmen wieder zu lockern, so wenig wie wir wussten, wann der beste Zeitpunkt war, sie zu ergreifen. Wir müssen abwägen für diese Entscheidungen. Die Risikoverteilung ist eine badewannenförmige (vgl. Abbildung). Werden zu wenig einschränkende Massnahmen ergriffen, wird grundsätzlich vermeidbarer Schaden entstehen. Zu viele oder zu lange dauernde einschränkende Massnahmen werden ihrerseits Schaden anrichten. Wenn der Boden dieser Risikoverteilung breit ist, sie also U-förmig ist, sind die Chancen gut, dass wir es nicht schwerwiegend falsch machen. Rückblickend werden wir es vermutlich bewerten können, hoffentlich erkennen, was besser hätte gemacht werden können und daraus die nötigen Lehren ziehen.

5. Vorerst bleibt Unsicherheit sowohl bei denjenigen, die vorsichtiger mit dem Pandemiemanagement umgehen möchten wie bei denen, die sich darüber ärgern, dass man „so ein Theater“ macht um diese Epidemie. Wer weiss, dass der wirtschaftliche Schaden grösser ist als der Schaden durch das Virus, blendet den Zusammenhang aus: Der wirtschaftliche Schaden – ob durch die Massnahmen gegen die Virusausbreitung oder durch die Pandemie an sich – wird durch das Virus verursacht – direkt oder indirekt, indem es Menschen krank macht und sie deshalb ihre wirtschaftliche Funktion nicht wahrnehmen können, wollen oder dürfen. Eine sehr grosse Zahl an Erkrankten mit einem grossen Bedarf an Spitalbetten legt die Wirtschaft ebenso lahm wie Gesunde, die zum Schutze der Gesundheit von anderen oder sich selbst nicht arbeiten. Möglichst wenige Kranke, möglichst wenig Bedrohung der Lebensgrundlagen, sind Ziele, die wir jetzt anstreben müssen.

 

6. Die Pandemie ist durch die Globalisierung begünstigt und beschleunigt worden. Über die Globalisierung zu diskutieren und sie in Frage zu stellen, ist berechtigt, ja sogar nötig. Die Pandemie darf aber nicht für nationalistische Ideen instrumentalisiert werden. Abschottung zu fordern, wäre kurzsichtig, auch wenn Reisebeschränkungen aktuell helfen, die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Ein globalisiertes Problem wird sich nicht mit lokalen Massnahmen kontrollieren lassen, wenn ein nordkoreanisches Modell nicht als Option betrachtet wird. Dass international Anstrengungen unternommen werden, um die Entwicklung von Impfungen und Medikamenten zu fördern und die Tests zu verbessern, ist eine der erfreulichen Entwicklungen in dieser Zeit. Gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen, wäre das Gebot der Stunde. Wenn dies mit der Pandemie gelänge, bestünde berechtigte Hoffnung, dass vielleicht auch für den Klimawandel gemeinsam nach Lösungen gesucht wird.


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