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Orbán und die Zahlen

Der ungarische Publizist György Balavány (Bild: zvg)
Der ungarische Publizist György Balavány (Bild: zvg)

DMZ – INTERNATIONAL ¦

GASTKOMMENTAR von György Balavány

 

Er spricht von einer auf Arbeit aufgebauten Gesellschaft, während eine Menge Leute weder Arbeit haben, noch Arbeit haben werden.

 

Viele hatten schon ihren Job verloren, als der Ministerpräsident noch im März den Notstand verkündete, Veranstaltungen über hundert, später über fünfzig Personen untersagte, eine allgemeine Ausgangsperre verhängte und Schulen und Gaststätten schließen ließ.

 

Wenn man seine Arbeit verliert, verliert man seine Existenz, damit wird dein Leben und das deiner Kinder bedroht. Meine Weltanschauung sagt mir, dass so etwas einem niemals widerfahren sollte. Geschieht das in Friedenszeiten, kannst Du anderswo Arbeit finden. Jetzt aber geht das nicht.

 

Ungarn auf dem Papier - und in der Wirklichkeit

Viktor Orbán hat soeben versprochen, dass in drei Monaten in Ungarn jeder Arbeit finden werde. „Wir bauen auf Fakten” - sagte er und nannte auch gleich die Quelle: nämlich das ungarische Landesamt für Statistik, dessen Zahlen zeigen, dass im März 2020 56 Tausend Ungarn ihren Job verloren haben. Zwei Tausend von ihnen wurden in den Arbeitsämtern registriert. Im Mai kommen die Angaben vom Monat April. Vielleicht kann man dann eine Prognose wagen. Oder auch nicht, denn die Ungarn leben in einer Realität jenseits der Daten. Einen Ungarn gibt es auf dem Papier und einen in der Wirklichkeit. Was Orbán über Ungarn behauptet, ist fast immer die retuschierte Version. Wenn er - sagen wir - von fünf Tausend Infizierten spricht, liegt die tatsächliche Zahl sicher beim Zehnfachen. Sieben Tausend Obdachlose sind in Wirklichkeit siebzig Tausend oder mehr, fast eine Million Alkoholiker sind dann mehr als zwei Millionen. Und dabei sprechen wir noch nicht von Aussagen wie „es gibt keine Wartelisten” oder „es gibt keine hungernde Kinder” , usw.

 

Fakt war, dass im März Zehntausende die staatlichen Jobszentren belagerten. Sie standen vor geschlossenen Türen, bewacht von Sicherheitspersonal. Einen Termin online zu bekommen war theoretisch möglich, tatsächlich musste man darauf aber mehrere Wochen warten. Viele haben schwarz gearbeitet, meistens im Tourismus oder im Gastgewerbe, um den hohen Sozialbeiträgen aus dem Wege zu gehen. Eine andere Wahl hatten weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer.

 

Die geschönten Zahlen mögen Viktor Orbán eine stürmische, trotz allem noch beherrschbare Verschlechterung gezeigt haben, die Fakten waren hingegen tragisch. Statt nur 56 Tausend verloren in wenigen Wochen Hunderttausende das fürs einfache Überleben notwendige Einkommen. Die Lösung, die uns Orbán nach drei Monaten präsentieren wird, geht dann auf dem Papier in Ordnung. „Der Markt und der Staat werden jedem einen Arbeitsplatz ermöglichen” sagt Orbán, als ginge es dabei um zwei voneinander zu trennende Begriffe.

 

Welchen Markt meint er eigentlich?

Noch gehen Tausende von Unternehmen pleite, und würde es ab Mitte Mai eine Art Neubeginn geben, so geht das nicht nach dem Motto: „Lieber Einzelhändler, Du warst für einige Monate zu, für Dich haben wir eine gute Nachricht, Du kannst Dein Geschäft wieder öffnen”. Der liebe Einzelhändler hat nämlich inzwischen viele seiner Kunden verloren, denn auch die gingen mittlerweile pleite. Innerhalb weniger Monate kann nämlich ein kleines Unternehmen, das man viele Jahre aufgebaut hat, zahlungsunfähig werden. Eine auf Angebot und Nachfrage basierende, jedoch an Kapitalmangel leidende Wirtschaft kann nicht wie auf einen Taktschlag eines Dirigenten wieder zum Leben erweckt werden. Um die ungarische Wirtschaft auf Vordermann zu bringen, braucht es mehrere Jahre harter Arbeit. Das gilt selbst für eine nur nach Fakten ausgerichtete Wirtschaftspolitik, die es so gar nicht gibt. Absolute Optimisten stellen sich sogar vor, dass ausgehungerte Konsumenten für Einstrittskarten von Festivals, Theater, Kinos, Reisen, Fussball, Biergärten u.ä. Schlange stehen werden. Das ist ein Trugschluss. Eher wird man all das zumindest bis Mitte August mit angezogener Handbremse angehen. Es wird vorgeschrieben, wie viele Besucher wie viele Plätze besetzen dürfen. Höchstwahrschneilich wird man auch für Kultur, Unterhaltung und Restaurants weniger Geld übrig haben. Wenn überhaupt. Brot hat Vorrang.

 

Was das Jobangebot der Orbán-Regierung betrifft, ist das Rezept bekannt: Pseudotätigkeit als „gemeinnützige Arbeit”. Zurück in den ersten Arbeitsmarkt führt da kein Weg. Man darf aber die demütigende, orangene Weste der Straßenkehrer anziehen, und sich für monatlich netto 150,00 € täglich auf die Schaufel stützend Löcher in die Luft starren. Und dann gibt es noch das Arbeitslosengeld, das nur ein Bruchteil der Arbeitslosen in Anspruch nehmen kann, noch dazu achtet das System gar nicht darauf, wie viele Kinder die/der Arbeitslose zu versorgen hat. Auf dem Papier ist das in Ordnung. Aber es reicht gerade Mal zum Überleben.

 

Überleben oder Leben?

Halten wir für einen Moment inne.

Ist es anmaßend, wenn man in Ungarn des 21. Jahrhunderts nicht bloß überleben will, sondern sich ein ordentliches Leben wünscht? Das akzeptable Ziel kann nicht nur sein, dass man nicht verhungert, sondern mit sinnvoller Arbeit sich und seiner Familie eine sichere Existenz, und - mit Verlaub - Wohlstand für Leib und Seele schafft. Eine neue Brille, neue Autoreifen, Handwerker bestellen, wenn es der Kühlschrank nicht mehr tut, mit der Familie essen oder ins Kino zu gehen, all das nennt sich ein bescheidenes Leben. Das zu messen hat das von Orbán beaufsichtigte Statistische Landesamt 2014 eingestellt. Gemäss der letzten Daten von 2014 lag das Existenzminimum einer ungarischen Familie mit zwei Kindern bei monatlich ca. 740,00 €. Seitdem sind die Verbraucherpreise in Ungarn um ca 30 Prozent gestiegen. Demenstsprechend müsste eine Familie mit zwei Kindern heute über ein monatliches Netto Einkommen von wenigstens 860,00 € verfügen. Ich darf betonen, dass diese Summe nur das Überleben gewährleisten würde.

 

Kürzlich hat man den Lohn für die gemeinnützige Arbeit auf ca 220,00 € monatlich erhöht. Die Orbán-Regierung feiert dies als erfolgreiche Beseitigung der Arbeitslosigkeit, darüber kann man sich nicht genug empören.

 

Um ein realistisches Bild zu bekommen genügt es nicht, die Lohnsumme durch die Zahl der Lohnempfänger zu dividieren, denn daraus kann man nicht auf das Wesentliche schließen: Wie viele davon sind Großverdiener und wie viele davon Kleinverdiener. Man weiss nicht, wie weit die Einkommensschere auseinander geht.

 

Das bedeutet, dass der Trickserei mit diesen Zahlen Tür und Tor geöffnet sind. „Die Krise haben wir rasch gelöst” wird die Orbán-Regierung verkünden. Derweil verarmt die Bevölkerung in der Provinz zusehends. Orbán spricht von einer auf das Prinzip Arbeit aufgebauten Gesellschaft, während die Mehrheit der Bürger keine Arbeit hat und auch nicht haben wird.

 

Der Ministerpräsident wird sich nach drei Monaten mit den manipulierten Zahlen schmücken, Es ist unerträglich, dass das Ziel – den Menschen zu ermöglichen, von ihrer Arbeit anständig leben zu können – niemals seine wirkliche Absicht war und es auch niemals sein wird. 


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