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Sich von den Begriffen des patriarchalen Weltbildes verabschieden

DMZ – KULTUR ¦ Urs Heinz Aerni ¦

 

Mit neuen Begriffen zu einem neuen Menschenbild. Rupert Bucher widmet sich in seinen Flugschriften, die jetzt im Schuber erscheinen, quasi einer Revision der Sprache, damit sie den aktuellen Herausforderungen gerecht werden kann. Diese soll uns die Wurzeln und Gemeinsamkeiten allen Lebens aufzeigen.

 

Ihre Flugschriftenreihe sind nun gesammelt als Schuber erschienen. Ein Band unter dem Titel „Die Sprache der Handlung“ gehört dazu und steht unter dem Motto „Neues sehen – Neues wagen“. Welcher Grundgedanke findet sich dahinter?

 

Stellen Sie sich vor, Sie gehen einen Weg, den noch niemand gegangen ist und wissen nicht, wohin er führt – das ist Wagnis. Vernunft, Verstand, Bewusstsein, Unbewusstes, Intuition, Selbst, Fantasie, Trieb, Instinkt, Moral, Gewissen und Sexualität, Erziehung und Rolle sind die Grundbegriffe des autoritären Weltbildes. In diesen ist unser Denken über uns selbst und den Menschen im Allgemeinen fest verankert und mit dem Prinzip der Hierarchie verkettet. In ihnen ist auch die menschliche Sonderstellung enthalten, die dem Rest der Lebewesen Geist und Seele raubt und die Berechtigung enthält, die Natur als Ganzes gnadenlos auszubeuten. Die Folgen werden schon bald wieder in den Focus treten. Durch deren weitere Verwendung halten wir das alte Weltbild am Leben. Über die Verabschiedung dieser Begriffe das Denken und Handeln frei zu machen, war der erste wichtige Schritt.

 

Das hieße, wir müssten neue Wörter für ein neues Denken erfinden…?

 

Korrekt. Die Formulierung und Anwendung neuer, von der Geschichte unbelasteter Begriffe, ist das Anliegen der Flugschriftenreihe. Diese kreiert einzelne Puzzleteile eines neuen Menschenbildes, das dann in einem großen Werk, das gerade in Arbeit ist, als Gesamtgemälde mit dem Titel «Das Buch vom Menschen» voraussichtlich 2021 erscheinen soll.

 

Aerni: ... da sind wir gespannt...

 

Bucher: In der Gesellschaft sehen wir die Verabschiedung des alten patriarchalen Weltbildes am partnerschaftlichen Beziehungsmodel von Frau und Mann einerseits und dem Zerfall der Familien andererseits. In allen anderen gesellschaftlichen Organisationen, die dem Prinzip der Hierarchie folgen, kämpft der alte Geist um sein Überleben. Es gibt große Betriebe, in denen herrscht in der einen Abteilung ein tyrannischer Vorgesetzter, gleich welchen Geschlechts, der seine Mitarbeiter in die Verzweiflung oder in einen Burn-out-Zustand treibt und in der anderen beobachten wir ein partnerschaftlich-kollegiales Miteinander. Die Zeichen des Umbruchs sind unverkennbar.

 

Aerni: Folgt der Aufbau der Reihe einer Systematik, bzw. in welchem Verhältnis stehen die einzelnen Titel der Reihe zueinander?

 

Bucher: Ihre Entstehung gleicht dem eines Bildes, einer Skulptur oder eines Gedichts. Über die einzelnen Titel formt sich, noch lose verbunden ein neues Bild des Menschen.

 

Aerni: Mit anderen Worten, Sie erschaffen mit all den Büchern eine Art Skulptur, die einen neuen Blick auf den Menschen visualisiert.

 

Bucher: Das kann man so sagen. In all den Jahrzehnten meiner Arbeit als Psychotherapeut, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sind mir viele Menschen begegnet, die unter der schulischen Rationalitätsdressur, anders kann man das nicht nennen, sehr gelitten haben. Waren das einfach die Dummen, die halt nichts begriffen haben? Gewiss nicht! Es gibt Menschen, die vor allem in Bildern, Klängen und Düften denken, nicht in der logischen Schlussfolgerung.

 

Aerni: Also dürfen gewohnte Wörter nicht ins Recycling gelangen, sondern in den verbalen Sondermüll?

 

Bucher: Richtig. Es gibt noch weitere Gründe, warum es an der Zeit ist, sich von den alten Begriffen der antiken Sklavenhalter-Gesellschaften, insbesondere der griechisch-römischen Kultur, zu verabschieden. Die Beziehung von Frau und Mann hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Gleichzeitig vollzieht sich der Umbruch in der Kernzelle der Gesellschaft. Die Familien lösen sich auf.

 

Aerni: Zudem hat die technische Entwicklung ein schwindelerregendes Tempo angenommen. 

 

Bucher: All diese Veränderungen und die damit verbundenen Aufgaben sind mit den alten Begriffen aus längst vergangenen Zeiten nicht mehr zu bewältigen. Gemeint sind die Begriffe, in denen sich der Mensch selbst zu verstehen versucht. Wagen wir es, diesen, vom Hauch des autoritären Weltbildes durchwehten Begriffen Adieu zu sagen.

 

Aerni: Wen möchten Sie besonders mit der Flugschriftenreihe ansprechen?

 

Bucher: Alle Menschen auf der Suche nach sich selbst, dem Leben und immer neuer Erkenntnis. Der Leser ist eingeladen, an dem Projekt, mit neu zu formulierenden Begriffen am Entstehen eines gänzlich anderen Menschenbildes unmittelbar teilzunehmen. Über die Lektüre der Flugschriftenreihe kann der Leser eintauchen in dieses Abenteuer. Er kann in neue Denkwelten vorstoßen, sodass sich ihm unbekannte Einblicke und Einsichten eröffnen werden.

 

Aerni: Was erwartet den Lesenden der Flugschriften?

 

Bucher: 2013 betrat ich den Pfad der neuen Worte. Seit 2014 sind jedes Jahr ein bis zwei neue Titel erschienen. Die Reihe ist jetzt abgeschlossen und liegt nun unter dem Titel «Psychotherapoesie» als Gesamtausgabe vor. Der Leser befindet sich gemeinsam mit dem Autor auf diesem Pfad, von dem niemand weiß, wohin er führen wird. Er ist unmittelbar beteiligt an diesem Projekt gleich einem Fortsetzungsroman, das ist einmalig in dieser Form von Erkenntnisabenteuer.

 

Aerni: Welche Begriffe stellten Sie denn in den Büchern auf den Prüfstand?

 

Bucher: Die Auseinandersetzung startete mit den Begriffen Trieb, Instinkt, Sexualität, Erziehung und Rationalität, wandte sich dann dem Thema der autoritären Frau zu, um dann bei der Suche nach dem wahren Selbst zu landen. Immer steht im Zentrum, die neuen Begriffe in der konkreten Anwendung vorzustellen. Der Anspruch ist ja, über sie zu vertiefter Erkenntnis vorzudringen.

 

Aerni: ... Die auch in Taten sichtbar sein soll?

 

Bucher: Im siebten Band wird der neue Begriff der Sprache der Handlung eingeführt. Er soll uns die Grundsprache des Menschen, die er mit allen Lebewesen gemeinsam hat, näherbringen. Auch hier erwarten den Leser überraschende Einsichten, wie im letzten Band der Reihe: «Das Ich-Gesicht». Hier geht es um ein grundsätzlich geschichtliches Verständnis des Ich, das so gestaltenreich ist wie das soziale Leben und dabei immer im Fluss befindlich.

 

Aerni: Wirken sich diese neuen Einsichten für die Leserin und den Leser auch auf die Praxis des Lebens aus?

 

Bucher: Ja gewiss.

 

Aerni: Wie?

 

Bucher: Mit den neuen Begriffen wird sich seine Wahrnehmung in sozialen Situationen verändern. Er kann dadurch die familiären Muster seiner Herkunft und die anderer in allen erdenklichen Situationen sofort erkennen. Das ist besonders hilfreich in der Partnerschaft, im familiären Alltag mit den Kindern und bei Konflikten im Berufsleben. Aber es geht darüber hinaus um sehr viel mehr: um eine Vision der Überwindung des menschlichen Leidens, der Leere des Nichts, die wir Depression nennen.

 

Aerni: Ihre Flugschriften gerieten unter den Schattenwurf der Corona-Krise und erhalten dadurch eine neue Dynamik. Welches Buch würden Sie denn gerade jetzt als Einstiegs-Lektüre empfehlen?

 

Bucher: Zwei Bücher kann ich nur dringend empfehlen: „Die Sprache der Handlung“ und „Das Ich-Gesicht“.

 

Aerni: Warum gerade diese beiden?

 

Bucher: Das Besondere der Corona-Krise ist ja, dass durch die Allgegenwart der Angst daraus eine Pandemie der Depression geworden ist. Die staatlich verordnete soziale Distanz mit der häuslichen Quarantäne und den Ausgangsbeschränkungen versetzt weltweit viele Menschen in Zustände, die mit denen der Depression identisch sind. Der Kontrollverlust über das eigene Erleben kennzeichnet dieses Erleben. Der überall zu hörende oder zu lesende Ratschlag der medizinischen und psychologischen Experten lautet: mit den Mitteln der Einsicht die Kontrolle behalten.

 

Aerni: Warum nicht?

 

Bucher: Stellen Sie sich vor, sie stecken in einer bleiernen Leere oder schlagen im Streit wild um sich. Vernunft als Rettung?! In diesen beiden Flugschriften erhalten Sie ein völlig anderes Verständnis dessen was augenblicklich geschieht.

 

Aerni: Welche Chancen sehen Sie, die gerade vielleicht durch diese Krise möglich werden könnten?

 

Bucher: Die Antwort auf diese Frage können Sie überall den Medien entnehmen. Daran will ich mich nicht beteiligen.

 

Aerni: Bitte?

 

Bucher: Ich persönlich komme aus dem Stauen nicht heraus, täglich wechselnde Informationen und Einblicke fordern uns heraus, das was geschieht und was es mit uns anrichtet, zu fühlen und zu verstehen. Der Blick auf die gesellschaftlichen Prozesse bestätigt die Kernaussage der Flugschriften. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, auch das Ich besteht aus Geschichte! Die Verhaltensweisen und Zustände, die in der Krise an die Oberfläche kommen, gehören zum kollektiven Gedächtnis, das schon durch zahllose Bedrohungsszenarien geführt hat. Angst, Kontrolle, Hamstern und die Suche nach den Schuldigen, der Wunsch nach beschützenden Führungsgestalten gehören dazu. Nicht zu vergessen: wir sehen die Wiedergeburt des Untertanen!

 

Aerni: Wozu brauchen wir jetzt ein neues Menschenbild? Genügt es nicht schon, mit der Bedrohung des Virus fertig zu werden?

 

Bucher: Das Virus, gegen das es weder eine Impfung noch Medikamente gibt und viele Tote, konfrontiert mit zahlreichen Ängsten bis hin zur Todesangst, also der Leere des Nichts. Die Kunst bezog ihre Antriebs- und Gestaltungskraft immer schon aus seinen Abgründen, die der Künstler in sich trug. Als Künstler und Psychologe leitete mich eben diese Leere des Nichts, ohne das Virus.

 

Aerni: Und wohin?

 

Bucher: Aus diesem Leiden entstand über mehrere Jahrzehnte hinweg das neue Menschenbild, nicht aus einem intellektuell-philosophischen Erkenntnisinteresse. Eine Auseinandersetzung mit philosophischen oder psychologischen Theorien werden Sie in meinen Büchern nicht finden. Die Leere des Nichts hat dieses neue Menschenbild geschrieben. Deshalb kann es den Weg zeigen, der aus ihr herausführt, der uns den inneren Frieden finden lässt und mit dem Leben versöhnt.

 

Aerni: Was soll sich der Leser unter diesem Weg vorstellen?

 

Bucher: Der wichtigste Moment im Leben ist der des Sterbens. Auf diesen Moment gilt es sich vorzubereiten. Wer zuvor tausendfach gestorben ist, der hat keine Angst vor ihm. Das größte Geschenk aber ist im Leben selbst. Es schützt vor dem Sog der Angst, wie er gegenwärtig weltweit die Menschen in Bann hält und findet den gesuchten inneren Frieden, den uns die Kunst nicht geben kann, nur Trost. Wem das nicht reicht, kann in den Flugschriften, aber auch den früher erschienenen Büchern, fündig werden.

 

Rupert Bucher, geboren 1950 in Lindau am Bodensee. Er studierte Philosophie in München und Marburg, Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität und Bildhauerei an der Fachhochschule (ehemalige Muthesius-Schule), beide in Kiel. Seit 1982 zurück in Lindau, arbeitet er als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor in eigener Praxis.

 

«Psychotherapoesie» von Rupert Bucher

Flugschriften - Ein Befreiungsschlag in acht Bänden

Wir brauchen eine neue Gesellschaft

Wir brauchen eine neue Sprache

Wir brauchen Buchers Bücher

8 Taschenbücher im Schuber, ISBN 978-3-99018-523-0, Bucher Verlag Hohenems, EUR 38,00 CHF 48


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