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Schweden ist jetzt Weltspitze - bei den täglichen Corona-Toten je Einwohner

DMZ – INTERNATIONAL ¦

 

Schwedens Politik in der Coronakrise hat weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt und tut es immer noch - nur zusehends negativer Natur. Die Restaurants und Kitas blieben offen und es gab keinerlei Ausgangsbeschränkungen, allerdings Empfehlungen. Der vergleichsweise lockere Umgang Schwedens mit dem Coronavirus hat heftige Diskussionen ausgelöst. Die einen brandmarkten das Vorgehen als gefährliches Experiment an der Bevölkerung, andere erklärten das Land zum Sehnsuchtsort, in dem noch die Vernunft regiert.

 

Eigenverantwortung – so stand Schwedens Regierung vor die Medien, Eigenverantwortung sei gefragt. Das Vertrauen sei da, dass die Bevölkerung auch so handeln könne. Wofür soll der Mensch verantwortlich sein, wenn er eigenverantwortlich handelt? Für seine Gesundheit, für seine Lebenszeit, für seinen Lebensunterhalt, für das Wohlergehen seiner Familie, eigentlich für alles, was nicht einer höheren Gewalt unterstellt werden kann? Schweden hat seit Anfang der Pandemie darauf gesetzt, dass sich die Bevölkerung an die Empfehlungen der Regierung hält. Wie man damals schon wusste und heute bestätigt findet: Der Mensch kann nicht eigenverantwortlich handeln. Denn als soziales Wesen trägt der selbstverantwortliche Mensch auch Verantwortung für die Andern. Eben diese Verantwortung wurde kaum wahrgenommen.

 

Und genau diese Leute, die diese Verantwortung (übrigens auch in jedem anderen Land) nicht wahrnehmen protestieren und fühlen sich eingeschränkt. Paradox. Der Mensch handelt also nichts als selbstgerecht, wenn er in seinem Handeln die Konsequenzen für die Andern nicht in Rechnung stellt. Und die Andern handeln selbstgerecht, wenn sie nicht bereit sind, die Risiken mitzutragen, welche ein Mensch trägt, wenn er auf Eigenverantwortung baut. Somit gibt es auch eine kollektive Verantwortung.

 

Auch die Zahlen (Bestätigte Fälle 38’589 / Genesene 4971/ Todesfälle 4468) beweisen – der „Schwedenweg“ ist gnadenlos und mit riesigen Verlusten gescheitert.

 

 

Regierungen weltweit reagierten unterschiedlich auf die rasant steigenden Corona-Infektionen. Forscher der University of Oxford haben eine Masszahl entwickelt, welche die Massnahmen der Länder vergleichbar machen soll: den sogenannten Government Response Stringency Index. Darin fließen 17 verschiedene Indikatoren ein, etwa Art und Umfang von Schulschliessungen, Ausgangsbeschränkungen, Finanzhilfen für Unternehmen und Investitionen in die Impfstoffentwicklung.

 

Schweden in der Corona-Krise Egoist

 

Immer wenn es ja darum ging, schnell Lockerungen durchzusetzen oder Sperren erst gar nicht zu verhängen, wurde Schweden mit dem sehr lockerem Umgang mit Corona als Paradebeispiel genannt. Wie gut doch alles trotz des "Weiterlaufens" des öffentlichen Lebens gehen würde, man brauche gar keine Einschränkungen. Ein ganz schlechtes Beispiel, welches man schnellstens vergessen sollte. Schweden hat rund 10.3 Millionen Einwohner und hat derzeit 35'088 Infektionen bei 4220 Toten. Eine viel höhere Todesrate als die Nachbarländer. Genesen sind 4971. Nach Angaben der Website „Worldometer“ liegt sie bei 399 Todesfällen pro einer Million Einwohner. In Dänemark sind es 97, in Finnland 56 und in Norwegen 43 Tote.

 

Der Internetkonzern zählt permanent, wie oft bestimmte Orte von Menschen frequentiert werden, etwa Bahnhöfe, Supermärkte oder der Arbeitsplatz. Google nutzt dafür Trackingdaten von Handys und setzt diese ins Verhältnis zu Durchschnittswerten aus der Vergangenheit.

 

Die Daten verdeutlichen, dass Schweden sich vor allem von Deutschland nur wenig unterscheidet. Besuche am Arbeitsplatz und Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind in urbanen Regionen überall ähnlich stark zurückgegangen - egal ob in Stockholm oder eben Berlin und Kopenhagen. In ländlichen Regionen waren die Veränderungen nicht ganz so drastisch.

 

 

 

 

Schweden hat das 14-fache der deutschen Anzahl - hochgerechnet auf unsere Bevölkerung wären das über 450 Tote täglich. Grafik vom Covid-19 Tracking Tool der Financial Times @FT: https://ig.ft.com/coronavirus-chart/?areas=usa&areas=swe&areas=deu&areas=gbr&areas=bra&areasRegional=usny&areasRegional=usnj&cumulative=0&logScale=1&perMillion=1&values=deaths

 

Und die Zahl der Toten steigt in Schweden weiterhin stetig. Norwegen und Finnland haben es hingegen geschafft, ihre Todesrate bei vier bis fünf je 100.000 Einwohner zu stabilisieren - ein Achtel bis ein Zehntel des Werts aus Schweden.

Warum aber hat Schweden deutlich mehr Todesfälle als die Nachbarländer? Die Startbedingungen waren ähnlich. Das Coronavirus breitete sich in Skandinavien etwas später aus als in Italien, Frankreich und Spanien. Norwegen, Finnland und Dänemark reagierten ähnlich wie Deutschland mit harten Gegenmassnahmen. Alle vier Länder konnten Zustände wie in Italien verhindern und die Infektionen nach einigen Wochen deutlich senken.

 

Schweden ist es nicht gelungen, die Infektionen so schnell einzudämmen wie die Nachbarländer. Es ist sogar so, dass sich das Coronavirus im Westen des Landes zuletzt immer stärker ausgebreitet hat. 

 

Unethische "Massnahmen"

Offenbar hat Schweden eine Überlastung seiner Intensivabteilungen auch deshalb vermieden, weil ältere Patienten kaum intensivmedizinisch versorgt wurden. Zwei Drittel aller Covid-19-Toten sind über 80. Aber nur fünf Prozent der Patienten auf Intensivstationen stammen dem schwedischen Krankenhausregister zufolge aus dieser Altersgruppe.

Lokale Gesundheitsämter sollen laut BBC auch von der Verlegung älterer Patienten in Krankenhäuser abgeraten und die Gabe von Sauerstoff ohne ärztliche Anordnung als palliative Massnahme abgelehnt haben. Die gefürchtete Triage im Krankenhaus wurde so offenbar vermieden - sie fand im Altersheim statt.

 

Auch Schwedens Wirtschaft hängt ähnlich wie die deutsche stark von Exporten ab. Die weltweite Rezession wird deshalb auch Schweden hart treffen - obwohl es in dem Land selbst kaum Restriktionen für Unternehmen gab.

 

Das grösste Land Skandinaviens wird deshalb nun mit seiner liberalen Strategie sogar per Einreiseverbot zu den „Failed States“ der Pandemiebekämpfung neben Russland, Belgien, Grossbritannien, Spanien und Italien gerechnet. Psychologisch und auch praktisch härter trifft die Schweden, dass sie sogar bei ihren nordischen Nachbarn als mögliche Virusverbreiter weiterhin abgewiesen werden sollen. Wenn Finnlands Staatspräsident Sauli Niinisto verkündet, dass man „alle Risiken an den Grenzen zu Schweden und Russland minimieren muss, weil unser Land den Kampf gegen Corona um vieles besser bestanden hat“, muss das in schwedischen Ohren wie die Aufkündigung einer uralten Familienfreundschaft klingen.

Kritiker werfen Schweden vor, dadurch das Leben der Menschen aufs Spiel gesetzt zu haben

Karl Lauterbach, SPD Bundestagsabgeordneter, sagt schreibt auf Twitter: „Schweden hat pro Einwohner jetzt fast 4-fache deutsche Todesrate Covid-19, trotz geringer Besiedlung. Auch Wirtschaft geht es schlechter wegen der Unsicherheit. Der schwedische Weg muss als gescheitert gelten.“

 

Nur "halber" Sonderweg

Tegnells Strategie, mit offenen Schulen, Geschäften, Restaurants und einer weiter laufenden Wirtschaft lieber einer intelligenten Selbstkontrolle der Bürger zu vertrauen, war immer hoch umstritten. Kritiker werfen ihm vor, Schweden habe damit einen hohen Opferzoll zu zahlen.

Zwischen den Lagern in der Schweden-Debatte verweisen Mittler darauf, dass die Schweden zwar ein freiwilliges, aber doch auch aktives "Social distancing" praktiziert hätten. Insofern handele es sich nur um einen halben Sonderweg.

Die Bewertung von Schwedens liberalem Weg ist gleichwohl für die politischen Öffnungsdebatten in vielen anderen Staaten von grosser Bedeutung. Schweden demonstriert ebenfalls anschaulich, dass das Befähigungsproblem zur Eigenverantwortung im Vordergrund stehen. Die Menschen müssen lesen können, sie müssen überdies verstehen können, was sie lesen. Wie die jüngsten PISA-Studien (Programme for International Student Assessements) lehren, gibt es diesbezüglich grosse Defizite. Auch Teile der schweizerischen Bevölkerung haben ein Ausbildungs- und Bildungsdefizit; es gibt Zertifikatsarmut und Kompetenzarmut. Wer der Bevölkerung mehr Eigenverantwortung verpassen will, muss bereit sein, Massnahmen zu fordern, die den Menschen helfen, diese echt befähigt wahrzunehmen.

 

Einreiseverbot für Schweden wegen lockerem Umgang mit Coronavirus

Mehrere europäische Länder möchten die Einreise für Ausländer trotz des Coronavirus wieder ermöglichen. Erst kürzlich verkündete Zypern, dass die Grenzen Mitte Juni wieder geöffnet werden sollen. Zu den Ländern, aus welchen Besucher einreisen dürfen, gehören beispielsweise Deutschland, Finnland und Dänemark – nicht aber Schweden.

«Sind wir Schweden mit unserem eigenen Weg durch die Corona-Krise jetzt so etwas wie das Mobbingopfer Europas?», fragte ein schwedischer Fernsehmoderator am Wochenende.

Der norwegische Chefepidemiologe Frode Forland sagte den Nachbarn in deren Rundfunknachrichten per vertrautem skandinavischen Du, aber kühl: „Ihr habt nun mal eine grössere Verbreitung des Virus als wir, und deshalb ist es schon logisch, unsere Grenze weiter dicht zu halten.“

 

Den Menschen auf  ideologischem Hintergrund  Eigenverantwortung zu predigen, ist offensichtlich leichter, als sie mit einer qualitativen Bildungsoffensive dafür als Individuen oder Gemeinschaften zu befähigen. Überall, wo mehr Eigenverantwortung für die Menschen  eingefordert wird, müssen die notwendigen Voraussetzungen vorhanden sein oder erst geschaffen werden. Das ist Gegenstand der kollektiven Verantwortung. Bildungspolitik ist auch Sozialpolitik. Für die Handlungsfreiheit der Individuen entsteht dadurch keine Gefahr und für die Wohlfahrt der Gesellschaft ein Gewinn. Und das gilt nicht nur für Schweden. 

 

 

 

Quellen:

  • https://www.bsg.ox.ac.uk/research/research-projects/coronavirus-government-response-tracker
  • https://www.wsj.com/articles/measuring-the-strictness-of-your-lockdown-a-university-boils-it-down-to-one-number-11590246001
  • https://coronavirus.jhu.edu/map.html

 


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