· 

Vom Wahrnehmen und Bewerten

DMZ - GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Patricia Jungo ¦

 

Die Frage, ob Rassismus seinen Ursprung bereits im Kindesalter hat, stellte sich der Psychologe Jean Piaget bereits zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Es gelang ihm mit vielen Tests zu belegen, dass Kinder unter vier Jahren Unterschiede niemals bewerten, sondern lediglich wahrnehmen. Feindbilder sind in der Welt der Babys noch keine zu finden und rassistische Vorstellungen fehlen gänzlich. Rassismus ist also keinesfalls angeboren, sondern wird im Verlauf der Sozialisierung und psychologischen Entwicklung zu Erwachsenen erworben.

 

Die Frage, wann und wie Kinder denn beginnen, Unterschiede als positiv oder negativ einzustufen, erweist sich als interessant. Es scheint, dass erste Ansätze zur Abgrenzung im vermehrten Kontakt mit Gleichaltrigen zu finden sind. Der Bekanntenkreis der Kinder vergrössert sich auf natürliche Weise bei der Einschulung. Das Kind muss also neue Bezugspersonen und Freunde finden, mit denen es möglichst viele Gemeinsamkeiten hat. Dies nimmt ihm die Angst, alleine zu sein. Zusammen fühlt man sich stark. Manchmal wird diese Stärke beim Menschen aber auch im Verbund gegen Dritte ausgenutzt.

 

Dies ist auch bei Kindern so und ganz natürlich. Im Alltag von Familien und Schule sind dafür bestimmt unzählige Beispiele zu finden. Oft ringen die Kinder mit zwei Wünschen, die gleichzeitig auftreten: Gleichheit und Überordnung. Da diese leider nicht miteinander verbindbar sind, muss eine Kompromisslösung gesucht werden, bei der schon ab und zu „die Moral“ übergangen wird. Kinder greifen dann in der Not zu Überredung, Bestechung, Einschüchterung oder gar Erpressung, um andere zum gewünschten Verhalten zu bewegen. Diese Techniken kennen viele Kinder aus familiären Zusammenhängen bereits. Meist kommt es zu solchen Konfliktsituationen, weil das Kind die Spannung bewusst wahrnimmt, die zwischen seinem Wunsch und der Realität besteht und es merkt, wie verletzlich es ist.

 

Auf der Suche nach Gleichgesinnten haben für ein Kind Konflikte keinen Platz und diese wollen so rasch wie möglich aus der Welt geschafft werden. Die Methode ist dann weniger wichtig! Inwiefern Kinder dabei die Schmerzensgrenzen von anderen respektieren, hängt mit ihren eigenen Gefühlserfahrungen zusammen. Fühlen sie sich in ihrer Familie respektiert und wahrgenommen und mit ihren Schwächen akzeptiert, gehen sie behutsamer mit Dritten um. Erleben sie jedoch Verhöhnung und Abwerten von Gefühlen, werden auch sie andere eher verletzen. Ein Kind, das immer stark sein muss, hat Mühe, nachzugeben und Kompromisse einzugehen. Es wertet dies als Schwäche. Des Weiteren sind Kinder natürlich auch stark durch die Medien beeinflussbar; sie sind sich ja noch nicht bewusst, dass diese kein reales Bild unserer Gesellschaft vermitteln. Wenn Kinder beispielsweise feststellen, dass im Fernsehen vorwiegend weisse Kinder zu sehen sind, werden sie dies als „Normalität“ einstufen und einen Film mit dunkelhäutigen Menschen als eher „befremdend und nicht normal“ bewerten.

 

Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass Kinder ab 5 Jahren vermehrt die Unterschiede zwischen ihnen und ihren Kameraden wahrnehmen, welche mit dem Einfluss von Freunden und Familie eingeordnet und gewertet werden. Oft werden fremde Verhaltensweisen und Traditionen von Menschen als bedrohend empfunden, da sie sich nicht mit dem eigenen Wesen decken. Kinder folgen diesem Beispiel zweifelsohne. Natürlich werden viele sehr junge Kinder das eigene Geschlecht oder die eigenen Traditionen bevorzugen. Wenn diese positivere Beurteilung der eigenen sozialen Gruppe im Laufe der Entwicklung in Vorurteile und Diskriminierung mündet, ist Vorsicht geboten. Wenn Familien und Schule Kinder schon früh mit „Fremdem“ in Kontakt bringen, neigen diese viel seltener zu rassistischem Verhalten. Gute Bücher, Sport und Geschichten bieten dazu wunderbare Brücken. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es nicht, kindliche Konflikte zu unterbinden, sondern diese zu beobachten und Fremdenfeindlichkeit niemals gutzuheissen. Nach unserem Vorbild werden Kinder eine humane Wertorientierung aufbauen, die andere respektiert und das weiterleben und weitergeben, was ihnen in die Wiege gelegt wurde: wahrnehmen ohne zu bewerten. Einmal mehr sind die Kinder unserer wahren Lehrer!  


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0