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Die Reform der Korruption in Ungarn

Iván Sztojcsev, (1990) ungarischer Publizist, Redakteur bei „HVG“ (ungarische „Weltwirtschaftswoche“)
Iván Sztojcsev, (1990) ungarischer Publizist, Redakteur bei „HVG“ (ungarische „Weltwirtschaftswoche“)

DMZ – POLITIK / INTERNATIONAL ¦ Iván Sztojcsev ¦

GASTKOMMENTAR

 

Nachdem es Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei in 2010 gelungen war, im ungarischen Parlament eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, verkündete er sein System der nationalen Zusammenarbeit. Es ist jetzt zehn Jahre alt. Während dieser Zeit hat die Fidesz die demokratischen Institutionen völlig umgekrempelt. Orbáns System hat sich etabliert. Orbáns Partei hatte 2018 zum dritten Mal nacheinander die Zweidrittelmehrheit im Parlament geholt.

 

Ganz selten begegnet man derart miserablen Zahlen, die die EU-Kommission kürzlich herausgegeben hat.

Sie hatte im Dezember 2019 die aktuellen Zahlen über die Korruption in Europa veröffentlicht. Europabarometer, eine in regelmäßigen Abständen von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene öffentliche Meinungsumfrage stellte fest, dass es die Ungarn sind, die sich in der EU über die Korruption am wenigsten aufregen. Genauer gesagt, während 69 Prozent der EU-Bürger die Korruption für nicht hinnehmbar halten, sind es in Ungarn lediglich 38 Prozent.

87 Prozent der Ungarn meinen, bei ihnen sei die Korruption weit verbreitet.

57 Prozent sind der Meinung, die Korruption wäre in den letzten drei Jahren sogar gewachsen.

77 Prozent denken, sie sei Bestandteil des Geschäftslebens.

73 Prozent glauben, der einzige Garant für den Erfolg im Geschäftsleben sei das Unterhalten von politischen Beziehungen.

Man hat einfach den Eindruck, Ungarn sei ein korruptes Land und die Ungarn hätten sich damit abgefunden.

 

„Die Wirtschaft ist ungeduldig, von der Regierung wird dringend ein wirksames Einschreiten erwartet.“ Dieser Satz stand im Korruptionsbericht von Transparency International (TI) 2010. In Ungarn wurde damals zurecht erwartet, dass die neue Regierung von Viktor Orbán einen anderen Weg einschlägt als ihre Vorgänger, denn die von Sozialisten geführten Regierungen wurden auch von Vielen als korrupt eingeschätzt.

Die von Gordon Bajnai geführte Übergangsregierung (2009-2010) konnte die Zahlen der Regierung Gyurcsány (2004-2009) nur minimal verbessern. Zu dieser Zeit lag Ungarn auf der Liste der korruptesten Regierungen in der EU von TI an 11. Stelle. In den damaligen Forschungsergebnissen herrschte Konsens über die Ursache des Problems: Korruption wurde kaum konsequent geahndet und engmaschige Seilschaften verhinderten jegliche Besserung.

Diese Lage fand die Fidesz im Jahre 2010 vor, als sie die Macht übernahm.

 

Ihr fiel in der Tat etwas ganz Neues ein: mit jahrelanger, nachhaltiger Arbeit konnte das System der ungarischen Korruption vollkommen überarbeitet und perfektioniert werden. Transparency International hatte in seinem Bericht von 2019 bereits folgendes vermerkt: „Vom Nebenprodukt ist die Korruption in Ungarn zum Bestandteil des Systems geworden“. Das wurde auch durch die Zahlen bestätigt. Nunmehr ist das Land der zweitkorrupteste Mitgliedstaat in der EU. Nur in Bulgarien ist die Lage noch schlechter.

 

2010-2014: Die Geiselnahme des Staates

In der ersten Hälfte der 2010er Jahre war in den Korruptionsberichten einer der meistbenützten Begriffe:“state capture“, die sogenannte Geiselnahme des Staates. Da brachen die Politiker nicht nur keine Gesetze mehr, nein, sie schrieben sie vielmehr zu ihrem Vorteil um. Ein wichtiges Element dieses Vorgehens ist dabei, dass in alle für die Kontrolle der Wirtschaft zuständigen Institutionen orbantreue Personen berufen wurden. Das waren u.a. das Rechnungsprüfungsamt, die oberste Staatsanwaltschaft und die nationale Steuer- und Zollbehörde. Auch die Umbildung der systemrelevanten Gesetze ließ nicht lange auf sich warten. Es wurden auch Gesetze erlassen, die das Risiko von Korruption auf einzelnen Gebieten sogar noch erhöhten, wie zum Beispiel das Gesetz für Staatsanleihen zur Niederlassung von Ausländern.

 

Damit hatte man zunächst erreicht, dass die öffentliche Auftragsvergabe unüberschaubar wurde. Im Jahre 2011 wurde nämlich entschieden: Ist der Wert eines Auftrages unter 25 Millionen Forint (ca. 75.000 Euro), dann braucht es keine Ausschreibung. Das Resultat war zu erwarten. In den ersten drei Jahren nach Orbáns Machtübernahme wurden Aufträge mit jeweils 24.9 Millionen Forint in einem Gesamtwert von 6 Milliarden Forint (ca. 18 Millionen Euro) verteilt. Den absoluten Rekord stellte die Renovierung des Amtsgerichtsgebäudes in Györ auf. Die Baukosten am Gebäude wurden in fünf Einzelteile zu je 24.999.999.-Forint ausgeführt, damit war eine Ausschreibung für die öffentliche Auftragsvergabe nicht mehr nötig.

 

2014: Der Geldsack aus Brüssel öffnet sich

Als 2014 die mehrjährige Finanzplanung der EU eingeführt wurde, war das institutionelle Finanzsystem in Ungarn bereits stark geschwächt. Da erst begann die wahre Geldverschwendung. Unter den Finanzexperten war es Konsens, dass das Ausmaß der Korruption daran zu erkennen war, wie viele öffentliche Aufträge an einen einzigen Bewerber vergeben wurden. 2019 wurden in Ungarn 42 Prozent der Aufträge ohne Ausschreibung vergeben.

Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) stellte fest, dass zwischen 2014 und 2018 der Anteil an veruntreuten EU-Geldern in keinem Land so hoch war wie in Ungarn. In diesen vier Jahren hat die EU fast vier Prozent der bereits überwiesenen Gelder zurückgefordert, das war beinahe das Doppelte als im Falle der zweitplatzierten Slowakei.

 

2013-2020 Öffentliches Geld wird privatisiert

Als Erstes brachte der Bericht von TI 2015 zu Tage, dass es das Wichtigste bei der Korruption in Ungarn war, das öffentliche in privates Geld umzuwandeln. Ein Jahr danach wurde daraus die juristische Formel, wonach „das nach Ungarn transferierte Vermögen seine Eigenart als öffentliches Geld verliert“. Oft brauchte man nicht einmal ein Gesetz, es genügte, die Steuergelder für öffentliche Vorhaben einfach zu verschleudern. All das konnte man inzwischen ganz legal bewerkstelligen, denn die Firmen von regierungsnahen Großunternehmern waren inzwischen dermaßen finanzstark geworden, dass sie mühelos bessere Angebote abgeben konnten als ihre Mitbewerber.

 

Laut Corruption Research Center Budapest konnten die fünf regierungsnahen ungarischen Großunternehmer zwischen 2005 und 2010 von den Ausschreibungen für öffentliche Vorhaben 0.4 bis 1.8 Prozent für sich ergattern. In 2013 war das bereits 17 Prozent. In 2019 kamen sie auf 21 Prozent. Allein von Januar bis April 2020 waren das dann schon 27 Prozent.

 

Die Gerichte halten noch durch

In seinem neuesten Bericht betonte 2019 Transparency International, dass manche Gerichte in Ungarn ihre Unabhängigkeit noch bewahren. Es kommt sogar vor, dass auch die Staatsanwaltschaft Fidesz-Funktionäre nicht laufen lässt – obwohl man bisher über die Anklage nicht hinaus kam. Beinahe alle Sachverständigen bestätigen, dass man mit der Bekämpfung von Korruption außerhalb der Politik ganz gut vorankommt und selbst die Zahl der Bestechungen der Polizei abnimmt.

 

Die Zukunft: Lassen wir Brüssel wissen!

Dass mit Ungarn etwas nicht stimmt, ist auch den Entscheidungsträgern der EU aufgefallen. Es mehren sich die Vorschläge, man sollte die EU-Subventionen von der Rechtstaatlichkeit abhängig machen, was die Orbán-Regierung - welch ein Wunder – vehement ablehnt. Sie meint, die Souveränität Ungarns wäre gefährdet.

Dieselbe Argumentation machte man sich auch zu Eigen, als es um die Schaffung eines europäischen Gerichtshofes ging. Es werden noch große Debatten erwartet bis der EU-Haushalt für 2021-27 steht.

Bislang kann OLAF lediglich vorschlagen, über die Anklage selbst entscheidet die nationale Justiz.

Die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (GRECO) hat soeben verkünden lassen, dass es in der EU nur zwei Länder gibt, in denen man sich mit den Vorschlägen gegen Korruption noch weniger beschäftigt als in Ungarn.


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