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Die Treiber der Epidemie aufspüren, die Quarantäne verkürzen, die Tests genauer auswerten

DMZ – WISSENSCHAFT / FORSCHUNG ¦ Anton Aeberhard ¦

 

"Ein Plan für den Herbst" - so heisst der aktuelle Gastbeitrag von Christian Drosten in "DIE ZEIT Nr. 33/2020, 6. August 2020".

"Die Treiber der Epidemie aufspüren, die Quarantäne verkürzen, die Tests genauer auswerten – mit dieser Strategie können wir in einer zweiten Welle verhindern, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt." Dies die ersten Sätze des Kommentars, die durchaus Hoffnung aufkommen lassen.

 

 

 

Weil der Beitrag von Christian Drosten riesiges öffentliches Interesse ausgelöst hatte, entschied sich die ZEIT, den ursprünglich nur Digitalabonnenten und Lesern der gedruckten ZEIT zugänglichen Artikel, zu öffnen.

 

Einmal mehr betont Christian Drosten darin, dass als die Covid-19-Epidemie Deutschland erreichte, das Land schnell und gut reagiert habe. In kaum einer anderen grossen Industrienation seien so wenige Menschen an der Krankheit gestorben. Den frühen und kurzen Lockdown Deutschlands habe der Wirtschaft viel Schaden erspart.

 

Christian Drosten warnt eindringlich

Da man aktuell Gefahr laufe, den Erfolg zu verspielen, warnt der Experte eindringlich: "Das hat vor allem einen Grund: Wir lernen sehr viel Neues über das Virus, setzen dies aber nur zögerlich um. Wir müssen uns ein paar Fragen stellen: Welche Konsequenzen ziehen wir aus der Erkenntnis, dass sich das Virus vor allem über die Luft überträgt – also nicht nur über die klassische Tröpfcheninfektion, sondern auch über Aerosole? Was bedeutet das im Herbst und Winter für öffentliche Gebäude, für Kitas und Schulen, für Ämter und Behörden, für Krankenhäuser und Pflegeheime? Wann werden wir konsequent unsere Maske tragen, und zwar auch auf der Nase, nicht nur darunter? Welche technischen und pragmatischen Lösungen gibt es für einen hinreichenden Luftaustausch – in einem Land der Ingenieure, nicht der Bedenkenträger? Und wie stellen wir uns den Einsatz der sicherlich im nächsten Jahr verfügbaren Impfstoffe vor? Selbst wenn sie keinen vollständigen Schutz böten, würden sie die Verbreitung des Virus deutlich verlangsamen und die Krankheit weniger schwer verlaufen lassen. Das sollten wir nicht zerreden.

Die Herausforderung besteht darin, unseren Handlungsspielraum zu kennen für die Ausnahmezeit, die bis zur Verfügbarkeit der Impfung vergeht. Ein unsauber abgesteckter Durchseuchungskurs könnte unsere bisherigen Erfolge zunichtemachen, die medizinischen wie die ökonomischen."

 

 

 

Während das Virus mit der ersten Welle in die Bevölkerung eingedrungen ist, wird es sich mit der zweiten Welle aus der Bevölkerung heraus verbreiten. Denn in der Zwischenzeit hat es sich immer gleichmässiger verteilt, über die sozialen Schichten und die Alterskohorten hinweg. Und nach der Urlaubssaison werden wir beobachten, dass sich die Neuansteckungen auch in geografischer Hinsicht gleichmässiger verteilen werden als bisher."

 

Sind wir der zweiten Welle deshalb schutzlos ausgeliefert? Nein.

Denn die Verbreitung sei bei genauem Hinsehen nicht homogen, und das könne man sich zunutze machen. Infektionswissenschaftler beobachteten eine überraschend ungleiche Verteilung der Infektionshäufigkeit pro Patient. Die Reproduktionszahl R bilde dabei nur einen Durchschnitt ab.

 

 

 

Aerosole und Corona - Wo Atmen zum Risiko wird

 

Es hilft ein Blick nach Japan. Das Land warnte seine Bürger frühzeitig vor grossen Menschenansammlungen, geschlossenen Räumen und engem Kontakt. Wie anderswo in Asien sind Masken weit akzeptiert. Statt viel und ungezielt zu testen, hat Japan früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. Dazu hat das Land offizielle Listen von typischen sozialen Situationen erstellt, in denen Übertragungscluster entstehen, und sie öffentlich bekannt gemacht. Die Gesundheitsbehörden suchen in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken.

Die gezielte Eindämmung von Clustern ist anscheinend wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung. Japan gelang es, die erste Welle trotz einer erheblichen Zahl importierter Infektionen ohne einen Lockdown zu beherrschen.

 

Christian Drosten plädiere nun dafür, im Fall der Überlastung nur (oder zumindest vor allem) dann mit behördlichen Massnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Clustermitglied stammt. Die vielen Tests, die die Politik derzeit vorbereitet, werden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter dann überfordern – schliesslich könne man das Virus ja nicht wegtesten, man müsse auf positive Tests auch reagieren.

 

 

Das Gesundheitsamt muss zurückblicken: War der Patient in einem Grossraumbüro tätig, feierte er mit Verwandten, während er wirklich infektiös war, also etwa seit Tag zwei vor Symptombeginn? Noch wichtiger: Wo könnte sich der Patient eine Woche vor dem Auftreten der Symptome infiziert haben – könnte das in einem Cluster geschehen sein? Jeder Bürger sollte in diesem Winter ein Kontakt-Tagebuch führen. Durch die Fokussierung auf die Infektionsquelle wird der neu diagnostizierte Patient nämlich zum Anzeiger eines unerkannten Quellclusters, das in der Zwischenzeit gewachsen ist. Die Mitglieder eines Quellclusters müssen sofort in Heimisolierung. Viele davon könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen. Für Tests fehlt die Zeit. Politik, Arbeitgeber und Bürger müssen dies erklärt bekommen.

 

 

Gefahr an Schulen

Auch eine Schulklasse könne ein Cluster sein, darauf müsse man besonders im Herbst gefasst sein. Weil es gerade bei jüngeren Schülern nur einen kleinen Anteil symptomatischer Fälle gäbe, könne jeder Fall eines symptomatischen Schülers einen Quellcluster anzeigen. Die japanische Strategie könne helfen, die Schulen länger offen zu halten, indem Cluster in Klassen gestoppt werden, bevor ganze Schulen geschlossen werden müssen. Die Voraussetzung dafür sei klar: Im Schulalltag müssen Klassen voneinander getrennt werden, um geschlossene epidemiologische Einheiten zu erhalten.

 

 

Weiter führt Christian Drosten in seinem Kommentar bei DIE ZEIT aus: "Zusätzlich brauchen wir eine weitere entscheidende Änderung unserer Strategie: eine Testung auf Infektiosität statt auf Infektion. Die Information dafür liefern die gängigen PCR-Tests schon in Form der Viruslast. Eine niedrige Viruslast bedeutet, dass ein Patient nicht mehr ansteckend ist. Würden wir uns zutrauen, aus den inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Daten eine Toleranzschwelle der Viruslast abzuleiten, könnten Amtsärzte diejenigen sofort aus der Abklingzeit entlassen, deren Viruslast bereits unter die Schwelle gesunken ist. Es würden wohl die allermeisten sein.

Selbst eine Beendigung der Abklingzeit ohne Test wäre in Krisenzeiten denkbar, denn die Clusterstrategie arbeitet ohnehin mit Restrisiken. Alle Beteiligten müssen akzeptieren, dass man in Krisenzeiten nicht jede Infektion verhindern kann. Die wenigsten Amtsärzte würden aber die Verantwortung allein tragen wollen. Im Zweifelsfall müssen ihre Entscheidungen nämlich gerichtsfest sein. Deswegen kann ein Amtsarzt oft gar nicht anders, als an externen Vorgaben festzuhalten, etwa an den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI). Diese zielen auf eine korrekte und vollständige Fallverfolgung. Wenn in der zweiten Welle die Gesundheitsämter hierdurch überfordert sind, droht aber ein Lockdown.

Die Erfahrung aus anderen Ländern lehrt uns schon jetzt, dass eine vollkommene Unterbrechung der Einzelübertragungen unmöglich ist. Wir müssen also den Gesundheitsämtern in schweren Zeiten erlauben, über das Restrisiko hinwegzusehen. Sie müssen das wenige Personal dort einsetzen, wo es drauf ankommt: bei den Clustern.

 

 

Die zweite Welle erfordert nun aber das Mitdenken der gesamten Bevölkerung, der Arbeitgeber und der Politik. Nehmen die Neuinfektionen plötzlich stark zu, brauchen wir einen pragmatischen Weg zum Stopp des Clusterwachstums: ohne Lockdown, dafür mit Restrisiko. Diesen Weg müssen alle verstehen und mittragen, auch durch Befolgen allgemeiner Maßnahmen wie Maskenpflicht und Beschränkung privater Feiern. Der Zeitpunkt für den Krisenmodus kann regional variieren.

Im besten Fall brauchen wir ihn nicht."

 

 

Zum kompletten Gastkommentar

Dieser Gastkommentar ist der erste von Christian Drosten für eine Zeitung und ist hier erschienen: https://www.zeit.de/2020/33/corona-zweite-welle-eindaemmung-massnahmen-christian-drosten/komplettansicht

 

 

Quellen:


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