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Fatale Erinnerungen

DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Auf der griechischen Insel Lesbos ist am Donnerstag das Flüchtlingslager Moria abgebrannt, das grösste seiner Art in Europa. In einem Lager, das maximal für 3000 Personen konzipiert gewesen war, irren jetzt 12‘000 zusammengepferchte Flüchtlinge unter schwelenden Trümmern umher, auf der Suche nach einem Schlafplatz, nach Nahrung und Gelegenheit, den primitivsten hygienischen Notwendigkeiten auf menschenwürdige Art und Weise gerecht zu werden. Gleichzeitig wundert sich Europa, dass so etwas geschehen konnte: Dass im Elend kasernierte Menschen so verzweifelt sind, die ihnen zugewiesene Stätte der Entwürdigung und der Zukunftslosigkeit aus eigenen Stücken einfach abzufackeln. Europa reibt sich die Augen, weil Flüchtlinge plötzlich kundtun, dass sie nicht einfach ein administratives Problem sind, sondern Menschen.

 

Sie erfrechen sich, die auf ihre Wertekultur stolzen europäischen Regierungen darauf hinzuweisen, was davon zu halten ist: nämlich gar nichts. Das Versagen der EU und der europäischen Staaten ist monströs, auch jenes der Schweiz. Über Schengen-Dublin in den europäischen Grossraum eingebunden, tut die Schweiz nicht mehr als das, was sie bei solchen Gelegenheiten immer tut: Sie duckt sich weg und lässt den andern Platz vorzutreten. Aber keiner bewegt sich. Deshalb propagiert Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die Justizministerin, das, was am leichtesten über die Lippen geht: die Hilfe vor Ort. Man wolle Zelte liefern, Nahrungsmittel und Medikamente. Und, grosser Akt der Humanität, man wolle (weil andere das auch tun) unbegleitete Kinder und Jugendliche aufnehmen. Mittlerweile sind Zahlen durchgedrungen. Zehn europäische Staaten haben sich bereit erklärt, 400 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Natürlich nicht je, sondern insgesamt… Ein Grossteil davon, nämlich insgesamt 200 bis 300, gehen nach Deutschland und nach Frankreich. Bleiben für die andern acht beteiligten Staaten maximal 100 bis 200. In die Schweiz dürfen deren 20. Aber bloss keine Erwachsenen! Das Schlagwort von der „Hilfe vor Ort“ verkommt zum billigen Synonym für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

 

Es ist eine Schande. Während schweizerische Städte aufgebaute Asylstrukturen wegen Unterlastung schliessen müssen, aber öffentlich die Bereitschaft bekunden, Menschen aufzunehmen, macht der Bundesrat dicht. Die Begründung Keller-Sutters, dafür gebe es keine rechtliche Grundlage, ist ein Hohn. Und sie weckt ganz fatale Erinnerungen an die Flüchtlingsdebatte von 1942, als Bundesrat von Steiger im Nationalrat das Boot für voll erklärte, während viele Schweizerinnen und Schweizer bereit gewesen wären, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Weshalb Frau Keller-Sutter es vorzieht, sich in den Fussstapfen des Nazifreundes von Steiger wiederzufinden, statt unbürokratisch auf die Städte zuzugehen und – sagen wir – 200 Flüchtlinge in die Schweiz zu holen, bleibt ihr Geheimnis. Niemand würde etwas davon spüren ausser die 200, die zu einer Lebensperspektive kämen.

 

Die Politik der präventiven Abschottung (wenn wir jetzt 200 aufnähmen, würden sofort die nächsten 200 nachstossen, es würden andere Flüchtlingslager auch in Flammen aufgehen, wir würden das Elend nur vergrössern…) ist einer Nation unwürdig, die sich wie die Schweiz bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten auf ihre humanitäre Tradition beruft. Nationalrat Albert Oeri, damals Chefredaktor der „Basler Nachrichten“, hat ihr in der erwähnten Flüchtlingsdebatte 1942 auf alle Zeiten hinaus die unwiderrufliche Absage erteilt. Dem Diktum vom vollen Boot hielt er entgegen, dass es nicht angehe, sich der Not zu verweigern, nur weil sich irgendwann einmal das Boot vielleicht tatsächlich füllen könnte. Oeri fragte: Wollen wir wirklich auf Vorrat grausam sein? Dass der schweizerische Bundesrat heute nicht das Rückgrat hat, gegenüber dieser Frage Flagge zu zeigen, ist ein Armutszeugnis.

 

Die CVP ist derzeit damit befasst, mittels einer Basisbefragung von den Parteimitgliedern das Plazet einzuholen, das „C“ aus dem Parteinamen streichen zu dürfen. „Christlich“ sei nicht mehr zeitgemäss; man sieht sich lieber einfach wertneutral als „die Mitte“. Der Schreibende hat an dieser Stelle davor gewarnt: Das „C“ aus der CVP zu streichen wäre nicht einfach eine Namensänderung, sondern ein Signal, nämlich ein Abrücken von einer verpflichtenden Wertetradition hin zum Mainstream der Opportunitäten. Angesichts der Reaktion des Bundesrates auf das Drama der in den griechischen Lagern vor sich hinrottenden Menschen muss man aber wohl zur Feststellung kommen: Doch, doch, die CVP hat das schon richtig erkannt. Streicht das C. Es aufrecht zu erhalten wäre nichts als eine Lüge. Und alle anderen Parteien, die kein C in Namen haben, aber in ihren Parteiprogrammen auf die humanitäre Tradition pochen, sollten sich anschliessen. Entweder ihr hört auf mit diesen Lippenbekenntnissen, oder ihr tut etwas – etwas, was viele Schweizerinnen und Schweizer jetzt erwarten.


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