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Covid-19 – Distanzierung und Auswirkung

DMZ – WISSENSCHAFT / MEDIZIN ¦ Markus Golla ¦
KOMMENTAR

 

Beobachtet man die Covid-19 Maßnahmen der einzelnen Länder, ist es oft schwierig ein logisches System darin zu erkennen. Nehmen wir zum Beispiel Österreich: In den öffentlichen Verkehrsmitteln und Supermärkten soll man einen MNS-Masken tragen, im Elektrohandel und in der Gastronomie ist dies nicht notwendig. Hier stellt sich die Frage, ob Covid-19 neben einer Waschmaschine und einem LCT Fernseher weniger übertragbarer ist, als neben der Fleischtheke und dem Biogemüse.

 

Ist Social Distancing überhaupt sinnvoll und im Winter durchführbar, wenn die 1,5m Abstand nicht mehr ausreichen? Welchen Schaden haben die Menschen überhaupt, wenn man sie isoliert und steht all dies in Relation zum Ergebnis? Kein Wunder, wenn sich keiner mehr auskennt, da vor allem diese Regeln oft tagesabhängig sind. Dies erzeugt Unmut, Wut, Angst und verleitet die Bevölkerung natürlich lieber an Verschwörungstheorien zu glauben, denn hier bekommt man eine klare Antwort, zumindest auf den ersten Blick. Die Studienlage ist zu diesen Themen leider nur begrenzt ausgiebig. Für viele Ereignisse ist es einfach noch zu früh, diese wirklich bewerten und verallgemeinern zu können. Ein Grund sich das eine oder andere Thema anzusehen und auch hier ist es nur eine Momentaufnahme und ein Auszug der Studien, die hierzu gewählt worden sind.

 

Aus welchem Grund sollen wir laut unserer Politik Abstand halten?

Prem et al. (2020) publizierte im Mai seine Ergebnisse im Lancet Magazin über den Nutzen der „Einschränkungen der sozialen Kontakte“. Hierbei wurde ein Kontaktmuster erstellt, welches Verlauf der Verbreitung, Schulschließungen, erweiterte Arbeitsplatzschließungen und eine Verringerung der sozialen Kontakte bewertete. Die Forschenden kamen zu der Einschätzung, dass ein zu frühes Aufheben von Interventionen zu einem zweiten Höhepunkt führen würde, wenn dies nicht schrittweise geschieht. Ein ähnliches Ergebnis präsentierte das Imperial College aus England. Es folgte die Einschätzung der des amerikanischen Magazins Health Affairs:

Durch die Einführung staatlicher Maßnahmen zur sozialen Distanzierung wurde die tägliche Wachstumsrate bestätigter COVID-19-Fälle nach ein bis fünf Tagen um 5,4 Prozentpunkte gesenkt. Nach sechzehn bis 20 Tagen konnte die Rate sogar um 9,1 Prozent verringert werden.

 

Einen Monat später konnte man dann im Fachmagazin Nature lesen: Soziale Distanzierung und Isolation wurden weit verbreitet eingeführt, um der COVID-19-Pandemie entgegenzuwirken. Die nachteiligen sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Folgen einer vollständigen oder nahezu vollständigen Sperrung erfordern die Entwicklung moderaterer Strategien zur Kontaktreduzierung. Mit einem Ansatz für soziale Netzwerke bewerteten die Forscher die Wirksamkeit von drei Distanzierungsstrategien, mit denen die Kurve flach gehalten und die Einhaltung in einer Welt nach dem Sperren unterstützt werden soll. Dies sind: Beschränkung der Interaktion auf einige wiederholte Kontakte, die der Bildung sozialer Blasen ähneln; Suche nach Ähnlichkeit zwischen Kontakten; und Stärkung der Gemeinschaften durch triadische Strategien. Das Forschungsteam simulierte stochastische Infektionskurven, die Kernelemente aus Infektionsmodellen, Modelle sozialer Netzwerke vom Idealtyp und statistischen relationalen Ereignismodelle enthielten.

Eine strategische Reduzierung des Kontakts auf der Basis sozialer Netzwerke, die die Wirksamkeit sozialer Distanzierungsmaßnahmen erheblich verbessert und gleichzeitig die Risiken niedrig hält, wird aufgezeigt. Dies liefert wissenschaftliche Belege für eine wirksame soziale Distanzierung, die im Bereich der öffentlichen Gesundheitsnachrichten angewendet werden und die negativen Folgen der sozialen Isolation abschwächen kann.

 

Ob ein Lockdown wirklich eine Verbesserung in der Verbreitungsrate herbeiführt, versuchten die Forscher um Nazrul Islam (2020) herauszufinden. Sie analysierten die Daten von über 140 Ländern. Die Interventionen zur physischen Distanzierung waren weltweit mit einer Verringerung der Inzidenz von Covid-19 verbunden. Die Inzidenz war hierbei um 13% verringert. Seine Ergebnisse wurden von der US National Libary of Medicine/National Institute of Health veröffentlicht. Ob eine Quarantäne allein ausreichend ist, wurde von Nussbaumer-Streit et al. begutachtet und bei Chochrane veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigten durchwegs, dass Quarantäne wichtig ist, um Inzidenz und Mortalität während der COVID-19-Pandemie zu verringern. Die frühzeitige Umsetzung der Quarantäne und die Kombination der Quarantäne mit anderen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit war wichtig, um die Wirksamkeit sicherzustellen. Um ein bestmögliches Gleichgewicht der Maßnahmen zu gewährleisten, mussten die Entscheidungsträger die Ausbruchsituation und die Auswirkungen der durchgeführten Maßnahmen ständig überwachen. Tests in repräsentativen Proben in verschiedenen Umgebungen könnten dazu beitragen, die tatsächliche Prävalenz von Infektionen zu beurteilen, und würden die Unsicherheit der Modellannahmen verringern.

 

Was sollten Entscheidungsträger bei ihren Maßnahmen bedenken?

Ein kritischer Faktor dafür, wie gut Regierungen und andere Behörden (z. B. Polizei, Gesundheitspersonal, Arbeitgeber) mit der Lockerung / dem Festigen von Vorschriften umgehen, ist ihr Verhältnis von gegenseitigem Vertrauen und Respekt zu allen Bevölkerungsgruppen im eigenen Land (Bradford et al., 2020; De Cremer & Blader, 2006). In Zukunft wird das, was als moralisch oder normativ angesehen wird, sehr dynamisch und kontextbezogen sein. Behörden und Einzelpersonen müssen sicherstellen, dass ihre Konstruktionen, die normativ und moralisch mit den gelebten Erfahrungen der Menschen und ihren anderen Identitätspositionen übereinstimmen. Um unbeabsichtigte Konsequenzen für die Lockerung sozialer Distanzierungsmaßnahmen zu vermeiden, sollten Einzelpersonen, Gemeinschaften und politische Entscheidungsträger vermeiden, andere als „moralisch“ oder „unmoralisch“ zu bezeichnen. Stattdessen sollten wir dynamische Normverhandlungen unterstützen und die Menschen befähigen, angesichts potenzieller sozialer Interaktions- und persönlicher Schwierigkeiten sicher Praktiken anzuwenden, die die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer selbst und ihrer Gesellschaft schützen (Prosser et al., 2020).

 

Distanzierung und die Schattenseite

Gerade bei Jugendlichen und Familien führte der Lockdown zu Komplikationen. Es kam während dieser Phase zu vermehrten psychiatrischen Störungen wie posttraumatischem Stress und Angststörungen sowie zu depressiven und trauerspezifischen Symptomen. Das Ausgangsverbot führte zusätzlich zu einer Zunahme der Gewalt innerhalb der Familie. Der Zusammenhang zwischen Ausgangssperre und den Folgen einer übermäßigen Nutzung des Internets und der sozialen Medien muss nun untersucht werden. Die individuelle, familiäre und soziale Verwundbarkeit von Jugendlichen sowie die individuellen und familiären Bewältigungsfähigkeiten sind Faktoren, die mit der psychischen Gesundheit von Jugendlichen in Krisenzeiten zusammenhängen. Bei Guessoum et al. publizierte diese Ergebnisse bei Science Direct (Elsevier).

 

Eine neue Studie aus England (Elsevier-Science Direct) untersuchte mit über 15.000 Befragungen, wie es den Leuten in der Einsamkeit der Isolation ging. Die Ergebnisse zeigen, dass 29,2% der Befragten allgemeine psychiatrische Störungen aufwiesen und sich 35,86% einsam fühlten. Frauen und Jugendliche zeigten hierbei ein größeres Risiko für allgemeine psychiatrische Störungen und Einsamkeit, während Arbeit und das Zusammenleben mit einem Partner Schutzfaktoren darstellten. Die Studie zeigte besonders auf, dass es durch soziale Ungleichheit zu unterschiedlichen Ergebnissen kam.

 

Dies bestätigt auch eine Studie der Professur für Global Health der Hochschule in München. Rund 3 Prozent der Frauen in Deutschland wurden in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer körperlicher Gewalt, 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft. Fast 5 Prozent der Partner regulierten die Kontakte der Frauen. Anschreien, beschimpfen, grob anfassen, vernachlässigen – Gewalt hat viele Gesichter. Und sie kommt häufiger vor als gedacht. „Die Weltgesundheitsorganisation, kurz WHO, geht davon aus, dass etwa jeder sechste Mensch ab 60 Jahren im vergangenen Jahr irgendeine Form von Gewalt in der Gemeinde erlebt hat“ In der aktuellen Situation der Corona-Pandemie spitze sich das Problem nochmal zu, wie Rückmeldungen von Experten und aus der Praxis zeigen.

 

Zu guter Letzt möchten wir auf die gestiegene Suizidrate durch den Lockdown hinweisen. Leo Sher beschrieb im international Journal of Medicine, dass es tiefweisende Hinweise im Lockdown gab, dass die Zeit tiefgreifend psychologische und soziale Auswirkungen hatte. Diese psychischen Folgen der Pandemie werden laut Autor wahrscheinlich Monate und Jahre anhalten.

Weitere Studien zeigen, dass die COVID-19-Pandemie in der Allgemeinbevölkerung und bei Angehörigen der Gesundheitsberufe mit Leiden, Angstzuständen, Angst vor Ansteckung, Depressionen und Schlaflosigkeit verbunden war.

Soziale Isolation, Angstzustände, chronischer Stress und wirtschaftliche Schwierigkeiten führten zur Entwicklung oder Verschärfung von Depressionen, Panik, Substanzkonsum und anderen psychiatrischen Störungen in schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen, einschließlich bei Personen mit bereits bestehenden psychiatrischen Störungen und Personen mit Wohnsitz in Gebieten mit hoher COVID-19-Prävalenz.

Stressbedingte psychiatrische Zustände, einschließlich Stimmungs- und Substanzstörungen, waren mit Selbstmordverhalten verbunden. COVID-19-Überlebende haben möglicherweise auch ein erhöhtes Suizidrisiko. Die COVID-19-Krise könnte die Selbstmordrate während und nach der Pandemie erhöhen. Die psychischen Folgen der COVID-19-Krise, einschließlich des Selbstmordverhaltens, sind wahrscheinlich lange vorhanden und erreichen ihren Höhepunkt später als die eigentliche Pandemie. Um Selbstmorde während der COVID-19-Krise zu reduzieren, ist es unerlässlich, Stress, Ängste und Einsamkeit in der allgemeinen Bevölkerung zu verringern. Es sollte traditionelle und Social-Media-Kampagnen geben, um die psychische Gesundheit zu fördern und Stress abzubauen. Insbesondere für Menschen mit psychiatrischen Störungen in ihrer Vorgeschichte, COVID-19-Überlebende und ältere Erwachsene ist eine aktive Kontaktaufnahme erforderlich. Es sind Forschungsstudien erforderlich, wie die Folgen für die psychische Gesundheit während und nach der COVID-19-Pandemie gemindert werden können.

"Derzeit ist es noch nicht möglich, endgültig abzuschätzen, ob durch unbeeinflusste rasche Ausbreitung des Virus oder durch ein Hinauszögern der Ausbreitung und eine dadurch bedingte Verlängerung des gesamten Pandemiezeitraums der größere Schaden angerichtet wird, der dann auch wieder indirekte Auswirkungen auf Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung haben kann. Die Diskussion um den vertretbaren Preis eines Lebensjahres ist ethisch problematisch.“ schreibt das deutsche Netzwerk für evidenzbasierte Medizin abschließend in einem Bericht.

 

Ganzheitlich betrachtet ist die globale Situation der Pandemie als ethisches Dilemma anzusehen. All diese Informationen abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, was nun das geringere Übel ist, bringt mit Sicherheit jede/n Politiker*in an ihre/seine Grenzen. Es braucht feinfühlige Entscheidungen, um die Gesellschaft nicht an die Wand zu fahren, aber auch konsequente Maßnahmen, um Schäden zu begrenzen. Wer will schon die Person sein, die entweder viele Menschenleben auf dem Gewissen hat oder viele Existenzen zerstört hat, weil Maßnahmen zu extrem gestaltet waren.

 

Dies ist der erste Teil einer Artikelserie zu „Maßnahmen Covid-19“.


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