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Ungarns kranke Demokratie

DMZ – INTERNATIONAL ¦ Zoltán Kovács ¦

 

Vor einigen Wochen erklärte Vera Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission, in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehens CT24, dass bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie Ungarn bis dato kein Gesetz verabschiedet hätte, das mit dem europäischen Recht nicht vereinbar wäre. „Vorläufig mache ich mir keine Sorgen“ sagte sie.

 

Sie betonte, dass in Zusammenhang mit der Pandemie die Kommission in jedem Mitgliedstaat prüft, ob die dort beschlossenen Maßnahmen den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen. Judit Varga, Justizministerin in der Orbán-Regierung, reagierte darauf in Facebook: „Jourová könnte ihre Meinung auch Donald Tusk, dem Präsidenten der EVP und seinen Kollegen mitteilen. Man darf erwarten, dass diejenigen, die an der Einhaltung der rechtsstaatlichen Normen in Ungarn zweifeln, ihre irreführende Kampagne, wonach das ungarische Gesetz gegen Corona den Weg in die Diktatur ebnen würde, einstellen!“

Jourová hatte also das gesagt, was Orbán hören wollte.

 

Ein Monat ging ins Land und Jourová sagte der Frankfurter Allgemeinen in Bezug auf Ungarn, dass, auch wenn die Pandemie in der Tat besondere gesetzliche Regelungen erfordere, dürfen diese nicht ohne ein festes Gültigkeitsdatum erfolgen.

 

Damit begann Jourovás Spießrutenlauf vor der Orbán-Regierung:

Auf ihrer Facebook-Seite hat die ungarische Justizministerin darauf reagiert: „Einige Wochen lang hatte man das Gefühl, Jourová behandelt die ungarischen Rechtsnormen unbefangen. Nun aber scheint es, als könnten die Liberalen das nicht ertragen.“

Für die Frankfurter Allgemeine erklärte Judit Varga: „Jourová entschuldigt sich für ihre frühere Meinung und droht mit dem Entzug von EU-Geldern.“

Was Judit Varga wohl gelesen hat? Die Vizepräsidentin der Kommission hat sich nämlich nicht entschuldigt. Sie drohte auch nicht, als sie die weit verbreitete Auffassung bekräftigte, dass EU-Gelder an die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden sollten.

Das dahinterstehende Muster ist simpel. Behauptet ein Politiker Positives über die ungarische Regierung, wird er im Nu als ein kompetenter Betrachter der ungarischen Politik bezeichnet. Übt er jedoch Kritik, wird er als geistiger Tiefflieger und als Marionette der Liberalen verunglimpft.

Natürlich ist die Welt komplizierter, doch Politiker haben es um einiges leichter, wenn sie alles vereinfachen können.

 

Unlängst hat Jourová im Spiegel Ungarn als kranke Demokratie bezeichnet und gesagt, dass die ungarischen Bürger der EU nicht in der Lage seien, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Jourovás Spießrutenlaufen vor der Regierung Ungarns wurde dadurch noch schlimmer. Als erste meldete sich wieder die Justizministerin zu Wort. Sie betonte, die Vizepräsidentin der EU-Kommission hätte damit „alle Ungarn“ beleidigt. Das kann mindestens auf die Hälfte der Ungarn nicht zutreffen.

 

Tatsächlich ist ein Großteil der Ungarn mangels unabhängiger Medien nicht in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es soll ihnen nämlich nicht bewusstwerden, wie mächtig das Ungeheuer Korruption ist, das über ihr Land herrscht. Sie sollen auch nicht wissen, mit welchen Methoden in ihrem Land die Medien gleichgeschaltet werden. Und die Bevölkerung soll schon gar nicht wissen, welches Vermögen die Mitglieder der Regierung und ihr Dunstkreis sich zulegen, meistens auf Kosten der Steuerzahler.

 

Unterdessen vegetiert ein wesentlicher Teil der Ungarn dahin, nur weil der Regierungschef nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, nachzuvollziehen, wie es ihnen ergeht und auch gar kein Talent hat, damit etwas anzufangen.

 

Viktor Orbán hat in einem Schreiben an Kommissionspräsidentin Von der Leyen die Entlassung von Kommissarin Jourová gefordert. Darin führt er u.a. aus, dass die Aussagen von Frau Jourová mit dem Vertrag von Lissabon nicht vereinbar wären. „Bis das nicht geschieht -schreibt Orbán – wird die ungarische Regierung die Zusammenarbeit mit Vera Jourová einstellen“.

Somit tritt jetzt der ungarische Premier auf die Bühne und versetzt sich auch gleich in Gefechtsbereitschaft. Warum das Lob der Kommissarin vor einigen Wochen im tschechischen Fernsehen mit dem Vertrag von Lissabon dagegen vereinbar war, bleibt hingegen ungeklärt.

Orbáns Bemerkungen deuten in letzter Zeit darauf hin, dass es ihm egal ist, wie man auf solche Unverschämtheiten reagiert oder ob man ihm dafür die Tür weist. Er hat Freunde drinnen und draußen...

Jourová hat bezüglich der ungarischen Freiheitsrechte mit „kranker Demokratie“ nichts anderes gemeint, was auch die Venedig-Kommission mehrmals - so wie die Berichte von Tavares (2013) oder Sargentini (2018) - betont hatten.

Warum sollte Orbán dann überrascht gewesen sein? 


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