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Wie tödlich ist das Coronavirus wirklich? Dr. John Ioannidis liefert erneut unsaubere Studie

DMZ – WISSENSCHAFT / MEDIZIN ¦ Walter Fürst ¦ David Aebischer ¦

 

Eine Metastudie von Dr. John Ioannidis (Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data) sorgt für Aufsehen. Der umstrittene Epidemiologe von der Universität Stanford schreibt, die Sterblichkeit des Coronavirus sei tiefer als bisher angenommen. Die Ergebnisse seiner Studie, bei der Antikörpertests bei 3300 Personen im US-Bundesstaat Kalifornien durchgeführt wurden, führten zu vielen Schlagzeilen wie “Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe?”. Doch da irrt der Herr erneut (oder trickst bewusst) und ist weit weg von der Wahrheit. Denn die Studie ist unsauber, aber beweist selbst dann, dass Covid-19 definitiv tödlicher ist als die Grippe. Denn hier werden Äpfel mit Birnen verglichen, etwas, das unter Experten und Statistikern für Kopfschütteln sorgt.

 

Auf Basis der Auswertung offizieller Mortalitäts-Daten verschiedener Länder schlussfolgerte er schon früh, dass die Wahrschein­lichkeit, an COVID-19 zu sterben, für die meisten Menschen etwa so niedrig sei, wie morgens auf dem Weg zur Arbeit tödlich zu verunglücken. Kein Wunder, dass Ioannidis in kürzester Zeit zum wissen­schaftlichen Kronzeugen für eine Lockerung oder gar Aufhebung der SARS-CoV-2-Eindämmungs­massnahmen wurde. Gemeinsam mit Kollegen von der Stanford University fand er dann in einer serologischen Studie, dass im kalifornischen Santa Clara County wohl mehr als fünfzigmal mehr Personen vom Virus infiziert wären als offiziell mittels PCR bestätigt.

 

Nicht unabhängig

Begierig wurden die Ergebnisse beider Studien von den konservativen Medien in den USA aufgegriffen, und er selbst wurde zum begehrten Interviewpartner – insbesondere in Medien wie Donald Trumps „Haussender“ Fox News Channel. Hier in Deutschland fand er vor allem in dem emeritierten Mainzer Infektiologen Sucharit Bhakdi einen neuen Anhänger. Zeitgleich gerieten aber beide als Preprint veröffentlichten Studien in den sozialen Medien zunehmend ins Sperrfeuer der wissen­schaftlichen Methodenkritik. Nebenbei stellte sich dann auch noch heraus, dass einer der Geldgeber der Studie David Neeleman war, der Gründer der Fluggesellschaft JetBlue – ohne dass dies im Preprint offengelegt wurde. Und dass der Besitzer einer Airline ein massives Interesse an der Lockerung von Reisebeschränkungen hat, ist wohl logisch.

 

Qualitäts­kriterien der Studie genügen nicht

Auch diejenigen, die John Ioannidis als den unangefochtenen Herrscher wissen­schaftlicher Korrektheit betrachten, reagierten spätestens jetzt schockiert. Nicht so sehr wegen seiner Verein­nahmung durch reaktionäre Medien – schliesslich werden richtige Argumente nicht dadurch falsch, dass man sie gegenüber Obskuranten äussert oder diese von ihnen zitiert werden. Auch nicht, weil Ioannidis sich mit seinen Aussagen gegen den wissen­schaftlichen und politischen Mainstream stellte – dies war letztlich schon immer sein Markenzeichen. Nein, der Shitstorm, der sich zum „Fall Ioannidis“ ausweitete, entzündete sich an den methodischen Schwächen, die in der Summe Ioannidis‘ Argumente für eine Fehlein­schätzung der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 in Frage stellen. Der Vorwurf an ihn lautete also, dass er Studien mitverfasst und sich mit Ergebnissen prominent in die öffentliche Diskussion eingemischt habe, die den von ihm selbst gepredigten Qualitäts­kriterien nicht genügen. So hat Ioannidis nun wohl selbst den ultimativen Beweis für die Richtigkeit seines berühmtesten Artikels aus dem Jahr 2005 geliefert, dessen Titel damals lautete: „Why most published research findings are false“! So verhält es sich ebenfalls mit der neusten Studie. 

 

Neue Studie - ist nicht weniger kritisch zu sehen

In dieser Metastudie, welche die WHO vor wenigen Tagen in ihrem Bulletin veröffentlicht hat, kommt Ioannidis zum Schluss, dass gerade mal eine von 2000 gesunden Personen, die jünger als 70 ist, wegen Covid-19 ums Leben kommt. Die Sterblichkeit liege über alle Altersgruppen gesehen im Median bei 0,27 Prozent. Das heisst bei 50 Prozent der Studien lag die Mortalität bei weniger als 0,27 Prozent, bei 50 Prozent darüber. Immerhin hat er bemerkt, dass die Sterblichkeit von Covid-19 von Ort zu Ort stark variiert und die Altersstruktur der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt. Mehr als doppelt so hoch schätzt momentan die WHO die Sterblichkeit des Coronavirus ein, sie geht von einer IFR von 0,6 Prozent aus, welche im Alter aber deutlich ansteigt.

 

Also ist auch die Kritik an seiner neusten Studie berechtigt. Zunächst ist es schwierig, überhaupt eine Sterblichkeitsrate aufgrund von Antikörpern zu ermitteln. Expertinnen und Experten mahnen zur Vorsicht zu Studien mit Antikörpern, da sich diese in den Wochen und Monaten nach einer Infektion wieder abbauen können. Es gibt zudem Studien, wonach Patienten mit einem milden Verlauf kaum oder keine Antikörper aufweisen.

 

Der Epidemiologe, Gideon Meyerowitz-Katz kritisiert die Publikation von Ionaidis gleich mehrfach. Meyerowitz-Katz sagt unter anderem, dass Ionnaidis seine Studie falsch zitiert habe und auch sonst gebe es "klare Fehler mit den Zahlen". Er liefert konkrete Beispiele: An einem Ort schrieb Ionnaidis 44 statt 47 Prozent, an einem anderen Ort rechnete er fälschlicherweise mit 0,6 anstatt mit 3,9 Prozent. Zudem seien viele Studien aus Ländern berücksichtigt worden, wo ziemlich sicher nicht alle Covid-Todesfälle registriert worden seien. Etwa in Indien. Christian Drosten meint, die wirkliche Anzahl der Infizierten liege deshalb eher “irgendwo in einem Bereich von 2 Prozent oder 3 Prozent”. Und letztlich zeigt die beobachtete Übersterblichkeit in hart getroffenen Regionen, dass es offensichtlicher tödlicher als die Grippe sein muss.

 

Grundlegender Fehler in der Studie und ein grundlegender epidemiologischer Fehler

Der mit Abstand grösste Fehler der Studie sei aber, dass Ionnaidis mit "eindeutig ungeeignete Stichproben" gearbeitet habe, so Meyerowitz-Katz. Forscher haben eine Übersterblichkeit durch COVID-19 in 21 industrialisierten Ländern errechnet. Danach sind dort vermutlich 206.000 Menschen mehr gestorben, als es wahrscheinlich Tote ohne die SARS-CoV-2-Pandemie gegeben hätte, so die britischen Forscher. In ihrer Untersuchung berücksichtigten die Forscher Länder mit mehr als vier Millionen Einwohner im Jahr 2020 und die wöchentlich Daten zur Mortalität aus jeglichen Gründen bereitstellen – aufgeschlüsselt nach Alter und Geschlecht. Als Untersuchungszeitraum wählten sie 2015 bis Ende Mai 2020. Deutschland wurde nicht berücksichtigt. Die Exzessmortalität seit Februar 2020 errechneten die Wissenschaftler anhand des Vergleichs mit den gemittelten Sterbefällen in den Vorjahreszeiträumen. Diese verteilt sich offenbar in etwa gleich auf beide Geschlechter. England, Wales und Spanien hatten anscheinend die größte Übersterblichkeit mit zusätzlich 100 Todesfällen je 100.000 Einwohner. Das wäre in etwa ein Anstieg um relativ 37 Prozent. In Spanien betrüge der Anstieg der Todesfälle demnach relativ 38 Prozent. Den niedrigsten relativen Anstieg gab es der Untersuchung zufolge bei den Männern in Österreich (14,3 Tote mehr pro 100.000 Einwohner), der Schweiz (21,9) und Portugal (27,4 bei den Männern, 28,7 bei den Frauen) (Nat Med 2020; online 14. Oktober).

 

 

Quellen:

  • https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf
  • https://www.euro.who.int/de/data-and-evidence/archive/mortality-database-updated
  • https://www.thelancet.com/journals/lanres/article/PIIS2213-2600(20)30404-5/fulltext#%20
  • https://www.nature.com/articles/s41591-020-1112-0
  • https://twitter.com/ChristoPhraser/status/1233738443756384259?s=20
  • https://www.economist.com/graphic-detail/2020/04/16/tracking-covid-19-excess-deaths-across-countries

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