· 

Covid-19 - Alle streiten über Zahlen und fast keiner sieht hin, worum es geht

DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Dirk Specht ¦

KOMMENTAR

 

Das ganze Land streitet über Zahlen und fast keiner sieht hin, worum es geht. Talkshows und Medienartikel voller „Experten“, die oft tagelang in den Sozialen Medien von Menschen weiter gereicht werden, um ihre jeweilige Meinung zu stützen. Die Anzahl der Infizierten, die Anzahl der Sterbefälle, die Anzahl der freien Betten. Das alles ist so relevant wie die Anzahl der Bierdeckel in der Kneipe nebenan.

 

Das wird am besten deutlich, wenn man mit jemandem hier auf Facebook das Interview eines einschlägig beliebten Professors über die Krankenhausauslastung diskutiert, in dem von 400 Behandelten die Rede ist. Zum Zeitpunkt des Interviews waren es aber bereits 600, zum Zeitpunkt der Diskussion sind es 1.200 in der Datenbank, weshalb man davon ausgehen kann, dass es während ich das hier schreibe wohl so um die 1.350 tatsächlich bereits sind und wer das vielleicht morgen erst liest, sollte von 1.600 ausgehen.

 

Das sind dann also vier Mal mehr als in der zugrunde liegenden Diskussion, in der es darum ging, was das denn angesichts von 29.000 Betten bedeuten würde, für die nebenbei bemerkt gar kein ausreichendes Personal existiert. Wer jetzt immer noch sagt, selbst die ungefähr 1.600 sind doch weit weg von den 29.000, hat es nicht verstanden, denn der Abstand in der exponentiellen Welt ist eben keine Differenz von absoluten Zahlen, es ist die Zeit, die ein Prozess benötigt, um diese Differenz zu durchlaufen. So sind 29.000 abzüglich 1.600 zwar gewaltige 27.400, aber es ist leider nur 4,5 mal die Wiederholung des Wachstums zwischen dem Interview und dem Lesen dieses Artikels.

 

Wenn wir diese zähe Diskussion, die jetzt knapp 20 Tage dauert, also auf gut 80 Tage ausdehnen, sind die Betten voll. Da wir dann aber vor täglich nicht mehr 150 Neuaufnahmen wie heute, sondern von eher 700 sprechen, darf man zugleich darüber nachdenken, was man mit denen dann wohl machen soll, wenn unser „Grenzwert“ erreicht ist?

 

So schwer kann das doch nicht sein? Wir fahren ja auch nicht mit 200 km/h auf eine Betonmauer zu, um kurz vor dem Aufschlag zu bremsen??

 

Die einzig relevanten Zahlen für die Bewertung eines biologischen Vermehrungsprozesses sind die daraus resultierenden Wachstumsraten, die die Geschwindigkeit des Prozesses zum Ausdruck bringen. Damit kann man den zweiten relevanten Faktor exponentieller Prozesse bestimmen: Die Zeit, die es braucht, um kritische Größen an Zahlen, wie sie diskutiert werden, zu erreichen.

Wer also über die berühmten 20.000 spricht, muss zugleich auch bestimmen, wie schnell wir uns darauf zu bewegen, wie lange es dauert, bis wir da sind und was wir tun können/sollen, um bei Erreichung der fraglichen Zahl den Prozess zu stoppen. Wer das nicht alles zugleich sagt, sagt genau genommen gar nichts!

 

Ein exponentieller Prozess kennt nur zwei Bewertungsgrößen: Wachstum und Zeit. Es ist ein Geschwindigkeit- und Zeitkontinuum. Das macht jeder von uns, wenn er mit dem Auto fährt – so einfach ist das! Dabei sollte man zudem zur Kenntnis nehmen, dass das Autofahren, also Beschleunigung und Bremsen versus Weg, nur polynomial ist, nicht mal exponentiell. In Sprache ausgedrückt: Beim Autofahren ist die Entwicklung über die Zeit bedeutend langsamer, bei Covid-19 ist mit Gas und Bremse also nochmals wesentlich behutsamer vorzugehen.

Wer das nicht berücksichtigt, macht nichts anderes als lediglich zwei möglichen Strategien das Wort zu reden: Strategie eins lautet, man lasse das Virus ohne Einschränkungen munter auf eine Grenze laufen, bis wir dann mit Lockdown reagieren. Das ist ungefähr so intelligent wie die Bremsstrategie bei der Mauer. Strategie zwei lautet, wir tun gar nichts, der Grenzwert ist nur für die Diskussion relevant und wenn er da ist, diskutieren wir den nächsten, denn ohne Diskussion geht es ja nicht.

 

Wenn wir diese Diskutanten also beobachten, sollten wir uns klar machen, dass es sich hier entweder um Leute handelt, die es tatsächlich nicht verstehen oder um solche, für die es tatsächlich gar keine Grenzwerte gibt.

 

Zudem sollte jeder von uns sich die Frage stellen: Wo stehe ich? Verstehe ich es nicht oder will ich eigentlich gar keine Grenze, weil ich mich nicht einschränken möchte.

Wenn ich meine persönlichen Diskussionen hier bewerte, habe ich oft den Eindruck, dass die Quote derjenigen, denen es schlicht an mathematischem Verständnis fehlt, so einen Prozess einordnen zu können, sogar kleiner ist, als die der zweiten, die tatsächlich – ob bewusst oder unbewusst – keine persönlichen Einschränkungen wünschen und denen entsprechend die diskutierten Grenzwerte sogar egal sind.

So auch bei der oben genannten Diskussion über die Bettenzahl, die sich dann wie so oft in der Frage erschöpfte, ob die Zahlen denn überhaut stimmten. Das sind die unglaubwürdigsten Diskussionen überhaupt, bei denen jemand mit Zahlen beginnt und dann, wenn sie ihm nicht mehr passen, die Zahlen anzweifelt. Da weiß man dann schon, wo man den betreffenden einzuordnen hat!

 

Ein Wort zu den Betten: Die Diskussion ist widerlich. Ich habe noch nie eine Gesellschaft erlebt, die sich daran ergötzt, die Zahl ihrer Intubierten zu „optimieren“. Das ist eine elende Qual, an der immer noch ein Drittel verstirbt. Es ist nur die Spitze des Eisbergs, da hinter jedem Verstorbenen bis zu zehn lange oder dauerhaft Geschädigte und mindestens nochmals zehn länger schwer Erkrankte stehen. Die Betten stehen zudem auch Herzkranken, Menschen nach schweren OPs, Unfallopfern etc. zu. Die Betten werden auch nicht von fröhlichem Personal unter einfachen Bedingungen betreut. Rund um diese „Grenzwerte“ gibt es dermaßen viel Leid, Elend und Mühen, dass wir hier sehr schnell von siebenstelligen Opfern sprechen und zwar nur dann, wenn die Betten ausreichen.

Mir reicht es daher mit der Diskussion. Es war ein politischer Fehler, die „Kapazitäten des Gesundheitssystems“ überhaupt ins Spiel zu bringen. Bei einer Epidemie mit einem neuen Erreger und einer einzigartigen Ausbreitungsgeschwindigkeit, gegen die es kaum medizinischen Schutz gibt, ist das Gesundheitssystem nicht mehr als das Entsorgungssystem gesellschaftlichen Scheiterns!

 

Wer nun wieder mit „aber die Wirtschaft“ kommt, dem sei gesagt, dass es „der Wirtschaft“ nicht wirklich gut bekommt, wenn die Intubationen im örtlichen Krankenhaus „optimiert“ laufen. Je mehr das entgleitet, desto schlimmer wird es übrigens für „die Wirtschaft“, denn die leidet erst recht, wenn die Menschen anfangen, nicht mehr an ihre Zukunft zu glauben, Ausgaben zurück zu stellen, keine langfristigen Wirtschaftsgüter mehr kaufen, Unternehmen Investitionen kürzen, Lieferketten brechen, internationaler Handel leidet, Vertrauen und Verlässlichkeit verloren gehen. Wer mir dann so gerne entgegnet, man müsse das Virus ohnehin durchlaufen lassen, es sei ja nicht zu stoppen, dem kann ich nur sagen: Hoffentlich hat die Mehrheit nicht diese Meinung, denn dann ist „die Wirtschaft“ aber ganz und gar im Eimer.

 

Dass es nicht so ist, dass man mit dem Virus sehr gut leben kann, dass viel mehr Wirtschaft geht, umso besser man das Virus eindämmt, sehen wir in Asien. Die haben nämlich verstanden, dass es zwischen Gesundheit und Wirtschaft keinen Widerspruch gibt, dass man sehr wohl und zum Wohle von beidem mit dem Virus leben kann, bis es – was dort bereits beginnt – durch medizinische Optionen im Griff ist.

 

Gerne gesehen ist auch die Keule der „Panikmache“. Wer Angst nicht von Ratio unterscheiden kann und Panik mit Empathie verwechselt, der sollte wissen: Diese Pandemie benötigt Menschen mit Herz und Verstand, dazwischen gibt es keinerlei Widerspruch. Weder brauchen wir die „Politik der Härte“, um die Schäden zu minimieren, noch ist die ethisch richtige, die ökonomisch teurere. Wer Durchseuchungs- oder „laufen lassen“ Strategien das Wort redet, hat an mindestens einem der genannten Organe ein Defizit.

Damit zu den Zahlen. Wie immer legt Covid-19 am Wochenende möglicherweise Sonderschichten ein, während unser Meldewesen Pause hat, deren Nacharbeitung bis Mittwoch dauert. Daher werden wir erst in einigen Tagen sehen, ob das, was sich in den Daten heute abzeichnet, gerade passiert, also nota bene am Mittwoch bereits Geschichte sein wird: Nämlich eine Beschleunigung der Epidemie!

 

Derzeit liegen die Infiziertendaten (Chart 1) zwar noch im – bereits zu schnellen – Trend einer Verdopplung alle 10 Tage. Die testpositive Quote steigt aber, die CFR (Chart 2) sinkt weiter und die Krankenhausbelegung (Chart 3) galoppiert („Ketchup-Effekt“). Schlecht ist zudem der Ausschlag des sehr trägen YYG-Models (Chart 4). Das sind Indikatoren für zwei Effekte, die wir nicht brauchen: Die Epidemie neigt weiter dazu, eher noch schneller zu werden und sie verjüngt sich immer noch, was bedeutet, dass sie sich zeitlich verlängert und alle Maßnahmen noch mehr Zeit brauchen, bis sie wirken.

 

Im Ergebnis heißt das: Der bereits zu schnelle Trend neigt zur Beschleunigung. Die Welle, die sich aufbaut, wird immer schwerer eindämmbar. Inakzeptable Situationen in den Krankenhäusern rücken bereits für Dezember in die weitere Projektion. Einziger Hoffnungswert sind die Bewegungsdaten (Chart 5), die signalisieren, dass die Gesellschaft auf die veränderte Nachrichtenlage bereits reagiert.

 

Diese Reaktion muss stärker werden und sie muss in spätestens 10 Tagen in den Daten Wirkung zeigen, sonst kann nur noch der Staat reagieren. Wenn nichts oder zu wenig passiert, werden viele Großeltern (und nicht nur die!) Weihnachten an der Intubation verbringen und jede einigermaßen verantwortliche Familie wird sie alleine feiern lassen. Jede!

 

Wollen wir das? 


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Rolf Raess (Donnerstag, 29 Oktober 2020 10:30)

    Soweit so gut… aber ihre Verantwortlichen Zeitungsmacher können nicht einmal eine Grafik hinstellen, die man ohne Lupe lesen kann. Oder wenigsten mit einem Doppelklick vergrössern könnte. Steilen Sie bitte bessere IT-Fachleute an, die auch an Andere denken können.

  • #2

    Anton Rüegger (Mittwoch, 18 November 2020 22:20)

    Sehr treffender Kommentar. Kompliment dem Schreiber.