· 

Coronapandemie - Was wir uns leisten können

DMZ – GESUNDHEIT / POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Am vergangenen Mittwoch hat der Bundesrat die längst erwarteten weiteren Corona-Massnahmen öffentlich gemacht. Ergebnis: Mit Ausnahme der Gastronomie- und der Unterhaltungs-Branche konnte er dafür von Seiten der Wirtschaft ungeteiltes Lob ernten. Leider ist das keine gute Nachricht; es ist ein Alarmzeichen. Es bedeutet, dass sich der Bundesrat in einem Moment, wo die Notwendigkeit einschneidender Massnahmen mit Händen zu greifen ist, im Dilemma zwischen Gesundheitspolitik und Wirtschaft für letztere entscheidet. Können wir uns dieses zögerliche Verhalten jetzt noch leisten?

 

Gleichentags gab die deutsche Bundesregierung nach einer Sitzung der Kanzlerin mit den Minister-präsidenten und -präsidentinnen der Länder ein Beispiel von Krisenmanagement, ein Lehrstück in Sachen Klarheit und Entschlossenheit. Obwohl die Fallzahlen – auf die Bevölkerungszahl umgerechnet – etwa einen Sechstel derjenigen der Schweiz betragen, obwohl man noch eine Karenz von 30 Tagen hat, bis mit einer vollständigen Auslastung der Intensivpflegemöglichkeiten gerechnet werden muss (in der Schweiz verbleiben gerade noch 10 Tage…), machte Frau Merkel mit ihren Ländervorsitzenden Nägel mit Köpfen. Die Vorgaben lauteten: Bei Schonung von Wirtschaft und Bildung müssen 75 Prozent aller sozialen Kontakte heruntergefahren werden. Das geht nicht schmerzfrei, nicht ohne den Mut zu unpopulären Entscheidungen. Alles, was im weitesten Sinn die Freizeit betrifft, muss leiden. Dafür ist aber der zeitliche Horizont klar: vier Wochen. Deutschland will Weihnachten im Familienkreis feiern, mit Opa und Oma. Alle Epidemiologen sind sich einig, dass die Chancen dafür sehr gut stehen. Die Kanzlerin – durch ihr Studium der physikalischen Chemie mit der Unerbittlichkeit naturwissenschaftlicher Gesetze vertraut – geht den Weg des kleinen Lockdowns, um einen späteren ökonomischen und sozialen Super-GAU zu verhindern.

 

Welche Form des Weihnachtsfestes uns in der Schweiz erwartet, unterliegt dem Prinzip Hoffnung. Ungewiss, ob Opa und Oma dann noch leben. Solange in den Kantonen die Gewerbeverbände massgeblich die Agenda der Gesundheitspolitik bestimmen und solange der Gesundheitsminister mit den kantonalen Gesundheitsdirektoren alle möglichen Kompromisse eingeht, ist die Hoffnung gering. Wir können uns die radikalen Massnahmen – sprich: einen temporären Lockdown – nicht leisten, sagt unser Finanzminister, der sich gerne über die Maskenpflicht lustig macht und nicht weiss, wie man die Covid-App herunterlädt. Wie kommt er drauf? Die Nationalbank hat gestern ihre Quartalszahlen veröffentlicht: Von Januar bis September des laufenden Jahres hat sie 15,1 Milliarden Franken Gewinn erzielt; sie verfügt aktuell über eine Ausschüttungsreserve von 100 Milliarden. Gemäss den Zahlen der Crédit Suisse belegt die Schweiz auf der Liste der Volksvermögen mit einem Mittelwert von 565‘000 Dollar pro erwachsener Person den globalen Spitzenwert, deutlich vor Hongkong mit 489‘000 Dollar. Deutschland folgt auf Rang 21 mit 217‘000 Dollar.

 

Nun ist grundsätzlich gegen eine vorsichtige Finanzpolitik nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Es ist löblich, Verantwortung für nachrückende Generationen zu übernehmen und ihnen keine Schuldenberge anzulasten, die alle gestalterischen Spielräume zerstören. Dennoch: Ausgerechnet die reichste Nation der Welt soll sich keinen zweiten, prophylaktisch verordneten, terminlich begrenzten Lockdown leisten können – einen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Kollaps des Gesundheitssystems und eine gesellschaftliche Katastrophe vermeiden hülfe?

 

Die Vermutung liegt nahe, dass sich die schweizerische Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht an dem orientiert, was wir uns tatsächlich leisten können, sondern daran, was das offensichtlich einzig denkbare Finanzierungsmodell hergibt: die Besteuerung von Arbeit. In der Tat wollen wir nicht, dass sich unsere Kinder zu Tode schuften, damit die Alten die Corona-Krise um ein paar kurze Jahre überleben. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, der Uninspiriertheit unseres Finanzministers auf die Sprünge zu helfen. Sobald es um alternative Besteuerungsmodelle geht, ist ihm noch nie etwas anderes eingefallen, als sich schützend vor den status quo zu stellen. Digitalsteuer? Bloss nicht! Finanztransaktionssteuer? Behüte! Sofort würden die grossen Konzerne abwandern, und wo würden dann die Steuereinnahmen bleiben! Und die Arbeitsplätze! Erbschaftssteuer auf Supervermögen, die sich ohne Zutun der Realwirtschaft selbst vermehren? Um Gottes Willen! Die Plutokraten wären doch sofort weg, auf den Channel Islands, den Kayman Islands, den Bahamas, dort, wo eh ihre Jachten dümpeln.

 

Wie wenn wir den Grosskonzernen und den Superreichen nichts anderes zu bieten hätten als Steuerbegünstigungen. Aber statt darüber nachzudenken, beugen wir uns lieber ihren Abwanderungsdrohungen und besteuern weiterhin knochenhart unsere Arbeitseinkommen. Und die unserer Kinder. Und notfalls lassen wir Corona wüten. Das können wir uns offenbar leisten.


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0