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Demokratie in den USA – ein Missverständnis?

DMZ – INTERNATIONAL ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Das Trauerspiel um die Auszählung der abgegebenen Stimmen zur Ermittlung der nächsten Präsidentschaft der USA dauert an. Ginge es ums reine Prinzip der Addition, wäre die Sache längst klar: Joe Biden, Kandidat der Demokraten, totalisiert in den relevanten Staaten mehr Wahlmännerstimmen und würde Trumps Nachfolge antreten.

 

Unberechenbar sind dagegen dessen Ränkespiele wie die Forderung, die Auszählung der Briefwahlstimmen zu stoppen, die Begehren um Nachzählungen und die angedrohten Klagen einer Armada von Anwälten. Der letztgenannte Trick ist der gefährlichste. Trump erhofft sich, jetzt die Ernte seiner vierjährigen Bemühungen einzufahren, die Justizlandschaft der USA durch die Neubesetzung von Richterstellen umzugestalten. Dabei geht es keinesfalls nur um die drei obersten Richter, die er nach seinem Gusto neu besetzen konnte, sondern um nicht weniger als 400 (!) Richterämter auf allen Rechtsstufen des Landes.

Die Methode, durch personelle Neubestellung des Rechtswesens der Politik eine gewünschte Richtung zu geben, erfreut sich zunehmender Beliebtheit bei rechtspopulistischen Regierungen. Die Herren Orban (Ungarn), Duda und Kaczinsky (Polen), Netanjahu (Israel) oder Bolsonaro (Brasilien) frohlocken, damit die Demokratie austricksen zu können. Leider, muss man sagen, nicht zu unrecht. Es sind die aus dem Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus sattsam bekannten Schummeleien, auf pseudolegalem Weg die Macht zu stabilisieren.

 

Das ist also ungefähr die Gesellschaft, aus deren Mitte Trump jetzt grüsst. Die Frage lässt sich deshalb nicht verdrängen, wieviel Gehalt an Demokratie dem Staatswesen USA noch zukommt. Die Antwort lautet: so wenig wie immer. Denn das Missverständnis um die Demokratie in den USA ist nicht neu, im Gegenteil: Es besteht seit Anbeginn. Die amerikanische Version von Demokratie ist aus der Amerikanischen Revolution heraus geboren (so nennt man die Loslösung der ehemals britischen Kolonien in Nordamerika vom Mutterland 1776). Aber anders als die Französische Revolution von 1789 war die Amerikanische keine Revolution von unten, sondern eine von oben. Nicht das Volk hat sie aus sozialer Not gemacht, nicht das vom Licht der Aufklärung erhellte Bürgertum, sondern eine gesellschaftliche Elite, die genug davon hatte, von England durch allerlei willkürliche Steuern geschröpft zu werden. Das Credo der Französischen Revolution lautete: Gerechtigkeit durch Gleichheit! Jenes der Amerikanischen aber: Freiheit! Darunter verstand man, sich fortan von keiner Obrigkeit je wieder etwas vorschreiben lassen zu müssen. Während die Französische Revolution in ein (radikal misslungenes) sozialistisches Experiment mündete, wurde in der Amerikanischen die soziale Frage nie auch nur gestellt.

 

Die Verfassungsdiskussion in den USA nach dem Bestehen des Unabhängigkeitskriegs belegt die Andersartigkeit der politischen Mentalität im Vergleich zu Europa. Zwischen dem Ruf nach Gerechtigkeit und jenem nach Freiheit liegen Welten. In Europa begründete die Idee der Gerechtigkeit den Klassenkampf um die Teilhabe am Wohlstand; in Amerika entstand aus der Idee der Freiheit ein Katalog von Mythen, darunter der American Dream, der noch nie so illusionistisch war wie heute. Wurde in Frankreich in den ersten Wochen der Revolution eine universelle Menschenrechtserklärung ausgerufen, so ging in den USA der Gedanke, dass alle Menschen gleich geschaffen seien, nach dem ersten Satz der Unabhängigkeitserklärung sofort wieder verloren. Eine Gruppe von Sklavenhaltern machte die Verfassung unter sich aus. In Frankreich steht im ersten Artikel der Menschenrechtserklärung: «Die sozialen Unterschiede dürfen ausschliesslich im gemeinsamen sozialen Nutzen begründet sein.» Der Kernsatz der bürgerlichen Rechte in Amerika dagegen lautet: «Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, darf nicht beeinträchtigt werden.»

 

Kein grösserer Unterschied im Bereich der politischen Mentalitäten ist denkbar. Das europäische Konzept unterstellt das Individuum dem Schutz des Staates, das amerikanische meint, den Staat zum Schutz des Individuums zerstören zu müssen. Beides nennt sich Demokratie. James Madison, der spätere vierte Präsident der USA, brachte als einer der Verfassungsväter auf den Punkt, was bei dieser Arbeit Sache war: «Es geht darum, die Minderheit der Besitzenden vor der Mehrheit zu schützen.» John Jay, Mitglied des Obersten Gerichtshofs und Aussenminister, unterstützte ihn: «Wer das Land besitzt, der soll es auch regieren.» Der Mythos der Freiheit machte es möglich.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten dient seit je dem Machterhalt jener Elite, die sie entworfen hat. Damit das so bleibt, ist sie faktisch unveränderbar. Ihr Text ist in Stein gemeisselt. Dies in der Summe demokratisch zu nennen, ist formal korrekt, da eine Partizipation der Wahlberechtigten bei der Bestellung von Exekutive und Legislative geregelt ist. Wer an den Begriff «demokratisch» aber höhere Ansprüche stellt, beispielsweise im Sinne des europäischen Verständnisses von Menschenwürde oder sozialer Wohlfahrt, kann über diese Anspruchslosigkeit nur den Kopf schütteln. 


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