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Amerika hat die Stimmen der Präsidentschaftswahl weitgehend ausgezählt, die Zahlen der Covid-19 Pandemie werden noch lange weiter zu zählen sein

Dirk Specht - DMZ Redaktor
Dirk Specht - DMZ Redaktor

DMZ – GESUNDHEIT / WISSEN ¦ Dirk Specht ¦

KOMMENTAR

 

Ich hatte einige Tage gezögert, weil sich zwischenzeitlich ein sehr diffuses Bild ergeben hatte, das nun aber leider immer klarer wird: Wir erleben gerade den immer noch ungebrochenen Aufbau einer zweiten Welle, die langsamer läuft, aber größer als die erst wird – und das ist bereits unvermeidbar.

Das diffuse Bild entsteht durch die Verlangsamung beim Wachstum der Infektionszahlen. Das wird von vielen leider überinterpretiert, aber zugegeben, ich habe mich da raus gehalten, bis die anderen Indikatoren, die nämlich gegenteilig laufen, stabiler werden.

 

Zu den Daten und Charts im einzelnen: Chart1 gehört wie immer den Infektionszahlen. Für Mitte November hatte ich beim 7-Tage Wert mit 20.000 gerechnet, vor einigen Wochen gab es noch die Hoffnung, das bis Weihnachten verzögern zu können – eine Hoffnung, die damals als Panikmache bezeichnet wurde. Inzwischen liegt der Wert bei knapp 18.000 und wir müssen für Mitte des Monats eher mit 25.000 bis 30.000 rechnen, das ist tatsächlich diffus, denn leider laufen wie im Frühjahr die Tests nun der Epidemie hinterher, die Dunkelziffer steigt. Grundsätzlich sehen wir bei den gemessenen Infektionen aber ein Absinken des Trends, der sich von einer 10-Tage Verdopplungszeit auf 15 bis 20 mindert. Daher kommt die genannte Bandbreite bis zur Monatsmitte.

 

Den Grund für diesen sehr moderaten und keinesfalls ausreichenden Trendwechsel muss man irgendwo in der Zeit um Ende Oktober suchen. Der Lockdown light kann hier allenfalls eine erste kleine Wirkung zeigen. Vermutlich ist es wie im Frühjahr so, dass die Bevölkerung bereits vor den staatlichen Maßnahmen reagiert hat – zumindest teilweise. Das ist ganz sicher ein gutes Signal, zumal der Lockdown light nun ebenfalls langsam, aber stetig in der Entwicklung sichtbar werden sollte. Zugleich ist aber bereits jetzt sicher, dass es nicht reichen wird, eine zwar langsamere, aber vom Volumen und auch vom Peak her noch größere Welle als im Frühjahr zu verhindern.

 

Das wird sichtbar durch Charts 2 und 3, die zeigen, wie rasant die Testpositivquote steigt und zugleich die der Testmenge für einen positiven Fall sinkt. Das sind leider Indikatoren für eine stark steigende Dunkelziffer, weshalb es insgesamt sogar unklar ist, ob der Trend in Chart 1 tatsächlich sinkt. Schlimmstenfalls müssen wir damit rechnen, dass die Epidemie sich sogar weiter beschleunigt. Darüber kann man derzeit nur spekulieren, ich wäre ehrlich gesagt froh, wenn wir wenigstens durch die erste Reaktion der Bevölkerung im Oktober keine weiter eskalierende Beschleunigung sehen und der Lockdown light dann doch eine kleine Dämpfung bringt. Wir werden das wie im Frühjahr leider erst in den Krankenhäusern sehen – in weiteren zwei bis vier Wochen ab jetzt, um – das sei nochmals klar gemacht – diese hier und heute präsentierten Daten wirklich einordnen zu können.

 

Dass die Testmenge auf diese Daten übrigens keinen signifikanten Einfluss hat, ist in Chart 4 dargestellt. Hier sieht man, dass die Testmenge im Frühjahr der Pandemie massiv hinterher gelaufen ist, dass sie über den Sommer wegen der Massentests an Rückkehrern fast verdreifacht wurde, während das Epidemiegeschehen vergleichsweise flach verlief und dass wir mit Beginn der 2. Welle nur ca. 15% weitere Steigung hinbekommen haben, weil die Kapazitäten nun an ihre Grenzen kommen. Dieser Testmengensteigerung um ca. 15% stehen ungefähr 1.000% bei den Infektionen gegenüber. Leider gilt, dass die Schere zwischen Epidemie und Testkapazität wieder aufgeht, weshalb auch dies ein Indikator für eine wachsende Dunkelziffer ist. Wie groß die Dunkelziffer derzeit sein mag, kann man erst in den Krankenhausdaten in einigen Wochen sehen. Chart 5 zeigt die epidemiologischen Modelle, von denen aus bereits oft erwähnten Gründen YYG neben LSHTM für Deutschland die bessere Wahl sind. Demnach lag die Dunkelziffer im Frühjahr bei ca. 10 und wir lagen mit Beginn der zweiten Welle bei ungefähr fünf. Da die aber nun leider unzweifelhaft weiter gestiegen ist, bin ich recht sicher, dass wir vielleicht jetzt schon oder in den kommenden Wochen tatsächlich mehr als 100.000 Infektion pro Tag in Deutschland erleben und dass wir insofern auch bereits jetzt über dem vermutlichen Peak von 60.000 bis 70.000 im Frühjahr verlaufen. Mit anderen Worten: Diese zweite Welle IST bereits höher als die erste, da bin ich sogar recht sicher, aber sie läuft deutlich langsamer. Das ist aber möglicherweise sogar ganz besonders tückisch!

 

Sie wird nämlich leider noch eine ganze Weile weiter gehen und wir müssen zuerst mal sehen, ob wir überhaupt durch den Lockdown light eine Verlangsamung erreichen. Das diffuse Bild bei den Infektionen wird nämlich durch die nun folgenden Parameter leider geprägt, die alle für eine stark steigende und deutlich höhere Welle sprechen. Zunächst besagt Chart 6, die CFR, dass wir weiter im Wesentlichen eine Verjüngung der Epidemie sehen. Die CFR, also die Quote der Sterbefälle pro Infektion, wird zwar auch durch die besseren Behandlungsmöglichkeiten verringert, aber keinesfalls in diesem Ausmaß. Tatsächlich ist der Hauptgrund die Tatsache, dass sich immer mehr jüngere Menschen infizieren. Um an der Stelle mal die oft gescholtenen jugendlichen Partygänger aus dem Fokus zu nehmen: Im Sinne von Medizinstatistiken sind Menschen unter 50 jung und wir reden hier in der großen Masse von der Alterskohorte 25 bis 35. Natürlich gehören die Jugendlichen auch dazu, aber die genannte Kohorte ist deshalb so problematisch, weil sie die meisten kaum aussetzbaren engen Sozialkontakte hat: Familie, Freunde, Kollegen. Diese Altersgruppe hat oft wichtige Aufgaben in ihrem sozialen Umfeld, sie ist am schwierigsten einfach mal raus zu nehmen – das sind quasi Drehscheiben für die weitere Ausbreitung und daher ist das ein Indikator für die Dauer der noch kommenden Welle. Wir sehen hier also, dass wir keinesfalls mit einem schnellen Kippen und auch nicht mit einem rasanten Abstieg rechnen können, wir züchten im Gegenteil weiter genau die Infektionen, die am schwierigsten zu brechen sind und die am nächsten an den Risikogruppen dran sind. Diese Welle steigt leider nicht nur trügerisch langsam, sie wird auch länger laufen und nur sehr zäh sinken.

 

Die Wahrheit zeigt sich in der Tat letztlich in den Krankenhäusern – mit Verzögerung von zwei bis vier Wochen sowie aufgrund der genannten Diffusionseffekte von Jüngeren in die Gesamtbevölkerung oft erst nach Monaten. Ich hatte das mal mit dem Begriff der „Ketchupflasche“ bezeichnet. Leider steigen die Zahlen auf den Intensivstationen (Chart 7) und auch die bereits eingetretenen Todesfälle (Chart 8) weiterhin schneller als die dafür verantwortlichen Infektionen vor einigen Wochen. Dieser Ketchup-Effekt beginnt aber gerade erst und die Folgen des zwischenzeitlich stärksten Anstiegs von 10 Tagen werden wir noch sehen. Ob überhaupt und wenn ja, wann wir einen Trendwechsel oder eine Verlangsamung dieser fürchterlichen Zahlen aufgrund des Lockdown light sehen werden, muss sich noch zeigen. Das sind die Zahlen, auf die viele seit Wochen mit Entspannung hinweisen und die immer noch mit der großen Differenz zur Gesamtzahl gelassen mit Kommentaren zur Panikmache herangezogen werden. 

 

Wir haben Stand heute eine Belegung wie im Peak vom Frühjahr und wir werden innerhalb der nächsten ca. zehn Tage auch den Peak der Todesfälle aus dem April wieder sehen. Definitiv sicher ist ebenfalls, dass wir in den Krankenhäusern einen größeren Stress zu erwarten haben, als bei der ersten Welle. Nicht ohne Grund ist die Ethikkommission in diesen Tagen zusammengetreten, um die Triage-Regelungen nochmals zu diskutieren. Da wir weit mehr Kapazitäten haben, steht das nicht bevor, aber leider ist es Tatsache, dass bereits jetzt niemand weiß, wie das nun weiter geht, denn die Wirkung oder nicht-Wirkung des Lockdown light ist in den Daten noch gar nicht enthalten. Daher müssen wir auch auf die besseren Behandlungsmöglichkeiten bei Covid 19 hoffen sowie auf den Schutz besonders gefährdeter Gruppen sowie Einrichtungen, sonst werden wir - heute! – bereits einen Infektionsstand haben, der die 10.000 Opfer aus dem Frühjahr mindestens erreicht.

 

Wer die Kommunikation der Politik beobachtet, erkennt, dass wir moderat darauf vorbereitet werden, zum Monatsende keinesfalls über Lockerungen zu sprechen. Die Unsicherheit über die kommende Entwicklung geht eher in die Richtung, welche weiteren Maßnahmen erforderlich werden, weil man wohl erkennt, dass wir schon auf einer größeren Welle unterwegs sind, als die im Frühjahr und weil unklar ist, ob die beschlossenen Maßnahmen genügen, diese überhaupt zu bremsen.

 

Das ist alles den Versäumnissen aus dem Frühjahr zu verdanken, als wir zu früh geöffnet haben, statt die Infektion richtig herunter zu bekommen und als wir im Sommer dann mit europaweiter Freiheit dafür gesorgt haben, die Pandemie munter auf einem Basislevel regional breit zu verteilen, damit jeder mit genug Sars-Cov-2 versorgt ist, um in den Herbst zu gehen. Zugleich wurden Pläne der Bundesregierung, eine bessere und digitale Infrastruktur zu schaffen sowie mehr zentrale Steuerung zu etablieren, dem Machterhalt der föderalen Strukturen geopfert, die nun inklusive ihrer verheerend veralteten Behördenstruktur (inklusive Kitas und Schulen) bereits "absaufen", bevor die zweite Welle überhaupt richtig da ist.

 

Wir sollten uns das merken. Diese Fehler sind nicht im Kanzleramt passiert und nur das kann uns nun eine bessere Politik bescheren – leider mal wieder nicht präventiv, sondern hinterher. Das wird teuer, sehr teuer. Für unsere Gesundheit, für unsere Gesellschaft, für unsere Wirtschaft.

Damit das nicht zu düster klingt: Zugleich berät die Ethikkommission über die Richtlinien, wie die zunächst begrenzten Verfügbarkeiten von Impfstoffen ab dem Jahreswechsel zu regeln sind. Parallel mehren sich Berichte von Herstellern und auch aus dem Feldeinsatz China, wonach wir in der Tat bald mit einer Zulassung rechnen können. Das wird der Game Changer für eine überforderte Gesellschaft nebst großer Teile ihrer politischen Führung. Bei erstgenannter sollte ganz schnell ein radikales Umdenken stattfinden, bei zweit genannter hoffentlich eine Auslese.

Wir sollten uns und unser Umfeld ohne jede Angst und Panik mit den Mitteln, die wir haben, schützen. Wir sollten eine Naturkatastrophe endlich als solche nehmen und glücklich darin das Leben führen, das uns immer noch möglich ist. Wir sollten uns daran orientieren, was alles noch geht und nicht danach quängeln, was alles nicht mehr möglich ist. Unsere gesellschaftliche Solidarität sollte den Existenznöten derer gelten, die aufgrund der spezifischen Eigenschaften dieser Naturkatastrophe um ihren Arbeitsplatz, ihre Selbstständigkeit oder ihre Unternehmen bangen müssen – aber keinen Millimeter mehr denjenigen, die meinen, sie müssten ihre konsum- und freizeitorientierte „Freiheit“ weiter genießen. Und wir sollten uns merken, welche Figuren aus Politik und Wissenschaft uns in diese Lage gebracht haben. Die ist leider nämlich gar nicht gut, sie ist kein Untergang, aber sie ist viel teurer als sie sein müsste.

 

Ja, die Sonne wird nun zuerst mal untergehen, dann wird es dunkel, das kennen wir und danach geht sie wieder auf, auch das kennen wir: Wissen bedeutet nicht Angst, Wissen ist die Zwillingsschwester von Optimismus, dieses Paar führt durch Krisen.


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