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Covid-19 - Schweiz wird für ihre Fehlstrategie scharf kritisiert

DMZ – GESUNDHEIT / WISSEN ¦ Walter Fürst ¦

Eine Analyse

 

Weshalb die Schweiz zu einem europäischen Hotspot der Corona-Pandemie geworden ist, interessiert die Menschen über die Landesgrenzen hinaus. Für die meisten ist das Urteil gefällt. Falsche, bzw. keine Strategie. Viele Nationen äussern Unverständnis und sind sogar geschockt von der mangelnden Vorbereitung der reichen Schweiz. Der Sommer wurde verschlafen, nachdem bereits der Anfang der Pandemie komplett vergeigt wurde (keine Masken, kein Desinfektionsmittel, keine Vorbereitung usw.). Schlicht - die Schweiz hat bisher versagt und führt mittlerweile sogar die Weltrangliste an. Im internationalen Vergleich zeigt die Schweiz seit Wochen hohe Covid-Fallzahlen. Dem entspricht die Anzahl Todesfälle im Land – es herrscht Übersterblichkeit. Die Schweiz ist auch bei den Covid-Todesfällen an der Weltspitze. In der Schweiz sterben pro Tag zurzeit gegen 80 Personen an Covid-19.

 

Der Schweizer Historiker und Politikwissenschafter Joseph de Weck hat darüber vergangene Woche einen viel beachteten Artikel («Switzerland Is Choosing Austerity Over Life» – also sinngemäss «Die Schweiz stellt Sparsamkeit vor Menschenleben») im renommierten US-Magazin «Foreign Policy» geschrieben. Er geht davon aus, dass Aussagen wie jene von Ueli Maurer in Frankreich zu einem Rücktritt führen würden. Unprofessionalität, Arroganz, mangelnde Ethik und teilweise Ignoranz der Landesregierung stossen nicht nur ihm auf. 

Bereits der Titel dieses Artikels bringt die Sache auf den Punkt. In der Schweiz führt man diese Debatte über die Kosten der Krise. Doch diese Debatte führt man in anderen Ländern – in Frankreich, Italien, England oder Deutschland – nicht in diesem Sinne. In der Schweiz will man keine Vorschriften und dass die Wirtschaft brummt. Menschenleben scheinen vernachlässigbar, zumindest äussern dies diverse Politiker im Land. Für die Schweiz ist es vollkommen in Ordnung, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung zwischen Gesundheit und Geld zu führen.

Der Unterschied zur Schweiz ist, dass die anderen Nationen irgendwann kapiert haben, dass sie es nicht hinkriegen, die Zahlen stabil zu halten, sondern dass sie dabei sind, in eine exponentielle Steigerung hinein schlafzuwandeln. Dann haben sie einen Kurswechsel vollzogen, die Schweiz nicht.

 

Politisches Fehlverhalten

In einem Interview mit SRF sagt de Weck: "Ich verwende immer dieses Beispiel von dem Satz von Herrn Ueli Maurer, dass die Schweiz sich keinen zweiten Lockdown leisten könne. Wenn man diesen Satz einem Franzosen erklärt, erntet man nur Kopfschütteln. Wenn ein französischer Minister so einen Satz sagen würde, müsste er sehr wahrscheinlich ein paar Stunden später zurücktreten. Aber er zeigt, dass es für die Schweiz vollkommen in Ordnung ist, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung zwischen Gesundheit und Geld zu führen.

Die Frage ist nicht, ob sich die Schweiz das leisten kann, sondern ob sie sich das leisten will.

Der Satz ist zudem erstaunlich, weil er inhaltlich einfach falsch ist. Die Zinsen auf Schweizer Staatsanleihen sind im negativen Bereich. Die Finanzmärkte sind sogar bereit, der Schweiz Geld zu zahlen, damit sie sich verschuldet. Der Schuldenstand des Bundes liegt bei 40 Prozent. Das ist für eine entwickelte Wirtschaft extrem tief. Die Frage ist nicht, ob sich die Schweiz das leisten kann, sondern ob sie sich das leisten will. In Frankreich ist es klar, dass es die Aufgabe des Staates sein muss, das Leben der Bürger zu schützen, und dass Überlegungen zum Staatshaushalt in so einer Krise nachrangig sind."

 

Auf dem Facebook-Kanal der SVP lässt Bundesrat Ueli Maurer so richtig Dampf ab. Er kritisiert eine allgemeine Expertengläubigkeit bei Corona, viele Experten seien zudem einseitig. «Da sind auch die, die alles besser wissen und moralisieren», sagte er. «Sie sehen nur die Gesundheit.» Die Bedürfnisse der Wirtschaft und der Gesellschaft würden zu wenig berücksichtigt. Ein Schlag ins Gesicht der Risikogruppen (40% der Bevölkerung) und der Betroffenen Familien. "Ein Verhalten, das einem Staatsmann nicht würdig ist."

 

Kritik WHO 

Auch der WHO-Sondergesandte für Covid-19 David Nabarro spart nicht mit Kritik. In der Schweiz sei viel versäumt worden. Nabarro spricht von einer "sehr ernsten Lage".

Auch innerhalb des Landes regt sich Kritik daran, dass nicht über die an oder mit Covid-19 Verstorbenen gesprochen werde. Laut Bundesamt für Gesundheit sind zuletzt 111 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden zu beklagen. Insgesamt gab es in der Schweiz bereits über 4000 Corona-Tote. Es brauche eine «viel robustere Strategie von Behörden und Einwohnern». So müsse etwa die Isolierung total sein bei einer Ansteckung. Und die Behörden müssten dies überprüfen. Die Lage in der Schweiz sei zu ernst, als dass man dies einzelnen Personen überlassen dürfe.

Es braucht laut Nabarro klare Zuständigkeiten. Bekannte von ihm in der Westschweiz zum Beispiel wüssten jedoch nicht, wer für sie verantwortlich sei, wenn sie krank würden. Das sei erstaunlich in einem Landesteil mit einer der höchsten Fallzahlen Europas. «Es überrascht mich, dass es nicht als nationaler Notstand behandelt wird.»

Andererseits sei eine grössere Nähe wichtig. Jede Gemeinde müsse die nötigen Kapazitäten haben, um mit Ansteckungen umzugehen. Die kantonale Ebene sei zu weit weg. «Es braucht eine sehr genaue Überwachung der Menschen, so dass man eine Ansteckung entdeckt.»

 

Karl Lauterbach sieht in der Schweiz "unverzeihliches Poltikversagen"

Auch der SPD-Gesundheitsexperte übt harsche Kritik an der Schweizer Regierung und spricht von einem "unverzeihlichen Politikversagen". Karl Lauterbach meint, im Sommer hätte eine bessere Vorbereitung stattfinden und die Intensivkapazitäten hätten ausgebaut werden müssen.

Auf Nachfrage von Blick, erklärt der Epidemiologe dazu, dass die Schweiz stolz darauf ist, der Wirtschaft weniger geschadet zu haben als andere Länder: "Erstens ist das aus meiner Sicht nicht richtig – der wirtschaftliche Schaden in Deutschland ist nicht viel höher. Zweitens fände ich es armselig, wenn man stolz darauf ist, die Wirtschaft gerettet zu haben, wenn dafür sehr viele Leute sterben." Und dies ist leider aktuell bereits der Fall. Viele Todesfälle hätten durchaus vermieden werden können. Die Schweiz opfert also ganz bewusst Menschen. Zudem findet der Epidemiologe, die Menschen in der Schweiz seien nicht genügend über Aerosole und das Risiko in Restaurants informiert und gewarnt worden.

 

 

Quellen:

  • https://foreignpolicy.com/2020/11/10/coronavirus-switzerland-is-choosing-austerity-over-life/
  • https://www.srf.ch/news/schweiz/kritik-an-corona-strategie-was-haelt-das-ausland-von-der-schweizer-corona-strategie
  • https://www.blick.ch/ausland/der-deutsche-spd-politiker-karl-lauterbach-kritisiert-schweizer-corona-strategie-die-schweiz-hat-vieles-falsch-gemacht-id16206439.html

 


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