DMZ – GESUNDHEIT / WISSEN ¦ Dirk Specht ¦
KOMMENTAR
Wenn ich als Mathematiker statistisch begründete Thesen geisteswissenschaftlicher Autoren lese, bekommen die Fingerkuppen des Ex-Journalisten sehr oft so einen merkwürdigen Juckreiz. So
bei dem Pamphlet des Soziologen Bernhard Gill, das es leider auf das bei Covid-19 merkwürdig abgedriftete Telepolis-Portal des Heise-Verlags geschafft hat. Gill kontert hier unter dem Titel
„Keine Übersterblichkeit durch Covid 19“ mit dem bemerkenswerten Datum von Anfang 2021 unter
anderem einen gegenteiligen Beitrag der SZ.
Kurz zusammengefasst bestreitet Gill die Übersterblichkeit durch Covid-19, indem er die – unstrittig vorhandene – Übersterblichkeit durch die Gegenthese erklärt, aufgrund der Alterung der
Gesellschaft nehme die Sterblichkeit ohnehin zu. Ein in vielen Kreisen leider sehr beliebtes Narrativ zur Verharmlosung, da nun auch in Deutschland “genug” gestorben wird. Dass er seine
Gegenthese in keiner Form belegt, passt zur Wahl der Überschrift, die man als Leugnung jeglicher Übersterblichkeit interpretieren könnte.
Nun wird in der Tat von Versicherungsmathematikern bis zu Demografen seit Jahren erwartet, dass so ein Effekt irgendwann mal eintritt. Die Alterung der Gesellschaft ist bekanntlich unstrittig und
sie beruht auf zwei Effekten: Weniger Geburten plus längere Lebenserwartung. Letzteres hat aber zwei Konsequenzen: Erstens sinkt die Sterblichkeit bei Älteren und zweitens nimmt der Anteil der
betagten Bevölkerung zu. Daher ist irgendwann auch zu erwarten, dass der zweite Effekt den ersten überragt und die Sterbezahlen dadurch zunehmen.
Gill erschöpft sich und seine Leser in längeren „Beweisen“ über die – unstrittige – Alterung der Gesellschaft und hat sogar den „Mut“, in seiner „Argumentation“ zwei Quellen seitens der
Universität München und des Statistischen Bundesamtes falsch zu zitieren, denn in beiden Quellen wird das denkbare Entstehen von Übersterblichkeit durch Alterung der Gesellschaft zwar
angesprochen, aber eben als bisher nicht erkennbar bzw. relevant eingestuft.
Genau so ist es nämlich und das liegt daran, dass die Lebenserwartung gerade der ältesten Generation, auf die Gill abzielt, weiter steigt, wie die folgende Tabelle zeigt. Die Entwicklung ist zwar
seit dem steilen Zuwachs in den 80ern zuletzt deutlich langsamer verlaufen, aber bis 2019 haben die Mehrjahre der über 80-jährigen kontinuierlich zugenommen. Tragischerweise könnte das 2020
erstmals anders aussehen und dafür ist natürlich Covid-19 der Grund.
Die Spalten weisen die Lebenserwartung in Jahren auf, die 65- bzw. 80-Jährige in den jeweiligen Zeiträumen hatten. Eine heute 80-jährige Frau lebt also im Mittel noch 9,56 weitere Jahre, ein Mann
noch 8,08 Jahre.
Kommentar schreiben