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Muss die Schweiz sich neu erfinden?

Dr. Christine Wichert ist Deutsch-Schweizer Doppelbürgerin, verbrachte die 1. Welle in Taiwan, doziert Markenführung an der Hochschule Luzern und berät Firmen zu strategischer Markenführung
Dr. Christine Wichert ist Deutsch-Schweizer Doppelbürgerin, verbrachte die 1. Welle in Taiwan, doziert Markenführung an der Hochschule Luzern und berät Firmen zu strategischer Markenführung

DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Dr. Christine Wichert ¦

KOMMENTAR

 

Auf dem Ritt durch die verschiedenen Wellen der Pandemie gilt es neben ökonomischer und Gesundheitsbilanz auch im Auge zu behalten, wie die eigenen Bürger und das Ausland die Pandemie-Leistung der Schweiz wahrnehmen. Damit aktuelle Vertrauensverluste der Bürger in die Regierung und Irritationen im Ausland rasch wieder abebben, stellt sich die Frage, ob die Schweiz in dieser Pandemie ihre eigenen Werte lebt oder ob sie sich gar neu erfinden sollte.

 

Die Identität der Schweiz hat sich über Jahrhunderte gebildet. Weder diese, noch ihre Positionierung – also der Teil der Identität, der wahrgenommen werden soll - ist umfassend festgelegt, wenngleich es im Abstand von einigen Jahren festgelegte Kommunikationsziele des Landes gibt. Es gibt zahlreiche Studien und Rankings zum Image, die in der Regel vordere Plätze für die Schweiz attestieren. Strategische Wahrnehmungsziele seit 2016 bis heute zeigen auf, wofür die Nationenmarke Schweiz stehen will. Zum einen möchte sie «innovativ» und «kompetitiv» sein, «solidarisch» und «verantwortungsbewusst», ein Land mit «hoher Lebens- und Standortqualität». Ende 2020 kamen noch «zuverlässig» und «nachhaltig» dazu. Vom Image her steht die Schweiz noch immer stark für Sicherheit/Frieden und Neutralität, wunderbare Landschaften, Wohlstand, Ordnungsbewusstsein, Präzision und einiges mehr. Dies sind viele relevante Tugenden während einer tödlichen Pandemie, die gewiss Teil der Schweizer Identität sind. Bei so vielen guten Voraussetzungen wäre es interessant zu überlegen, was die Marke Schweiz tun würde, wenn sie gestärkt aus der Krise hervorgehen möchte.

 

Was würde eine starke Nationenmarke Schweiz tun?

Sie führt zentral und hat eine langfristige, ambitionierte Strategie. Führen heisst planvoll vorangehen. Der Bundesrat würde Verantwortung in der ausserordentlichen Lage übernehmen, weil er weiss, dass zu viel Föderalismus die Marke schwächt - weil Orientierung fehlt und Inkonsequenzen entstehen. Er würde vorausschauende Massnahmen so früh wie möglich ergreifen, auf Nummer sicher gehen. Dies auch, weil er durch empirische Befunde weiss, dass es der Wirtschaft umso besser geht, wenn die Gesundheit geschützt wird. Er hätte die Mitigationsstrategie des «Schweizer Wegs», die späte und wenige Eingriffe zulässt, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, verworfen, weil sie Mensch und Wirtschaft schwächt. Szenarien verschiedener Strategien (Laisser faire vs. Mitigation vs. Starke Eindämmung vs. No-Covid https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/no-covid-strategie-coronavirus-initiative-lockdown/komplettansicht) würden kurz-, mittel- und langfristig modelliert und die Schweiz würde mittel-langfristig entscheiden. Sie würde sich ambitionierte Ziele setzen (z.B. eine 7-Tage Inzidenz <25), die eine europaweite Spitzenposition impliziert, diese offensiv kommunizieren und mit Massnahmen untermauern. Sollten Meilensteine nicht erreicht werden, würden Massnahmen angepasst.

 

Sie weiss wer sie ist und wer sie nicht ist. Sie legt im Bundesrat mit den Kantonen fest, was ihre Identität und Ihre Positionierung ist. Dann grenzt sie ab, was sie NICHT ist. Diese Identität würde sie als Filter für grössere Entscheidungen zu Rate ziehen, um fortan schnell einstimmige Entscheidungen treffen zu können. Es gibt Kernwerte, die sich aus der Historie ergeben, aber auch solche, die sie für die Zukunft erzielen will. Bei den Kernwerten denkt man an Sicherheit, Neutralität, Qualität, die humane Tradition, Freiheit, Wohlstand, Sparsamkeit, direkte Demokratie, Freiheit und Föderalismus. Bei der Soll-Positionierung kämen Innovation, High-Tech, Solidarität, Nachhaltigkeit, etc. dazu. Die Schweiz verstünde sich als Premiummarke, als reiches entwickeltes Land, das nicht nur teuer sein darf, sondern Mehrwerte bieten will. In einem Land mit dem teuersten Gesundheitssystem der Welt dürfen Bürger etwas erwarten – deswegen hat sie hohe Ansprüche an sich selbst.

 

Sie erkennt den Strukturbruch in der Pandemie, hinterfragt alles, was historisch hilfreich war, ob es in einer Jahrhundertkrise relevant ist und interpretiert die Werte aktuell. Ist der Föderalismus in einer Pandemie zweckmässig? Ist Sparsamkeit in der Krise kurzfristig wichtig oder ist es langfristig sparsamer, nun grosszügig zu sein? Sollte individuelle Freiheit wirklich über alles gehen, auch wenn es die Sicherheit des Kollektivs in einer Pandemie bedroht?

Die Schweiz wüsste, was sie NICHT ist. Sie würde aktiv Grenzen setzen. «Nein» sagen zu allem, was Ihrer Identität widerspricht. Nein zur Durchseuchung, zu kurzfristigen Partikularinteressen, zur Ausgrenzung von Risikopersonen, zum Egoismus innerhalb Europas.

 

Sie handelt relevant, stärkenbasiert selbstähnlich und macht, was sie sagt. Relevant sein heisst das bieten, was für Menschen wichtig ist. Nach Maslow ist Sicherheit ein Grundbedürfnis. Ohne Sicherheit ist Freiheit nicht viel wert. Stärkenbasiert selbstähnlich handeln impliziert das Leben des Versprechens, das sie mit ihrer Positionierung gibt. Wenn die Schweiz für Sicherheit stehen und ihre humane Tradition fortführen will, dann sollten Guy Parmelin´s Worte, dass die Gesundheit des Menschen höchste Priorität hat, unbedingt Taten folgen. Dann müsste hochwirksamer Impfstoff zu fast jedem Preis erworben werden, dann wäre Prävention die grundsätzliche Maxime - frühzeitig handeln nach dem Vorsorgeprinzip, keine «Massnahmen auf Reserve». Dann würde rund um die Uhr geimpft, weil es der Wirtschaft genauso wie den Menschen hilft, wenn viele schnell immun sind. Solidarität würde bedeuten, dass die Eigenverantwortung genau dieser weicht. Das Verantwortungsbewusstsein hiesse u.a., dass man Einreisen aus Hochrisikoländern nur mit Test und kontrollierter Quarantäne ermöglicht und damit die Verbreitung von Mutanten im In- und Ausland stoppt. Dies auch aus Respekt den Vorsichtigen und Risikogruppen gegenüber, die sich vorsorglich isolieren.

Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Mutanten, die viel übertragbarer und auch tödlicher sind, würden geradezu nach einer restriktiven Eindämmung schreien, Top-Treiber der Pandemie würden neutralisiert, Schulen würden längst auf Fernunterricht umgestellt. Will die Schweiz für High-Tech und Innovation stehen, dann wäre Digitalunterricht willkommen. Man würde es als Chance sehen, endlich digital aufzurüsten, gerade weil das High-Tech Ansehen z.B. bei den Chinesen in den letzten Jahren schon dramatisch an Boden verlor. Kompetitiv sein würde Benchmarking mit erfolgreichen Ländern in der Pandemie begünstigen. Ordnungsbewusstsein und Präzision würde man bei allen Stellhebeln der Pandemie-Eindämmung finden: ein funktionierendes Backward Contact Tracing, eine leistungsfähige Covid-App, präzise Kontrolle bei Einreisen und Quarantäne, etc. Wenn Neutralität ein Kernwert der Marke ist, könnte die Schweiz innerhalb Europas auf neutralem Boden ihr Vermittlungsgeschick dazu nutzen, europäische Staaten zu einer paneuropäischen NoCovid Strategie zu überzeugen, was auch dem wichtigsten Handelspartner Deutschland gefallen dürfte. Denn diese ist die einzig mögliche Strategie für eine Rückkehr zur quasi-Normalität. Damit würde sie sich eine einzigartige Nr. 1 Position in einem relevanten Gebiet sichern. Nachhaltig wäre sie, wenn sie frühe und ausreichende Massnahmen erlässt, statt wie so oft «too little, too late».

 

Sie widersteht kurzfristigen Opportunitäten. Eine starke Marke widersteht kurzfristigen Opportunitäten, um langfristig stark zu sein. Genauso sollte die Schweiz auf die kurzfristige Bedienung von Partikularinteressen verzichten. Wenn Restaurants aufgrund der Aerosole gefährliche, geschlossene Orte sind, dann gilt dies genauso für Hotelrestaurants. Wenn ein Mindestabstand von 1,5m einzuhalten ist, dann sind Puffs eben geschlossen. Wenn das Lauberhornrennen für den Skizirkus abgesagt wird, dann ist Wengen auch für Touristen tabu. Dem Virus ist es egal, wen er vor sich hat. Die Negativschlagzeilen in noblen Skiorten von Verbier über Wengen bis Arosa und St. Moritz könnten länger nachwirken als eine Saison und damit die kurzfristigen Verkaufseffekte verpuffen lassen.

 

Sie lässt sich demütig den Spiegel vorhalten. Starke Marken stellen sich der brutalen Wahrheit, sie wollen aus Fehlern lernen. Schmerzerfüllt würde die Schweiz erkennen, dass nicht «die Pandemie» das WEF vertrieben, das Lauberhornrennen abgesagt und das Palace in St. Moritz geschlossen hat, sondern das mangelhafte Pandemie-Management. Dass Einreisestopps und das Schliessen des Skibetriebs langfristig doch besser gewesen wäre als eine erschreckend hohe Anzahl Mutanten, die härtere und länger andauernde Massnahmen nach sich ziehen werden. Dass es einfach nicht sein kann, dass alle Schutzkonzepte gut funktionieren, wenn es noch immer eine 4-stellige Anzahl Neuinfektionen pro Tag gibt. Dass es Lücken gibt, die man aufdecken und diesbezüglich handeln muss, wie eben z.B. die der Aerosole. Dass die Schweiz eben eklatante Fehler gemacht hat in der 2. Welle, indem sie die Warnungen der interdisziplinären Taskforce ignorierte. Und dass die Todeszahlen einem sozialen, stolzen und reichen Land unwürdig sind. Sie merkt, dass sie aus Fehlern und von anderen lernen kann und ist wild entschlossen, dies zu tun.

 

Sie analysiert mit harten Zahlen, wo sie warum steht und handelt erkenntnisorientiert. Wenn wissenschaftliche Studien zeigen, dass Gesundheit und Wirtschaft gleichermassen von frühen Massnahmen profitieren, dann braucht es eben schnelle, frühe Massnahmen und das könnte sowohl Lobbies als auch den Finanzminister überzeugen. Die Schweiz dürfte sich nicht damit begnügen, immer wieder überrascht zu sein, nicht zu verstehen, weshalb Infektionszahlen steigen. Das BAG beschreibt und verwaltet die epidemiologische Situation, müsste aber analysieren und vorhersagen. Es würde detektivisch Daten erheben und verstehen wollen, Ursache und Wirkung modellieren und entsprechend den Bundesrat beraten. Man hätte so frühzeitig erkennen können, dass Daniel Koch falsch lag, dass Kinder und offene Schulen Infektionszahlen treiben und damit das Testregime für Kinder unter 12 anpassen. Einfach gesagt: What gets measured gets done.

 

Sie lernt von den Besten und braucht keinen Swiss Finish. Wenn die Schweiz den Anspruch hat Vorreiter zu sein impliziert das, sich mit den Besten zu messen, nicht nur im interkantonalen Vergleich. «Stay hungry», hat Steve Jobs einmal gesagt, wohingegen die Schweiz etwas «satt» wirkt. Sie würde von Vorbildern ohne Ausreden lernen. Also nicht z.B. sagen von Taiwan oder NZ könne man nicht lernen, da diese Inseln seien. Wieso nicht? Taiwan hatte zum Beginn der Pandemie 8 tägliche Flugverbindungen nach Wuhan, war also direkt im Auge des Sturms. Wichtig ist, sich stets an den Besten zu messen und sich zu fragen, was man von ihnen lernen und aufs eigene System adaptieren kann. Ob es um die Geschwindigkeit des Testens in China geht oder Impfstrategien in Israel oder was auch immer. Sich zu fragen «Wie könnte es denn gehen, auch wenn wir anders sind» wäre hier der Schlüssel. Auch der «Swiss Finish» wäre unnötig, wenn er keinen Mehrwert bringt: Wenn international die Quarantäne 14 Tage dauert, dann ergibt sich dies aus der Inkubationszeit von 14+ Tagen. Sie auf 10 Tage zu verkürzen, heisst Risiken eingehen.

 

Sie kommuniziert glaubwürdig und empathisch. Ehrlichkeit schafft Glaubwürdigkeit, Unehrlichkeit wird im digitalen Zeitalter schnell entlarvt. Fehleinschätzungen müssten rasch zugegeben werden. Also würde die Schweiz breit und offensiv über Aerosole aufklären und dass sie für min. die Hälfte der Infektionen verantwortlich sind und die deshalb nötige Überarbeitung der Massnahmen und Schutzkonzepte. Sie hätte frühzeitig die Schutzwirkung verschiedener Arten von Masken erklärt und damit die Akzeptanz erhöht. Sie dürfte offen eingestehen, dass sie die Infektiösität von Kindern unterschätzt hat, offen die Ausbrüche in Schulen inkl. Primarklassen darstellen und die Schulen auf Fernunterricht umstellen, statt die Gesundheit von Familien und Lehrkräften weiter zu gefährden. Deshalb würden fortan auch Kinder und Asymptomatische ohne Wenn und Aber getestet. Sie spräche offen die Häufigkeit und Schwere von Langzeitfolgen («Long Covid») an, was automatisch die Vorsorge und Solidarität der Menschen erhöhen sollte. Sie kann Steuergelder zur Abfederung der Einbussen leidender Branchen einsetzen; sie hat ausreichend Geld und kann es sogar mit Gewinn leihen. Auch die vielen Toten und Kranken sollten empathisch thematisiert, ein Gesicht gegeben werden, nicht nur eine Fallzahl sein.

 

Perspektive

Die Pandemie ist ein Marathon und wir sind noch lange nicht im Ziel. Die ersten Meilensteine konnten wir erleben, aber bewertet wird fortlaufend. Mutanten und schleppende Impfungen werden uns auf Jahre begleiten, neue Krisen werden folgen. Es gibt also die Chance für die Schweiz, auf dem weiteren Weg noch aufzuholen.

Eine starke Marke in der Pandemie zu sein, lässt sich monetarisieren und das sollte das ökonomische Herz der Schweiz doch eigentlich höherschlagen lassen. Das zeigt sich z.B. an Taiwan: Mit nur 8 Toten und ohne einen einzigen Lockdown bei einer 3x so grossen Bevölkerung wie der Schweiz, ist das Land 2020 mit +3% sogar schneller gewachsen als China (Schweiz Prognose ca. -4%). Digital perfekt aufgestellt, demokratisch, sackstark bei Prävention und Contact Tracing. Mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt. Google macht es zum Hardware Hub. Taiwan wurde 2020 laut Agoda zur Nr. 1 Wunschdestination im Tourismus und eine Topdestination für Expats. Sprich, wer die Gesundheit schützt, schützt die Wirtschaft. Und wer High-tech mit High-touch vereint, sahnt ab. Es wäre eine nicht nur performante, sondern auch krisenfähige, eine liebenswerte Nationenmarke Schweiz. Heisst: Die Schweiz müsste sich nur an ihre Identität erinnern, ihren Werten treu sein und diese aktiv leben, dann hätte sie sich in der Pandemie neu erfunden.

Die Autorin ist Deutsch-Schweizer Doppelbürgerin, verbrachte die 1. Welle in Taiwan, doziert Markenführung an der Hochschule Luzern und berät Firmen zu strategischer Markenführung www.logibrand.com

 


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