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Covid-19 - Verlorene Lebensjahre: Durch Tod und Krankheit verlorene Lebensjahre im Verlauf der Pandemie

DMZ – WISSENSCHAFT ¦ Dr. rer. med. Alexander Rommel ¦

 

Das RKI hat erstmals die eingebüßte Lebenszeit durch das Coronavirus berechnet. Rund zehn Jahre hätte jeder Verstorbene noch zu leben gehabt, den Großteil der Krankheitslast tragen Männer.

 

COVID-19-Krankheitslast in Deutschland im Jahr 2020

The COVID-19 disease burden in Germany in 2020—years of life lost to death and disease over the course of the pandemic

Dtsch Arztebl 2021; 12. Februar 2021; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0147; ONLINE first


Hintergrund: Die SARS-CoV-2-Pandemie hat im Jahr 2020 das Gesundheitswesen vor große Herausforderungen gestellt. Die COVID-19-Krankheitslast lässt sich durch den Verlust an Lebensjahren durch Krankheit oder Tod ausdrücken. Dabei gehen beispielsweise durch Versterben im Alter von 40 Jahren deutlich mehr Lebensjahre verloren als bei Tod mit 80 Jahren.

 

Methode: Auf Basis laborbestätigter SARS-CoV-2-Meldefälle im Jahr 2020 (Datenstand 18. Januar 2021) werden durch Tod verlorene Lebensjahre („years of life lost“, YLL) und durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre („years lived with disability“, YLD) zur Krankheitslast insgesamt („disability-adjusted life years“, DALY) aufsummiert. Die Methodik ist angelehnt an die „Global Burden of Disease“-Studie. Bestehende Vorerkrankungen werden bei der Berechnung der YLL nicht berücksichtigt. Die angelegte Restlebenserwartung berücksichtigt aber ein mittleres altersspezifisches Niveau an Morbidität.

 

Ergebnisse: Im Jahr 2020 gingen in Deutschland 305 641 Lebensjahre durch COVID-19 verloren. Bei Männern entfielen 34,8 % der DALY auf Personen unter 70 Jahre, bei Frauen 21,0 %. 99,3 % dieser Krankheitslast machten verlorene Lebensjahre durch Versterben aus (YLL). Die durch COVID-19 im Tagesmittel entstandene Krankheitslast durch Versterben lag unter der für wichtige nichtübertragbare Erkrankungen. Eine verstorbene Person verlor im Mittel etwa 9,6 Lebensjahre, Personen unter 70 Jahre verloren 25,2 Lebensjahre. Männer hatten durch Tod einen größeren Verlust an Lebenszeit als Frauen (11,0 versus 8,1 Jahre).

 

Schlussfolgerung: Die Auswirkungen von COVID-19 auf die Bevölkerungsgesundheit lassen sich mit den Indikatoren der Krankheitslast verdeutlichen. Die Methode liefert damit zusätzliche Erkenntnisse, die für künftige Ausbrüche frühzeitig genutzt werden sollten.

 

Das Coronavirus SARS-CoV-2 und die COVID-19-Erkrankung haben durch einen pandemischen Verlauf sowie die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung die Lebensumstände der Menschen im Jahr 2020 stark bestimmt. Die Ausbreitung der Infektion mit teilweise schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen hatte sich zwischenzeitlich deutlich verlangsamt, in den Herbst- und Wintermonaten aber an Dynamik und Schwere wieder zugenommen. Um die Krankheit zu kontrollieren und das Risiko für die Bevölkerung abzuschätzen, bedarf es verlässlicher Informationen. Neben Todesfällen, Inzidenz oder Hospitalisierungsrate sollten auch Indikatoren der Krankheitslast („burden of disease“) herangezogen werden, um Auswirkungen von Mortalität und Morbidität auf die Bevölkerungsgesundheit in einem Indikator zusammenzufassen.

 

Ziel der Arbeit ist es, verlorene Lebensjahre durch COVID-19 für Deutschland anhand dreier Indikatoren zu schätzen: Todesfälle bilden die durch Tod verlorenen Lebensjahre („years of life lost“, YLL) ab. Da Todesfälle im jüngeren Alter einen größeren Lebenszeitverlust verursachen, werden bevölkerungsbezogene Auswirkungen von Erkrankungen durch YLL umfassender abgebildet als durch Todesfälle. Zweitens können verlorene Lebensjahre durch krankheitsbedingte Einschränkungen (Morbidität) berechnet werden („years lived with disability“, YLD), indem Erkrankungsschwere wie auch -dauer berücksichtigt werden, um morbiditätsbedingte Auswirkungen auf die Bevölkerungsgesundheit genauer abzubilden als durch Fallzahlen. Beide Indikatoren bilden das Summenmaß DALY („disability-adjusted life years“). Der Beitrag folgt diesem Aufbau, indem im Methoden- und Ergebnisteil die YLL sowie YLD und dann die DALY thematisiert werden.

 

Methode

Zur Berechnung der Krankheitslast wurden alle im Jahr 2020 bis zum 18. Januar 2021 an das Robert Koch-Institut übermittelten laborbestätigten SARS-CoV-2-Fälle analysiert (eMethodenteil 1). Neben Melde- und Sterbedatum, Alter und Geschlecht soll laut Falldefinition auch übermittelt werden, ob COVID-19 im Fall des Versterbens maßgeblich zum Tod beigetragen hat oder ob der Tod hauptsächlich auf andere Todesursachen zurückzuführen ist (4). Sowohl bei der Meldung der SARS-CoV-2-Fälle als auch bei der Erfassung des klinischen Verlaufs oder Vitalstatus entsteht ein zeitlicher Verzug von etwa zwei bis drei Wochen. Für den Vitalstatus besteht eine annähernde Vollständigkeit der Angaben für das Jahr 2020. Die Berechnung der Krankheitslast von COVID-19 beruht auf Vorarbeiten aus dem Projekt BURDEN 2020 – Die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen. 

 

Durch Tod verlorene Lebensjahre (YLL)

Die durch Tod verlorenen Lebensjahre (YLL) errechnen sich als Summe der statistischen Restlebenserwartung aller Verstorbenen in Jahren und werden einzelnen Todesursachen zugeschrieben. Vorerkrankungen bei COVID-19-Verstorbenen werden nicht berücksichtigt (eMethodenteil 2 und 3). Die Berechnungen basieren auf den übermittelten Sterbefällen unter den Sars-CoV-2-Meldefällen (eGrafik 1 und 2). Um eine Überschätzung zu vermeiden, werden nur Sterbefälle einbezogen, bei denen COVID-19 als Ursache übermittelt wurde (eMethodenteil 1). Zur Einordnung in die Gesamtsterblichkeit werden – basierend auf der Todesursachenstatistik 2017, dem Berichtsjahr der Studie BURDEN 2020 – die YLL anderer Krankheiten herangezogen. Dargestellt werden die fünf nichtübertragbaren Erkrankungen (NCD) mit den meisten YLL – ischämische Herzerkrankungen, Trachea-, Bronchial- und Lungenkrebs (kurz Lungenkrebs), Schlaganfall, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (kurz COPD), Kolon- und Rektumkrebs (kurz Darmkrebs) – sowie zusätzlich untere Atemwegsinfekte (eMethodenteil 2). Berichtet werden absolute Werte, YLL pro 100 000 Einwohner und Durchschnittswerte pro Person. Um die Dynamik der COVID-19-Pandemie abzubilden, erfolgt die Darstellung der YLL zudem tagesgenau und über Mittelwerte (7-Tage-Mittel, kumuliertes Mittel). Zu Vergleichszwecken werden zudem Tagesmittelwerte für COVID-19 (2020) und die Vergleichserkrankungen (2017) ausgewiesen. Die Saisonalität insbesondere der unteren Atemwegsinfekte wird dadurch nivelliert. 

eGrafik 2
Übermittelte SARS-CoV-2-Fälle (ohne Verstorbene) und aufgrund von COVID-19 Verstorbene 2020 in Deutschland nach Alter und Geschlecht
Grafik 1
Zeitliche Entwicklung durch Tod verlorener Lebensjahre (YLL) bei Personen mit COVID-19 in Deutschland (tagesgenaue Werte, Tagesmittelwerte 2020) und aufgrund ausgewählter Todesursachen (Tagesmittelwerte 2017)
eGrafik 1
Übermittelte SARS-CoV-2-Fälle und als verstorben gemeldete Fälle 2020 in Deutschland im Jahresverlauf

Durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre (YLD) und Krankheitslast insgesamt (DALY)

Berechnungsgrundlage der durch gesundheitliche Einschränkungen verlorenen Lebensjahre (YLD) bei akut erkrankten Personen sind vier Parameter (eMethodenteil 2):

  • Neuerkrankungen (SARS-CoV-2-Infektionen ohne Todesfälle) (eMethodenteil 1)
  • Schweregradverteilung („severity distribution“) in asymptomatische, milde, moderate, schwere und sehr schwere Verläufe (eGrafik 3, eTabelle 1)
  • schweregradspezifische Gewichtungsfaktoren („disability weight“) (asymptomatisch 0,000; mild 0,006; moderat 0,051; schwer 0,133 und sehr schwer/kritisch 0,655) (eTabelle 1) und
  • die schweregradspezifische Erkrankungsdauer (eTabelle 1).

Mögliche Spätfolgen von COVID-19 bleiben unberücksichtigt. YLL und YLD bilden das Summenmaß DALY, das in absoluten und relativen Zahlen nach Alter, Geschlecht und Raumordnungsregionen ausgewiesen wird.

 

Sensitivitätsanalysen

In einer Sensitivitätsanalyse wird überprüft, inwieweit pandemiebedingt eine Übersterblichkeit besteht und die YLL einen tatsächlichen Zuwachs an Krankheitslast widerspiegeln (eKasten). Die Analyse der Übersterblichkeit ermöglicht auf diese Weise auch einen Vergleich der COVID-19-Pandemie mit früheren Influenzawellen. Da Influenza meist klinisch diagnostiziert wird und nur der Erregernachweis meldepflichtig ist, besteht in Meldedaten und Todesursachenstatistik eine deutliche Untererfassung (6), sodass ein direkter Vergleich mithilfe dieser Datenquellen schwierig ist. Eine weitere Sensitivitätsanalyse untersucht, wie stark die YLD-Berechnungen auf Veränderungen der Erkrankungsdauer reagieren.

eKasten
Übersterblichkeit

Ergebnisse

Datengrundlage

Von den bis zum 18. Januar 2021 an das Robert Koch-Institut übermittelten Fällen mit einem SARS-CoV-2-Nachweis konnten für das Jahr 2020 1 748 644 Fälle differenziert nach Melde- und gegebenenfalls Sterbedatum, Alter, Geschlecht, Schweregrad und Vitalstatus in die Analysen einbezogen werden (eMethodenteil 1, eGrafiken 1 und 2). Darunter waren 920 277 Frauen (52,6 %) und 828 367 Männer (47,4 %). In den Meldedaten für 2020 gab es insgesamt 38 641 Todesfälle, bei denen in 31 638 Fällen (81,9 %) COVID-19 als Todesursache übermittelt wurde. Auf Männer entfielen 52,6 % dieser Todesfälle, 89,0 % der Verstorbenen waren 70 Jahre oder älter.

 

Durch Tod verlorene Lebensjahre (YLL)

Insgesamt gingen im Jahr 2020 durch COVID-19-Todesfälle in Deutschland 303 608 Lebensjahre verloren. Auf Frauen entfielen 121 114 (39,9 %) und auf Männer 182 494 YLL (60,1 %). Durchschnittlich verlor jede verstorbene Person 9,6 Lebensjahre; Frauen verloren weniger Lebensjahre als Männer (8,1 versus 11,0 Jahre). Bis zum 8. April 2020 stiegen die Zahlen auf etwa 2 300 YLL täglich an und blieben bis zum 17. April 2020 weitgehend konstant. Ab Ende April sank die Zahl der YLL auf ein sehr niedriges Niveau und stieg ab Oktober wieder (Grafik 1). Unter der Annahme geringfügiger saisonaler Schwankungen der NCD-Mortalität lässt sich auf Basis der Todesursachenstatistik vermuten, dass die Zahl der YLL durch COVID-19 für einige Tage höher war als die Zahl der tagesmittleren YLL infolge wichtiger NCD sowie unterer Atemwegsinfekte in 2017 (Grafik 1, rote Linie). Die kumulierten Mittelwerte legen nahe, dass sich die COVID-19-Krankheitslast durch Versterben bis Dezember unterhalb der 2017 für diese Erkrankungen gemessenen Tagesmittelwerte einpendelte (Grafik 1, grüne Linie). Ab Dezember überstieg der kumulierte Mittelwert und damit auch das Gesamtjahresmittel (blaue Linie) für COVID-19 die YLL für die unteren Atemwegsinfekte aus 2017, blieb aber unterhalb der YLL für die wichtigsten nichtübertragbaren Erkrankungen.

Mit dem Alter nahm bei Personen mit COVID-19 die Zahl der YLL zunächst zu. Mit Ausnahme der 90-Jährigen und Älteren wiesen Männer einen deutlich größeren absoluten Verlust an Lebensjahren durch COVID-19 auf als Frauen. Bei den 90-Jährigen und Älteren gingen die YLL bei beiden Geschlechtern in absoluten Zahlen stark zurück. Relativ betrachtet stiegen die YLL bis ins hohe Alter weiter an (Grafik 2).

Grafik 2
Durch Tod verlorene Lebensjahre (YLL) 2020 bei Personen mit COVID-19 in Deutschland nach Alter und Geschlecht (Anzahl und pro 100 000 Einwohner)

Aufgrund der höheren Restlebenserwartung jüngerer Verstorbener entfiel im Jahr 2020 dennoch ein relevanter Anteil der YLL durch COVID-19 auf die Gruppe der unter 70-Jährigen. Bei Frauen entstanden 20,6 % und bei Männern 34,6 % der durch Tod verlorenen Lebensjahre vor Vollendung des 70. Lebensjahres. Im Mittel verloren diese Personen 25,2 Lebensjahre (Tabelle).

Tabelle
Übermittelte Fälle (Infizierte, Todesfälle) und Krankheitslast durch COVID-19 (YLL, YLD, DALY), anteilig nach Altersgruppen und Geschlecht

Die Sensitivitätsanalyse zeigt zeitlich anschließend an die Influenzawelle 2019/2020 eine geschätzte Übersterblichkeit von Ende Februar bis Anfang April und ab Ende Oktober (eGrafik 4), insbesondere für 70-Jährige und Ältere (eGrafik 5). Dazwischen stimmt die beobachtete Sterblichkeit relativ gut mit dem zu erwartenden Verlauf der Hintergrund-Sterblichkeit überein, unterbrochen von einer hitzebedingten Übersterblichkeit im August. Verglichen mit den Vorjahren verlief die Übersterblichkeit im Frühjahr etwa auf dem Niveau der Influenzawelle 2019 und war im Herbst ähnlich wie in den Influenzawellen 2017/2018 (eGrafik 6). Insgesamt korrespondieren die übermittelten COVID-19-Sterbefälle und die Übersterblichkeit gut miteinander. In Zeiten einer besonders hohen Übersterblichkeit, in den Kalenderwochen 14 und 15 und seit Kalenderwoche 49, lag die Übersterblichkeit allerdings über der Zahl der übermittelten COVID-19-Sterbefälle (eGrafik 4).

Grafik 4
COVID-19-Krankheitslast insgesamt (DALY) 2020 in Deutschland auf Ebene der Raumordnungsregionen (pro 100 000 Einwohner); eGrafik 7 zeigt den Vergleich mit einer Darstellung auf Grundlage der nichtaltersstandardisierten Daten.
eGrafik 4
Geschätzte Übersterblichkeit in Deutschland im Jahr 2020 im Vergleich zur Zahl der gemeldeten COVID-19-Todesfälle
eGrafik 5
Übersterblichkeit in Deutschland im Jahr 2020 im Vergleich zur Zahl der gemeldeten COVID-19-Todesfälle, nach Altersgruppen
eGrafik 6
Modellierung der Hintergrundmortalität in Deutschland 2015–2020

Durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre (YLD)

Durch gesundheitliche Einschränkungen verloren an COVID-19 erkrankte, nicht verstorbene Personen im Jahr 2020 in Deutschland 2 033 Lebensjahre. Frauen verloren mit 1 005 YLD geringfügig weniger Lebenszeit als Männer mit 1 028 YLD. Im Altersverlauf stieg die Zahl der YLD zunächst an und ging im höheren Alter wieder zurück (Grafik 3). Die 50- bis 59-Jährigen waren am stärksten betroffen. Die Ergebnisse spiegeln die Altersverteilung der übermittelten Fälle in den Meldedaten wider (eGrafik 1). Entsprechend entfielen bei Männern wie Frauen mehr als 70 % der YLD auf Personen unter 70 Jahre (Tabelle).

Grafik 3
Verlorene Lebensjahre durch gesundheitliche Einschränkung (YLD) 2020 bei Personen mit COVID-19 in Deutschland nach Alter und Geschlecht (Anzahl und pro 100 000 Einwohner)

Bezogen auf die Bevölkerung stieg die Zahl der YLD aufgrund der altersspezifischen Schweregradverteilung (eGrafik 3) jedoch mit dem Alter stetig an und war bei den 90-Jährigen und Älteren am höchsten (Grafik 3). Insgesamt entfallen auf 100 000 Einwohner (EW) im Untersuchungszeitraum 2,45 YLD. Bei Frauen liegt dieser Wert mit 2,39 YLD/100 000 EW etwas niedriger als bei den Männern mit 2,51 YLD/100 000 EW.

eGrafik 3
Schweregradverteilung von SARS-CoV-2-Fällen 2020 in Deutschland (ohne Verstorbene) nach Kalenderwoche

In den Sensitivitätsanalysen reagieren die YLD auf die angenommene Erkrankungsdauer. Bei einer schweregradübergreifenden Erkrankungsdauer von fünf Tagen ergeben sich 574 YLD (0,69 YLD/100 000 EW), bei 15 Tagen 1 723 YLD (2,08 YLD/100 000 EW) und bei 28,4 Tagen, wie in einer Studie aus Südkorea (7), 3 262 YLD (3,93 YLD/100 000 EW). Aufgrund des hohen Anteils der YLL an der Krankheitslast von COVID-19 würden andere Erkrankungsdauern aber insgesamt kaum ins Gewicht fallen.

 

COVID-19-Krankheitslast insgesamt (DALY)

Zusammengenommen gingen in der deutschen Bevölkerung im Jahr 2020 305 641 Lebensjahre aufgrund von COVID-19 verloren (368,2 DALY/100 000 EW). Mit einem Anteil von 99,3 % entfiel der Großteil der DALY auf die YLL. Während allerdings bei den 10- bis 19-Jährigen die YLD etwa 40 % der DALY ausmachten, sank bei den 60- bis 69-Jährigen der Anteil unter ein Prozent. Zudem entfiel auch bei den DALY ein nennenswerter Teil auf Personen unter 70 Jahre (Tabelle).

Die Krankheitslast durch COVID-19 war in West- und Süddeutschland höher, in Nord- und Nordostdeutschland geringer. Nach Altersstandardisierung bleiben die regionalen Unterschiede bestehen (Grafik 4, eGrafik 7). Insbesondere in Raumordnungsregionen in Bayern und Sachsen war die Krankheitslast besonders hoch. Hierin spiegelt sich das Infektionsgeschehen der ersten und zweiten Infektionswelle mit hohen Fallzahlen in Bayern und Baden-Württemberg und in der zweiten Welle insbesondere auch in Sachsen.

eGrafik 7
COVID-19-Krankheitslast insgesamt (DALY) 2020 in Deutschland auf Ebene der Raumordnungsregionen (pro 100 000 Einwohner)

Diskussion

In Deutschland gingen im Jahr 2020 insgesamt schätzungsweise 305 641 Lebensjahre (DALY) durch COVID-19 verloren. 99,3 % der Krankheitslast entfielen auf Verstorbene (303 608 YLL), 0,7 % auf verlorene Lebensjahre infolge gesundheitlicher Einschränkungen (2 033 YLD). Jede verstorbene Person hat im Mittel etwa 9,6 Lebensjahre verloren. Männer verloren mit etwa 11,0 Jahren im Mittel mehr Lebensjahre durch Versterben als Frauen mit etwa 8,1 Jahren. Bei Männern entfielen zudem 34,6 % der durch Tod verlorenen Lebensjahre auf Personen unter 70 Jahre, bei Frauen 20,6 %.

 

Die Geschlechterunterschiede im Verlust an Lebenszeit sind dadurch bedingt, dass Männer mit COVID-19 häufiger als Frauen und vermehrt bereits vor Vollendung des sechsten Lebensjahrzehnts versterben. Dies entspricht der Befundlage, nach der sich Frauen etwas häufiger infizieren, Männer aber häufiger bereits in jüngerem Alter schwer erkranken. Durch die längere Restlebenserwartung jüngerer Menschen schlägt sich dies in den YLL zuungunsten der Männer nieder.

 

Die dynamische zeitliche Entwicklung und der zwischenzeitliche Rückgang der YLL waren von den Maßnahmen der Pandemiekontrolle und saisonalen Effekten mitbestimmt (10). Seit August kam es zu einem spürbaren Wiederanstieg der Infektionen, der wegen des jüngeren Lebensalters der infizierten Personen und des steigenden Anteils leichter Krankheitsverläufe bis Anfang Oktober kaum Einfluss auf die Krankheitslast hatte (Grafik 1, eGrafik 1 und 3). Kumulativ betrachtet blieben die YLL durch COVID-19 im Jahr 2020 unterhalb des üblichen Verlusts an Lebenszeit durch weitere wichtige Todesursachen. Die Analyse der Übersterblichkeit legt aber nahe, dass die COVID-19-Pandemie am Ende des Jahres 2020 etwa das Niveau schwerer Influenzawellen erreicht hat.

 

Allerdings stellt der vorgenommene Vergleich mit den YLL weiterer Erkrankungen aus dem Jahr 2017 erst eine vorläufige Einordnung der Krankheitslast von COVID-19 dar. So sind saisonale Unterschiede, die es bei den Erkrankungen der unteren Atemwege und in begrenztem Umfang auch bei einigen NCD gibt, in der vorliegenden Darstellung geglättet. Des Weiteren ist bei COVID-19 von einem multikausalen Sterbegeschehen auszugehen; die unikausale Erfassung der Todesursachen in Deutschland ist in dieser Hinsicht problematisch. Weiterführende Analysen, zum Beispiel auf Basis der Todesursachenstatistik 2020, können aber künftig zeigen, ob bei den laut Meldedaten Verstorbenen in vergleichbarem Umfang COVID-19 als zugrunde liegende Todesursache kodiert wurde. Zudem kann ermittelt werden, inwieweit sich das Sterbegeschehen auch für andere Todesursachen verändert hat und die Übersterblichkeit möglicherweise von gegenläufigen Effekten beeinflusst ist. So gingen die Kontaktbeschränkungen mit einer geringeren Verkehrsunfallsterblichkeit einher , das zögerliche Aufsuchen von Notaufnahmen möglicherweise mit einer erhöhten Herz-Kreislauf-Sterblichkeit.Andere Krankheitslaststudien zu COVID-19 adjustieren bei Berechnung der YLL die Restlebenserwartung für bestehende Vorerkrankungen. Demgegenüber wurde hier, angelehnt an die „Global Burden of Disease“-Studie, für alle Verstorbenen eine krankheitsunabhängige altersspezifische Restlebenserwartung angelegt (19). Dadurch wird die mittlere erreichbare Lebenserwartung zum Maßstab für den Verlust an Lebenszeit. Quantifiziert wird ein durch Prävention und Versorgung „idealerweise“ potenziell vermeidbarer Verlust an Lebensjahren (eMethodenteil 3).

 

Der hohe Anteil der YLL an der Krankheitslast von COVID-19 entspricht etwa dem Anteil der YLL bei unteren Atemwegsinfekten der „Global Burden of Disease“-Studie (20). Die Höhe der YLD reagiert aber sensitiv auf methodische Grundannahmen (eMethodenteil 3). Zudem bilden die gemeldeten SARS-CoV-2-Infektionen durch Untererfassung nicht das ganze Erkrankungsgeschehen ab (3, 21). Auch ist die Schätzung der Schweregrade aufgrund teilweise fehlender Symptombeschreibungen mit Unsicherheit behaftet (eMethodenteil 1). Schlussendlich verdichten sich Hinweise, dass unberücksichtigte COVID-19-Spätfolgen die Gesundheit längerfristig beeinträchtigen können (22). Eine gewisse Unterschätzung der YLD muss in der vorliegenden Studie daher in Rechnung gestellt werden (eMethodenteil 3). Seroprävalenzstudien (23, 24) und klinische Forschung können helfen, Häufigkeit, Schweregradverteilung und Spätfolgen künftig besser zu erfassen.

 

Die vorliegende Analyse stellt eine erste Quantifizierung der Krankheitslast von COVID-19 in Deutschland dar. Die Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung unter Berücksichtigung von Todesfällen, Erkrankten, Schweregraden und Erkrankungsdauern im Pandemieverlauf lassen sich mit wenigen Kennzahlen darstellen und mit anderen Erkrankungen vergleichen. Dadurch wird deutlich, welche Auswirkungen eine ungehinderte Virusverbreitung auf die Bevölkerungsgesundheit zeitweise haben kann. Zudem werden der Einfluss von COVID-19 auf die Gesundheit jüngerer Altersgruppen wie auch Geschlechterunterschiede deutlicher, als es die Meldedaten nahelegen. Die Methode der Krankheitslastrechnung liefert damit zusätzliche Erkenntnisse für das Monitoring aktueller Pandemien, die für künftige Ausbrüche frühzeitig genutzt werden sollten.

Dieser Beitrag erschien online am 12. 02. 2021 (online first) auf www.aerzteblatt.de

 


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