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Auf Vorrat grausam

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR 

 

Eine Radiosendung am Donnerstagabend; der «Doppelpunkt» auf SRF 1. Wenn es sich ums Fernsehen handeln würde, müsste man sagen: Beste Sendezeit, 60 Minuten zwischen acht und neun. Aber wer hört schon Radio zu dieser Stunde, ausser einigen Autofahrern und ein paar Sehbehinderten?

 

Moderatorin Christine Hubacher diskutiert mit Gästen das Problem junger, abgewiesener Asylbewerber, die in ihr Herkunftsland zurückreisen müssten, wenn dieses nicht Eritrea oder Afghanistan wäre – Staaten also, mit denen die Schweiz kein Rückführungsabkommen hat. Ihre Heimatländer nehmen diese Menschen nicht zurück. Gehen sie nicht freiwillig, so können sie in der Schweiz bleiben, aber ohne Happy-End: rechtlos, arbeitslos, perspektivlos, und zwar auf so unbestimmte Zeit wie ein Delinquent in einer amerikanischen Todeszelle. Mit dem Unterschied, dass sie nichts verbrochen haben, ausser etwa, dass – wie in einem belegten Einzelfall – ein junger Mann vom Islam zum Christentum konvertierte, weshalb ihm bei Rückkehr in seine Heimat sogleich die Ermordung durch seine Brüder drohen würde, die ihre Familie von der Schande reinigen müssen. Weshalb ihm in der Schweiz das Asyl im ersten und im zweiten Entscheid verweigert wurde, bleibt das Geheimnis der zuständigen Behörden.

 

Nun gibt es unter diesen jungen Menschen solche, die sich in der Schweiz so gut integriert haben, dass sie eine Berufslehre beginnen konnten, ehe der abschliessende Asylentscheid vorlag. Im «Doppelpunkt» vom Donnerstag wurden zwei Fälle konkretisiert: ein angehender Maler (seit sechs Jahren in der Schweiz) und ein angehender Käser. «Angehend», wenn man sie denn ihre Berufe angehen liesse… Nach dem zweiten negativen Entscheid auf ihre Asylanträge mussten beide jungen Männer ihre Lehre aufgeben und hatten sich in ein Ausschaffungszentrum zu verfügen, von wo sie nicht ausgeschafft werden dürfen. Amtlich verordnetes, zermürbendes Nichtstun bei acht Franken Nothilfe pro Tag auf unabsehbare Zeit für junge, vitale Menschen, die nichts lieber täten, als ihr Leben in die Hand zu nehmen. Arbeit für sie gäbe es zu Hauf. Nicht nur in der Lehre beim Maler- oder beim Käsermeister, sondern beispielsweise in Pflegeberufen oder in anderen Tätigkeiten, die von jungen Schweizerinnen und Schweizern nicht so gerne übernommen werden.

Es ist schwer zu entscheiden, welches Mass das andere übertrifft: Das Mass der Unmenschlichkeit der hier zelebrierten Paragraphenfuchserei oder das Mass des ökonomischen Schwachsinns, dem im Namen des Rechtsstaats gehuldigt wird. Zuerst investiert man in die jungen Menschen, die mit Hoffnung zu uns geflüchtet sind, schickt sie durch die Schulen, finanziert ihnen Sprach- und Integrationskurse, und dann, wenn die Investition sich auszahlen könnte, verurteilt man sie zur totalen Vitalitätsbremse, zum lebendigen Totsein. Die menschliche Katastrophe, die man ihnen ohne Not antut, kann gar nicht gewichtet werden, ebenso wenig der Frust und die Ressentiments, die man sinn- und vernunftfrei heranzüchtet.

 

Als die hier geschilderte Problematik im Dezember im Nationalrat debattiert wurde, sprach Bundesrätin Karin Keller-Sutter von ganz wenigen Einzelfällen, für welche sich immer eine pragmatische Lösung finden würde. Der «Doppelpunkt» entlarvte dieses Statement als inhaltsleere Schutzbehauptung mit dem Zweck, allfällige menschliche Bedenken – wie sie sogar innerhalb der FDP- und SVP-Fraktion nicht ganz ausgeschlossen werden können – im Keim zu ersticken. Die in der SRF-Gesprächsrunde anwesende Politikerin (Nationalrätin Barbara Steinemann, SVP) machte sich die Aussage der Justizministerin denn auch ungeprüft zu eigen; dass sie von einer Bundesrätin stammte, reichte als Faktencheck. Tatsache ist aber, dass es um eine dreistellige Zahl von Fällen geht. Genauere Angaben waren nicht möglich; entweder führen die Asylbehörden darüber keine Statistik oder sie dürfen sie nicht veröffentlichen. Auch das ist ein vielsagender Punkt.

 

In der berühmten Flüchtlingsdebatte von 1942 im Nationalrat, als Bundesrat von Steiger das Wort vom übervollen Boot prägte, hielt ihm Alfred Oeri, der liberale Chefredaktor der «Basler Nachrichten» die rhetorische Frage entgegen, ob wir denn auf Vorrat hin grausam sein müssten. Sie bleibt das gültige Argument gegen das ewige Mantra jeder schweizerischen Asyldebatte, wenn wir jetzt nicht hart seien, dann würde sich das rächen. Unsere Milde würde sich sofort herumsprechen, wir würden überrannt, alle Schleusen wären geöffnet.

 

Das ist nichts als unbelegte Angstmacherei. Sollte es tatsächlich einmal der Fall sein, dass alle offenen Lehrstellen in den Käsereien und Malerwerkstätten besetzt wären, dann wäre immer noch Zeit, über Verschärfungen zu reden. Besonders unmenschlich zu sein, hat mit bürgerlicher Politik ebenso wenig zu tun wie ökonomische Stupidität mit rechtsstaatlicher Konsequenz. Viel eher wäre zu fragen, wie unmenschlich unser Rechtsstaat sein darf, um noch als solcher zu gelten? Und wie unökonomisch unser Handeln, bis wir verstehen, dass es uns im Grunde einzig um unsere Angst vor allem Fremden geht? Würden wir wirklich rechnen, dann liesse sich kaum das Ergebnis vermeiden, dass es sich sogar ökonomisch lohnen würde, einmal auf Vorrat menschlich zu sein.


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