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Der Schaden und die Folgen von christlichem Fundamentalismus

DMZ –  GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Natalie Barth ¦

KOMMENTAR

 

Welche langfristigen Folgen hat es, in einer Gruppe wie den Zeugen Jehovas oder einer anderen christlich fundamentalen Gruppe aufzuwachsen oder zumindest eine Zeitlang angehört zu haben? Welche Folgen hat es dort wieder auszusteigen oder sogar ausgeschlossen zu werden? Eine erstmalige neue Studie zu diesem Thema von der Schweizer Universität UZH in Zürich soll für Aufklärung und vor allem Hilfe für Betroffene sorgen.

 

Wenn mich ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas, von Freikirchen oder anderen Gruppen kontaktieren, wird mir manchmal erst das ganze Dilemma bewusst, das streng ausgelebte Religion im Leben eines Menschen tatsächlich auslösen kann. Und dass mein Fall – ich wuchs bei den Zeugen Jehovas auf - erstens kein Einzelfall ist und zweitens es noch wesentlich traumatischere Schicksale gibt. Und vor allem, dass das was die Zeugen Jehovas zu einer problematischen Gruppe macht, leider in vielen anderen Glaubensgemeinschaften ebenso zu finden ist.

 

Manche Glaubensgemeinschafen benutzen die Bibel und die Religion als Waffe, und fügen damit der Psyche einen sehr tiefen Schaden zu. Schwulen, Lesben und Transsexuellen wird zum Beispiel gesagt, dass Gott sie nicht annehmen kann. Unverheirateten wird gesagt, dass sie in Sünde leben. Und viele natürliche menschliche Wünsche und Bedürfnisse werden als böse angesehen. Das ist nur ein ganz kleiner Abriss dessen, was in solch problematischen Gruppen geschieht. Sexueller Missbrauch und viele andere schwerwiegende Eingriffe in das Leben von Menschen kommen oftmals noch dazu.

 

Um was genau geht es bei dieser Studie?

Durch diese Studie sollen die langfristigen Folgen erforscht und sichtbar gemacht werden, die entstehen, wenn man in einer Gruppe wie den Zeugen Jehovas oder ähnlichen fundamentalen christlichen Glaubensgemeinschaften aufwächst bzw. eine Zeitlang Mitglied war. Es geht also vor allem darum, mit was ehemalige Mitglieder selbst nach vielen Jahren noch zu kämpfen haben und wo der problematische Zusammenhang zur Glaubensgemeinschaft bestehen könnte.

 

Es ist vollkommen klar, dass das Problem „Fundamentalismus“ nicht nur in christlichen Gruppierungen zu finden ist. Diese Studie konzentriert sich aber nur auf diese Richtung, da durch die Gemeinsamkeiten der diversen Gruppen die Ergebnisse leichter zu deuten sind.

 

Erfasst werden sollen in dieser Online-Umfrage, die jeder Betroffene anonym und bequem vom PC aus ausfüllen kann, die psychische Belastung und aber auch die Resilienz nach einem Austritt oder Ausschluss aus einer (fundamentalen) christlichen Glaubensgemeinschaft. So werden in dieser Studie beispielsweise Fragen gestellt, die das aktuelle Stresserleben, den Gesundheitszustand, schwierige Kindheitserlebnisse, Emotionsregulation und vieles weitere betreffen.

 

Ziel der Studie: Sensibilität in der Öffentlichkeit und vor allem im therapeutischen Umfeld

Diese Studie soll die Öffentlichkeit und ganz besonders Menschen in therapeutischem Umfeld, wie Psychologen / Psychotherapeuten sensibel dafür machen, dass es Menschen gibt, die zum Teil mit katastrophalen psychischen, physischen und sozialen Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Und dass eine Zugehörigkeit zu einer fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft der Grund hierfür sein könnte, auch wenn diese Mitgliedschaft möglicherweise bereits Jahre zurückliegt. Ausserdem kann selbst der Austritt oder der Ausschluss an sich ein Trauma auslösen oder andere Folgen nach sich ziehen.

 

Im Englischen gibt es den Begriff „Religious Trauma Syndrom“, den die amerikanische Therapeutin Marlene Winell geprägt hat. Er ist zwar kein Teil des offiziellen Diagnose-Katalogs in der Medizin, aber dieses Syndrom ist vor allem in den USA, mehr und mehr aber auch in anderen Ländern, längst angekommen. Leider steckt die Erforschung dieses Syndroms immernoch in den Kinderschuhen. Diese Studie könnte deshalb ein Meilenstein sein, der Betroffenen zukünftig gezieltere therapeutische Hilfe ermöglicht.

Gemäss der New York Times „leiden viele jahrzehntelang an Symptomen, die einer posttraumatischen Belastungsstörung ähneln, einschließlich Angstzuständen, Selbstzweifeln und Gefühlen der sozialen Unzulänglichkeit.“ Und das explizit als Folge von religiöser Indoktrination und geistlichem Missbrauch.*

Selbst nachdem Menschen eine fundamentale Glaubensgemeinschaft verlassen, in denen sie Missbrauch erlitten haben, können sie immer noch die emotionale Überzeugung hegen, dass sie "im Grunde sündig und falsch" sind, sagt Marlene Winell.

 

Winell wurde von Missionarseltern in Taiwan aufgezogen, deren Religion ihr, wie sie sagt, beigebracht hat, dass sie als Kind nie gut genug war. Sie kämpfte jahrelang damit, "herauszufinden, wie man das Leben genießen kann", denn sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie Freude empfand.

 

Einige Symptome, die bei Menschen, die am «Religious Trauma Syndrome» leiden, anscheinend häufig auftreten, sind folgende:

  • Verwirrende Gedanken und verminderte Fähigkeit, kritisch zu denken
  • Negative Überzeugungen über sich selbst, andere und die Welt
  • Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen
  • Gefühle von Depression, Angst, Trauer, Wut, Lethargie
  • Ein Gefühl der Verlorenheit, Richtungslosigkeit und Einsamkeit
  • Fehlen von Freude oder Interesse an Dingen, die Ihnen früher Spaß gemacht haben
  • Verlust einer Gemeinschaft (Familie, Freunde, romantische Beziehungen)
  • Das Gefühl, isoliert zu sein oder nicht dazuzugehören
  • Das Gefühl, bei kulturellen Ereignissen "in der Zeit zurückgeblieben" zu sein
  • Und viele andere Symptome der PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), einschließlich Albträume, Flashbacks, Dissoziation, emotionale Schwierigkeiten, etc. *

Ziel der Studie: Quantifizierung

Es soll eruiert werden, wie viele Betroffene es denn überhaupt gibt. Von Seiten dieser kritisierten Religionsgemeinschaften – wie den Zeugen Jehovas - wird oftmals behauptet, es handle sich um Einzelfälle, die nichts mit dem Verhalten und den Lehren der Gemeinschaft zu tun haben, sondern „genau gleich vorkommen, so wie im übrigen Teil der Gesellschaft“. Es gäbe da z.B. keinen signifikanten Unterschied in der Anzahl von Menschen mit psychischen Störungen oder Opfern von sexuellem und emotionalem Missbrauch.

 

Je mehr Menschen über ihre eigenen Erfahrungen öffentlich sprechen – so wie ich auf meinem YouTube-Kanal - desto glaubwürdiger wird natürlich auch das, was wir sagen und desto weniger wird das Argument «Einzelfall» ernst genommen.

Aus berechtigten Gründen können viele Betroffene allerdings nicht so öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen, wie ich das tue. Vielen ist nicht einmal bewusst, dass ihre Probleme auch von ihrer religiös geprägten Vergangenheit herrühren könnten.

 

Vielleicht sind manche auch noch offiziell in der Gemeinschaft registriert, haben innerlich aber bereits seit langer Zeit damit abgeschlossen. Sie können sich aber nicht outen, weil sie dann den Verlust des sozialen Umfelds in Kauf nehmen müssten, z.B. ihre Kinder oder ihre Eltern nicht mehr sehen dürften oder auch finanziell von jemandem abhängig sind, der noch in der Gemeinschaft bleibt. Dies ist vor allem ein Dilemma, in dem Mitglieder von Zeugen Jehovas stecken. Ich wurde schon des Öfteren von Menschen angeschrieben, die sich für meine Aufklärung bedankten, mir aber gleichzeitig sagten, sie seien nur noch wegen ihrer Familie Mitglied und könnten diesen Schritt des Austrittes nicht wagen, weil sie dann alles verlieren würden. Mir selbst ist genau das passiert: Ich verlor meine Eltern und meine beiden Schwestern, die den Kontakt zu mir nach meinem Ausstieg völlig abbrachen.

Und dann sind da auch noch der Druck, die Anfeindungen und die Kritik, welche man leider auch erlebt, wenn man so öffentlich über diese Erfahrungen spricht. Ich kann sehr gut verstehen, wenn man sich diesem Kampf nicht aussetzen möchte.

 

Darum ist diese Studie auch anonym. Man kann als Betroffener also zur Aufklärung beitragen, ohne sich den negativen Konsequenzen aussetzen zu müssen.

 

Die Studie wird von der Universität Zürich (UZH) - Professur «Psychopathologie und Klinische Intervention» durchgeführt. Die Schwerpunkte dieser Abteilung sind unter anderem Trauma- und Stressfolgestörungen sowie Resilienz. Was dort herausgefunden wird, wird wiederum in verschiedene Studiengänge mit einfliessen. Es ist mehr als dringend notwendig, dass vor allem Psychologen und Psychotherapeuten wissen, wie sie Menschen aus solchen Gruppierungen wirklich gezielt und nachhaltig helfen können.

Wenn Du also betroffen bist, kannst Du durch Deine Teilnahme an der Studie dabei mitwirken, dass sich wirklich etwas verändert. Dass anderen in Zukunft besser geholfen werden kann und dass die Probleme von Aussteigern aus (fundamentalen) christlichen Glaubensgemeinschaften in Zukunft auch ernst genommen werden. Denn an diesem Punkt sind wir grösstenteils noch lange nicht angekommen.

 

P.S.: Einen Haken hat die Sache noch: Im Moment können nur Betroffene aus Deutschland und der Schweiz teilnehmen. Es ist aber bereits ein Ethik-Antrag gestellt worden, diese Studie auch auf Österreich auszuweiten.

 

 

Studie/Umfrage für Betroffene: https://ww3.unipark.de/uc/landis_Universit__t_Z__rich__Psy/36c4/

 

Empfehlung YouTube-Video: Psychische Folgen für Aussteiger | Zeugen Jehovas | Freikirchen | Fundamentalistische Gruppen, Link: https://youtu.be/8BANFTFK7Tg

 

Quellen:


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Kommentare: 2
  • #1

    Charles Dawton (Samstag, 03 April 2021 00:03)

    Vielen Dank für diesen sehr informativen und hilfreichen Artikel.

  • #2

    Willi Bühler (Donnerstag, 13 Oktober 2022 16:09)

    Ich war 28 Jahre bei den Zeugen Jehovas, vier Jahre davon, als Missionar in Portugal. Trauma Bewältigung.
    Im Jahr 2000 stieg ich bei den Zeugen Jehovas aus. Inzwischen sind 22 Jahre vergangen, aber das Programm „Versammlung“ war im Unterbewusstsein bei mir noch immer aktiv. Unzählige Male träumte ich, dass ich in der Versammlung oder auf einem Kongress einen Vortrag halten sollte, aber ich hatte mein Manuskript zu Hause liegen lassen, oder es war unterwegs verloren gegangen, sodass ich den Vortrag nicht halten konnte. Mein Unterbewusstsein hatte noch immer nicht zur Kenntnis genommen, dass ich da schon längst weg bin – und das ist ein echtes Trauma! Ich fiel in ein tiefes Loch. Ein Therapeut riet mir, alles haarklein aufzuschreiben und mir das Aufgeschriebene jeden Tag vorzulesen, egal, wie weh es täte. Und das tat ich auch. Anfänglich bekam ich einen Wutanfall und anschließend die Krise. Aber mit jedem Mal beim Durchlesen des Textes wurde das Trauma, die brutale Erkenntnisse, dass man jahrelang angelogen und getäuscht wurde, weniger und weniger und am Ende stellte sich eine Erleichterung, ja sogar Heiterkeit ein. Über die mir zugefügten Verletzungen konnte ich am Ende sogar lachen! Und heute sind sie lediglich noch ferne Erinnerungen, die nicht mehr schmerzen. Daraus ist die Biografie BEIM RATTERN DER DREHBANK entstanden.