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DE: Bewertung der klinischen Daten mit großen Fragezeichen versehen

DMZ – GESUNDHEIT / WISSENSCHAFT ¦ Dirk Specht ¦

KOMMENTAR

 

Die aktuelle Situation seitens der Meldedaten erinnert sehr stark an den Jahresanfang, als wir aus der Weihnachts- und Silvesterpause mit beschaulich sinkenden Zahlen „plötzlich“ Tagesmeldungen von 1.000 Todesfällen wahrnehmen mussten.

Für besser informierte zum Jahresauftakt natürlich nicht überraschend, aber auch das wiederholt sich nun: Die Meldezahlen sind stark rückläufig und in der Folge sind Politik sowie Öffentlichkeit mal wieder zerstritten, ob man der Epidemie nun nochmals durch einen vermutlich mehrheitlich befürworteten „härteren“ Lockdown entgegen tritt oder die nächsten Öffnungen angezeigt sind.

 

Wirklich nachvollziehbar ist es nicht, dabei auf die gemeldeten Neuinfektionen zu verweisen, denn dass die nicht stimmen, sondern wie immer über Wochenenden oder jetzt eben Ferien/Feiertagspause einen unklaren Anstieg der Dunkelziffer aufweisen, sollte unstrittig sein. Die Pandemie hat natürlich weder die Weihnachtspause 2020 gemacht und Ostern 2021 dürfte sie auch nicht so freundlich gewesen sein.

 

 

Der Verdacht, dass erneut eine wachsende Dunkelziffer entstanden ist und diese Osterruhe gar nicht stattgefunden hat, wird begründet durch die jüngsten Testdaten. Demnach ist die Testmenge zuletzt von knapp 1,3 Millionen auf gut 1 Million zurück gegangen, während zugleich die Positivrate von 9,52% auf 11,33% angestiegen ist. Betrachtet man Testmengenentwicklung und das – durchaus nachvollziehbare – Wachstum der Positivrate in den Wochen zuvor, so ist dieses Ergebnis für die KW13 leider mehr als ein Indikator für eine deutlich gestiegene Dunkelziffer.

 

Nun kann – und sollte – man kritisieren, mit solchen Datenlücken im Jahr 2021 immer noch hantieren zu müssen. Ebenso mag man den Standpunkt vertreten, dass eine Verschärfung der Gegenmaßnahmen oder auch eine Verschiebung der geplanten Öffnungen ohne Datengrundlage nicht beschlossen werden kann. Dazu muss man aber erwähnen, dass zumindest diese Testdaten vorliegen und man sollte das Risiko erkennen, einen vermutlich unveränderten Wachstumstrend gerade mit inzwischen weitgehender Durchdringung von B117 zu ignorieren: Sollte der zuletzt gemeldete 20-Tage-Trend nämlich weiter gelaufen sein, haben wir im Feld tatsächlich eher bereits Tageswerte deutlich über der 20.000 pro Tag und wir brauchen zudem noch mindestens eine Woche mit stabileren Tests, um das zu erkennen. Tatsächlich ist leider in den nächsten Tagen nun mit wieder sehr sprunghaften Zahlen zu rechnen, die sich erst Mitte nächster Woche stabilisieren dürften.

Ich bleibe daher bei der Prognose, dass wir im April die zweite Welle übertreffen werden und dann im Mai die 50.000 im 7-Tage-Werte sehen. Verhindern könnte das nur eine Einigung auf eine Verschärfung der Maßnahmen, insbesondere seitens der Schulen.

Diese Einschätzung wird unterstützt durch die Situationen in den Kliniken. Das folgende Chart aus der FAZ zeigt die DIVI-Daten in kompakter Form. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass wir auf einem Niveau oberhalb der ersten Welle – unter bestehendem Lockdown! – bereits einen exponentiellen Wiederanstieg gesehen haben, der passend zum Trend der Daten vor Ostern ungebrochen weiter läuft. Wertvoll an der Darstellung der FAZ ist zudem, dass hier die freien Kapazitäten auf die für Covid-19 geeigneten Betten reduziert werden. In vielen, aus meiner Sicht oft absichtlich falsch dargestellten Berichten kursieren Zahlen von mehreren 10.000 Betten, die aber bis zu nicht einsetzbaren Notreserven alles mögliche an nicht einsetzbarem „Mobiliar“ einbeziehen.

 

Tatsächlich stehen für die extrem komplexe und aufwendige Covid-19 Behandlung ca. 7.800 Beatmungsplätze zur Verfügung (grüne Kurve) und davon sind nur etwas mehr als 2.000 noch frei. Bei dem vermutlich immer noch aktiven Trend von Verdopplungen alle 20 Tage ist das in der Tat im roten Bereich, die Alarmmeldungen der Intensivmediziner sind vollauf begründet!

 

Was man diesen Darstellungen nicht entnehmen kann, ist die Dynamik. Wie immer kann man in grafischen Charts exponentieller Prozesse bei linearer Skalierung die Steigung nicht erkennen. Daher habe ich meine alte Berechnung der Wachstumsraten wiederbelebt, eine Behelfsrechnung, die ich im November letzten Jahres aufgrund des Zusammenbruchs der Testinfrastruktur begonnen hatte und eigentlich nicht mehr verwenden wollte. Kein gutes Zeichen, dass es nun schon wieder so weit ist.

 

Wir erkennen hier, dass die Dynamik der dritten Welle bisher nicht die der zweiten entwickelt. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass der Anstieg im Oktober durch den Wildtyp ohne Lockdown und jetzt durch B117 unter bestehenden Maßnahmen zu verzeichnen ist.

Anders als in der linearen Darstellung ist hier nun klar erkennbar, dass es im Oktober 2020 deutlich steiler verlief. Aber wir sehen leider, dass die Situation mit dem Anstieg im Dezember vergleichbar verläuft und es gibt hier ebenfalls kein Signal der Abschwächung. Natürlich laufen auch diese Daten den Neuinfektionen hinterher, um mehr als eine Woche. Daher lässt sich daraus noch keine Aussage treffen, wie die Pandemie über Ostern tatsächlich reagiert hat. Aber auch dieser Trend ist vorher sehr stabil verlaufen, so dass die oben getroffene Aussage sich nochmals bestätigt.

 

Hinsichtlich der Belastung in den Kliniken ist anzumerken, dass aufgrund der recht guten Impfquote bei den über 80jährigen die Sterbefallzahlen möglicherweise anders ausfallen werden. Ich verzichte daher auch darauf, diese Daten zu nutzen, denn sie sind nicht mehr vergleichbar zu den bisherigen.

Meine Befürchtung ist jedoch, dass möglicherweise eine nicht so drastisch steigende Sterbefallzahl zu vollkommen falschen Reaktionen in der Politik und Öffentlichkeit verleitet: Die nun besondere gefährdete Gruppe sind die über 50jährigen, bei denen die Impfungen noch keine relevante Quote erreicht hat. B117 ist bekanntlich tödlicher, also biologisch gefährlicher. Das dürfte auch in dieser Personengruppe mehr Sterbefälle als bisher auslösen, in absoluten Zahlen aber möglicherweise weniger. Zugleich werden hier aber die schweren Verläufe zunehmen, die klinischen Daten legen das bereits nah, die LongCovid-Folgen eher den Tod „ersetzen“ und zudem die klinische Belastung nochmals steigern, denn diese Patienten liegen viel länger auf der Intensivstation.

Das große Problem für die öffentliche Debatte: Qualifizierte Daten werden bisher nur für die Beatmung und die Sterbefälle erhoben. Die Belastung in den Kliniken jenseits der Beatmung sowie die LongCovid-Fälle bleiben unter der Wahrnehmung.

Das ist für die Betroffenen, für das Personal in den Kliniken und für die Bewertung der Epidemie ein großer Fehler. Es ist leider nicht zu erwarten, dass der in unserem Datendrittland schnell behoben wird.

Insofern ist leider nun auch die Bewertung der klinischen Daten mit großen Fragezeichen versehen. Transparenz haben wir 2021 nicht gewonnen. Das ist nicht akzeptabel.


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