· 

Orbán will eine neue europäische Rechte aufbauen

János Széky (65, Foto) ungarischer Publizist, Leiter der Außenpolitik bei „Élet és Irodalom“, einer der noch existierenden liberalen Wochenzeitungen Ungarns.
János Széky (65, Foto) ungarischer Publizist, Leiter der Außenpolitik bei „Élet és Irodalom“, einer der noch existierenden liberalen Wochenzeitungen Ungarns.

DMZ – INTERNATIONAL ¦ János Széky ¦

KOMMENTAR

 

Mit „neu“ meint Orbán. dass er „keinen anderen Weg sieht, als die EVP zu verlassen“, also sich etwas Neues einfallen zu lassen, um der Machtelite Ungarns größeres Gehör in der EU zu sichern. Zuvor wurde nämlich seine Fidesz-Partei aus der Fraktion der EVP ausgeladen. Hier hilft es zu wissen, dass der Anteil Ungarns an der EU-Bevölkerung 2,2 Prozent und an der Wirtschaftskraft der EU 1,7 Prozent beträgt.

 

Diese Rechte wäre geographisch gesehen in der Tat europäisch. So weit, so gut. Laut Zusammenfassung des Propagandabüros der Orbán-Regierung richtet sich dieser Aufruf an europäische Bürger, „die weder Migranten noch Multikulturalismus wollen, sich nicht dem Wahn des LMBTQ ergeben, die christliche Kultur Europas schützen wollen, die Souveränität der Nationen respektieren und sich eher als Zukunft und nicht als Vergangenheit Europas sehen“. Beim Begriff „Bürger“ denkt man aber eigentlich eher an Politiker oder Influencer wie die polnische Regierungsmannschaft von Kaczynski oder an den Italiener Matteo Salvini. Das könnte für Orban problematisch werden, da diese ausersehenen Bündnispartner ihre innerpolitischen Interessen für wichtiger erachten als mit einer ideologischen Härte gegen die EU aufzutreten. Der Beweis ist Salvini, der mit seiner Lega nun in die Regierungskoalition von Draghi eingetreten ist oder auch der vehement russenfeindliche Kaczynski, der Orbán politisch nur bedingt folgt.

 

Verglichen mit der bisher sich eher als gemäßigt zeigenden Intelligenz verdient die Bestrebung Respekt, mit der die Propagandisten jetzt versuchen, eine auch international akzeptable ideologische Wunschliste zusammenzuschustern. Irgendwie ist es aber auch bezeichnend, wie destruktiv diese Liste ist: Sie beschäftigt sich hauptsächlich damit, was ihre Macher nicht wollen und wen sie ablehnen. Im Gegensatz zur Europäischen Volkspartei, zu deren Leitmotiven die Akzeptanz von Aufklärung und religiöser Toleranz gehören, denken sie unter dem Slogan „Christlichen Traditionen Europas“ vor allem an die Verhältnisse vor dem Liberalismus. Unter „Souveränität der Nationen“ verstehen sie die Finanzierung der jeweiligen Führungsklicke ohne Wenn und Aber. Das geschieht zwar auf Kosten der europäischen Steuerzahler, doch dafür werfen diese Gruppen die liberalen, demokratischen Grundsätze der EU getrost über Bord.

 

Da landen wir beim nächsten Problem: Was die ungarische Regierungspropaganda als neue demokratische Rechte bezeichnet, ist weder neu noch demokratisch. Sie wäre eher die Aufwärmung katholisch gefärbter faschistischer Experimente zwischen 1930 und 1940 der Regime von Salazar, Dollfuss und Schuschnigg, Franco und dem Vichy-Regime. Aber das gegenwärtige ungarische wirtschaftliche und politische System ist grundsätzlich anders. Es ist postkommunistisch und bedient sich reichlich der Requisiten der Demokratie wie „Wahlen“ oder der „Ablehnung von Zensur“ – wenn sie denn nicht ausgerechnet selbst die Redefreiheit einschränkt mit radikalen Propagandabeiträgen in den von ihnen beherrschten „öffentlichen“ Medien. Für eine Pseudoideologie kann man das durchgehen lassen. Doch deren Attraktivität ist zur Gründung einer kontinentalen, politischen Gruppierung, die jede Art antidemokratischer Bestrebungen deckt, nicht genug

Prophezeien ist nicht mein Ding, alles kann passieren, doch auf den ersten Blick erscheint es mir, eine Parteifamilie mit vergleichbarer Bedeutung wie die der Europäisches Volkspartei zu gründen, nicht als hoffnungsvolles Unterfangen. Insbesondere nicht auf Grund einer Ideologie, an die die Erfinder selbst nicht glauben. Diese Ideen können sich in Ungarn mit Hilfe und Routinen der Machthaber bewähren, es ist jedoch fraglich, ob sie auch dort fruchten, wo die Bedingungen anders sind.

 

Woran sie wirklich glauben, ist die aus dem Machtmonopol resultierende geschäftliche Effizienz und deren Erfolg in der Innenpolitik gegen jeden Feind.

Man könnte zum Beispiel leicht behaupten, dass der Gradmesser des guten Regierens die Behandlung der Pandemie ist. Die Regierung ist umso besser, je kleiner die Zahl der Infizierten und der Verstorbenen ist und dass das gute Regieren direkt davon abhängig ist, in welchem Maße demokratische Grundsätze beachtet werden. Aber so ist es nicht. Gemäß den Angaben des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ecdc) werden die größten Sterberaten aus der Tschechei, aus der Slowakei und aus Ungarn (in dieser Reihenfolge) gemeldet. In allen drei Ländern diskutierte man über Import des russischen Vakzins Sputnik-V. In der Tschechei auch über das chinesische Sinopharm. In Ungarn wurden beide, von der EMA nicht zugelassene Vakzine, gleich massenhaft geimpft.

 

Orbán ist natürlich daran interessiert, die Pandemie zu besiegen und damit eine baldige Erholung der Wirtschaft zu erreichen. Das ist aber nicht sein einziges und schon gar nicht sein wichtigstes Ziel. Genauso wichtig dürfte ihm der politische Sieg über die Opposition sowie der wirtschaftliche Nutzen daraus sein. Was letzteres betrifft, hat der Premier recht: “Wenn es um Menschenleben geht, ist es unmoralisch, das Vakzin politisch zu instrumentalisieren“.

 

Wie wahr, wer spricht aber im Falle der ungarischen Regierung über Moral?

Das Versprechen, dass man vom übriggebliebenen Vakzin die ungarische Minderheit jenseits der Grenze bedienen wird, ist zwar politisch vernünftig, dennoch dürfte das weder den Regierungen der benachbarten Länder, noch der dort lebenden ungarischen Minderheit gefallen. Wie mein ungarischer Bekannter aus Siebenbürgen erzählt, ist das Impfen in Rumänien erstaunlich gut organisiert. Er hätte sich online registriert, er bekäme auch einen Termin, sobald es einen freien Platz gibt. Er wäre aber nicht bereit, sich mit dem russischen oder mit dem chinesischen Vakzin impfen zu lassen, ebenso wie auch Ministerpräsident Citu nicht. (Könnte es also sein, dass in Rumänien nicht alles davon abhängt, wer Regierungschef ist?) Dabei ist die Zahl der Neuinfizierten und der Verstorbenen in Rumänien gegenwärtig ein Bruchteil dessen von Ungarn.


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0