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Gravierende Langzeitfolgen, Interview Prof. Dr. Michael Bornstein

Prof. Michael Bornstein, UZB Basel
Prof. Michael Bornstein, UZB Basel

DMZ – GESZUNDHEIT / WISSEN ¦ MM ¦

 

Basler Studie über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Zahnmedizin

Gravierende Langzeitfolgen 

 

Das Universitäre Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB veröffentlicht dieser Tage die erste europaweite Studie über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Zahnmedizin. Diese sind erheblich. «Es ist jetzt unbedingt nötig, auch Vorsorge-Termine wieder wahrzunehmen», warnt Klinikvorsteher Michael Bornstein. «Zumal die Studie aufzeigt, dass die Schutzkonzepte funktionieren. Die Langzeitfolgen von verschleppten Untersuchungen könnten für die Mundgesundheit gravierend sein.»

 

Das Forschungsteam um Prof. Dr. Michael Bornstein und Dr. Florin Eggmann untersuchte die Zeit während des Lockdowns vom 16. März bis zum 27. April 2020, sowie die sechs Wochen zuvor und die sechs danach. Während des Lockdowns galt die Auflage, nur noch zahnmedizinische Notfälle zu behandeln. «Das machte zu diesem Zeitpunkt Sinn», sagt Michael Bornstein. Allerdings hat sich das Patienten- und Patientinnenverhalten längerfristig verändert als nur während dieser sechs Wochen. Dies könnte laut den Spezialisten weitreichende Folgen haben.

 

Zugang zu lokalen Notfalldiensten muss gewährleistet sein

Während des Lockdowns sind die Notfälle pro Tag am UZB um über zwanzig Prozent gestiegen. In den sechs Wochen danach sind sie aber nicht wieder signifikant zurückgegangen. Ebenfalls weniger behandelt wurden Patientinnen und Patienten mit Zahnunfällen und solche, welche akute Schmerzen als Grund für ihren Besuch im UZB angaben. Laut Michael Bornstein ein Zeichen, dass die Leute lieber ausharrten und Schmerzmittel nahmen, weil die Angst vor einer Covid-19-Ansteckung in einer zahnmedizinischen Einrichtung zu gross war. Dies bestätigt auch die Zahl der Abszesse, die sich aus solch verschleppten zahnmedizinischen Symptomen entwickelt haben. Während des Lockdowns hat sie sich verdoppelt, danach war sie noch immer um einiges höher als zuvor.

 

Zudem wurde beobachtet, dass die Patientinnen und Patienten während des Lockdowns von weiter her ans UZB kamen. Dies bedeutet, dass der Zugang zu lokalen zahnärztlichen Notfalldiensten während dieser sechs Wochen deutlich eingeschränkt war. «Es muss künftig sichergestellt werden, dass dieser auch während Ausnahmesituationen wie einer Pandemie gewährleistet ist», so Michael Bornstein. Laut dem Klinikleiter am UZB zeigt die vorliegende Studie auch auf, dass die Schutzkonzepte funktionieren. Dies beweise unter anderem die Tatsache, dass sich das UZB nie zu einem Corona-Hotspot entwickelt hat.

 

Die Ansteckungsgefahr ist minim

In seinem Alltag stellt Prof. Dr. Bornstein fest, dass die sich das Verhalten der Patientinnen und Patienten längerfristig geändert hat. «Es werden immer noch sehr viele Termine verschoben oder nicht eingehalten.» Dies sei bedenklich, denn die Langzeitfolgen eines solchen Verhaltens seien noch nicht abzuschätzen. «Wir empfehlen auch Risikopatientinnen und -patienten dringend, ihre zahnmedizinischen Untersuchungstermine wahrzunehmen. Die Gefahr, sich anzustecken, ist bei Einhaltung aller Schutzkonzepte minim.»

 

Die wichtigsten Fragen zu Covid-19 und Zahnmedizin

Soll ich Kontroll- und/oder Dentalhygiene-Termine wahrnehmen oder lieber verschieben?

Prof. Dr. Michael Bornstein: Wer unsicher ist, ob ein Zahnarztbesuch notwendig, sinnvoll oder gefährlich ist, soll sich telefonisch erkundigen. Natürlich kann man immer mal einen Termin verschieben, aber grundsätzlich hat jede Untersuchung einen Sinn. Es ist empfehlenswert vor einer Verschiebung Rücksprache zu nehmen.

 

Was ist, wenn ich Risikopatientin, bzw. Risikopatient bin?

Auch dann ist es sinnvoll, Termine einzuhalten. Ich glaube, die Gefahr, sich bei einer Anreise in Öffentlichen Verkehrsmitteln anzustecken, ist wesentlich höher als beim Zahnarzt. Im UZB schauen wir deshalb, dass wir Termine für Risikopatientinnen und -patienten so legen, dass sie nicht gerade zu Stosszeiten anreisen müssen. Darauf kann auch die Patientin/der Patient achten.

 

Was, wenn ich Covid-19-Symptome habe?

Wenn man keine zusätzlichen zahnärztlichen Symptome hat, dann sollte man den Termin schieben, bis man einen negativen Test hat.

 

Und was, wenn ich Zahnschmerzen habe und Corona-Symptome oder gar positiv getestet bin?

Auch dann empfiehlt es sich, im Vorfeld anzurufen und sich zu erkundigen. Im UZB haben wir für solche Fälle einen speziellen Untersuchungsraum, in dem entsprechende Patientinnen und Patienten isoliert werden können. Wer einen zahnärztlichen Notfall hat, sollte diesen auch mit Symptomen oder einem positiven Test behandeln lassen.

 

Das Universitäre Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB ist eine öffentlich-rechtliche Anstalt, die sich zu hundert Prozent im Besitz des Kantons Basel-Stadt befindet. Das UZB erfüllt Aufträge in der sozialen Zahnmedizin und in Lehre und Forschung. Darüber hinaus dient das UZB der kantonalen, regionalen und überregionalen zahnmedizinischen Versorgung, sowie der zahnmedizinischen Aus- und Weiterbildung. Im August 2019 bezog das UZB seinen neuen Standort an der Mattenstrasse 40 in Basel und verfügt damit über eine Infrastruktur auf europaweit modernstem Stand, an dem sowohl Forschung und Lehre als auch Patientinnen- und Patientenbehandlung vereint werden. Zusätzlich ist das UZB auf die zahnmedizinische Behandlung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert.

 

Gravierende Langzeitfolgen, Interview Prof. Dr. Michael Bornstein

Prof. Dr. Bornstein, welche wichtigsten Auflagen galten für zahnmedizinische Einrichtungen während des Lockdowns?

 

Am UZB (Universitäre Zentrum für Zahnmedizin Basel) haben wir in einer Task Force schon im Februar 2020 ein Schutzkonzept erarbeitet, welches wir laufend angepasst haben. Wie überall gelten bis heute zum Beispiel Maskenpflicht und Personenbeschränkungen. Die wichtigste Auflage war die, nur noch Notfälle zu behandeln. Also zum Beispiel keine jährlichen Kontrollen oder Dentalhygienetermine mehr. Das Spannende an der Studie war dabei festzustellen, ob es so zu längerfristigen Veränderungen des Patientenprofils gekommen ist.

 

Hat es das?

Es scheint so. Aber dies betrifft nur die Zeit sechs Wochen nach dem Lockdown im vergangenen Frühling. Alles, was danach war, ist noch nicht wissenschaftlich untersucht, aber ich persönlich merke immer wieder, dass es Absagen gibt, dass Patientinnen und Patienten Termine nicht wahrnehmen möchten. Wir sind praktisch seit einem Jahr in einem Notfall-Zustand.

 

Ihre täglichen Notfälle während des Lockdowns haben sich um über zwanzig Prozent gesteigert. Wie ist dies zu erklären?

Das liegt wohl unter anderem daran, dass viele Zahnarztpraxen während des Lockdowns zunächst geschlossen haben, zum Beispiel, weil sie die Schutzkonzepte nicht einhalten konnten. Das zeigt auch der Fakt, dass die Notfallpatientinnen und -patienten im Lockdown von weiter her kamen.

 

Verwunderlich ist, dass weniger Patientinnen und Patienten als Grund des Notfall-Besuches akute Schmerzen beannten als zuvor. Man würde denken, dass die meisten mit einem Zahnarztbesuch zugewartet haben, bis die Schmerzen kaum mehr erträglich waren.

Oder sie harrten länger zu Hause aus und nehmen Schmerzmittel, weil die Angst vor einer CoronaAnsteckung auf dem Weg zu uns oder in der Klinik überwog. Die längerfristigen zahnmedizinischen Folgen davon werden sich erst noch zeigen – wie übrigens in der Medizin auch, ganz zu schweigen von psychischen Langzeitfolgen. 

 

Ebenfalls etwas verwunderlich ist, dass der Altersunterschied unverändert blieb.

Offenbar war die altersmässige Risikogruppe nicht besonders vorsichtig. Das mag daran liegen, dass wir beim UZB sehr viele Kinder behandeln, und sich dieser Effekt dadurch etwas abschwächt. Bei anderen zahnmedizinischen Zentren würde das vermutlich anders aussehen.

 

Es gab sehr wenige Patientinnen und Patienten mit Covid oder Covid-Verdacht …

Wobei man sagen muss, dass es da mit Sicherheit eine Dunkelziffer gibt. Ich nehme an, dass die wahre Zahl damals höher war als heute, da ja kaum getestet wurde. Dass sich das UZB trotz dieser Tatsache nie zu einem Hotspot entwickelte, ist ein gutes Zeichen. Das zeigt klar, dass unsere Schutzmassnahmen funktionieren.

 

Trotzdem gab und gibt es immer wieder unvorsichtige Leute, welche trotz Covid-Symptomen Termine wahrnehmen, ohne das Zentrum darüber zu informieren. Haben Sie keine Angst vor einer Ansteckung?

Ich persönlich habe dies nicht, nein. Ich vertraue auf unsere Schutzmassnahmen am Haus; sie sind abgesichert und haben sich bewährt. In der gesamten Pandemie-Zeit gab es bisher nur einen einzigen Patienten, welcher einen Tag nach seinem Besuch am UZB positiv auf Corona getestet wurde, worauf die ihn behandelnde Zahnärztin ebenfalls positiv getestet wurde. Dennoch können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass die Ansteckung am UZB erfolgt ist. Wir waren da am Höhepunkt der zweiten Welle doch etwas «im Blindflug».

 

Welches ist Ihr Fazit aus dieser Studie?

Der Lockdown damals war richtig, weil man nicht wusste, was passieren wird. Aber wenn man gute Schutzmassnahmen trifft, kann man den Alltag – was die Zahnmedizin betrifft – durchaus relativ normal bestreiten. Es besteht kein Grund für die Patientinnen und Patienten, nicht zum Zahnarzt zu gehen, auch nicht für Routineuntersuchungen. Dies gilt auch für Risikopatientinnen und -patienten. Ich bin kein Epidemiologe, aber ich glaube, die Gefahr, sich bei der Anreise in den Öffentlichen Verkehrsmitteln anzustecken, ist höher, als dies hier am UZB der Fall ist.

 

Und die Langzeitfolgen, wenn man Kontrollen ewig vor sich hinschiebt …

… können im ungünstigen Fall gravierender sein als die Gefahr, sich anzustecken.


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