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Straumanns Fokus am Wochenende - Die Erfindung der Schweiz und die Verbürgerlichung der Welt

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

«Der erste, der, nachdem er einen Zaun um sein Grundstück gezogen hatte, damit zum Ausdruck bringen wollte: Dieses ist meins! und der genug Dumme fand, die ihm glaubten, war der wirkliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.» Eine leise Wehmut klingt an in diesen drei Zeilen aus der Feder von Jean-Jacques Rousseau, die sich in seiner Erziehungslehre «Emile ou de l’éducation» von 1762 finden – eine leise Wehmut über den Verlust einer Utopie, über das Abhandenkommen des Glaubens an eine gerechte Gesellschaft. Aber es war zu spät, der Zaun war gezogen, das bürgerliche Zeitalter angebrochen. Es liess Utopien nicht mehr zu. Nach dem ersten Einheger seines Grundstücks taten es ihm alle andern gleich und sicherten sich das, was sie fortan ihr «Eigentum» nannten. Kein Bild definiert die bürgerliche Gesellschaft besser als das von Privatbesitz und dessen Vermehrung.

 

Keiner hat mehr für die bürgerliche Weltordnung getan als einer, der grad neunjährig war, als Rousseau 1778 in der Nähe von Paris starb: Napoleon Bonaparte, dessen 200. Todestag am vergangenen Mittwoch an vielen Orten dieser Welt gewürdigt wurde. Sah die Nachwelt in Rousseau einen Wegbereiter der Französischen Revolution von 1789, so sah Napoleon Bonaparte sich selbst als deren Vollender. Er dürfte in diesem Glauben aber ziemlich alleine dastehen. Während der Genfer Philosoph dem bürgerlichen Zeitalter mit Skepsis entgegensah, so feierte die korsische Kriegsgurgel sich selbst in dessen aufdämmernden Glanz. Er hielt sich – mit Recht – für einen grossen Modernisierer und für einen Ordner des Chaos’. Die Richtung aber, die er der neuen Ordnung gab, war alles andere als revolutionär. Napoleon ist der Schutzpatron der Bourgeoisie.

Als er noch Bonaparte hiess und ein korsischer Leutnant war, der sich innert kürzester Zeit durch seine militärischen Leistungen (Befreiung von Toulon vor den Engländern) in den Generalsrang katapultierte, stellte er sich noch in den Dienst seiner Nation. Als er aber Napoleon wurde, der selbstgekrönte Kaiser der Franzosen, stellte er sich in den Dienst einer Klasse, nämlich jener des Grossbürgertums. Er brauchte dessen Unterstützung, um sich einen Rückhalt zu sichern und um den Kult um die eigene Person zu befördern. Er verschaffte sich seine Unterstützung, indem er es mit dem beglückte, wonach die bürgerliche Ordnung am meisten bedurfte: mit Startkapital.

 

Zuvor hatte die Revolution die Kirche wegsäkularisiert, den christlichen Kalender abgeschafft und das Kirchengut gegen den Verkauf von Anteilscheinen (Assignaten) verstaatlicht. Napoleon wollte die Kirche wiederherstellen, weil er in ihr «das Geheimnis der sozialen Ordnung» sah. Und da die Revolution die Kirche in die schwächst mögliche Position gebracht hatte, war Napoleon ihr gegenüber in der stärksten. Er versöhnte sich mit dem Papst, liess ihn (zumindest formell) wieder seine Bischöfe ernennen und gestattete den Religions-unterricht an den Schulen. Auf dem Preisschild, das der Pontifex maximus akzeptieren musste, stand: Die Kirche anerkennt, dass das Kirchengut ein für allemal verbürgerlicht ist. Alle Ländereien, die je im Besitz Diözesen und der Klöster gewesen waren, gehörten jetzt der Bourgeoisie. So machte Napoleon sich diese Klasse zum Freund. Und er schenkte ihr weitere Wohltaten: Auf den französischen Antillen führte er die Sklaverei wieder ein, die die Revolution gebodigt hatte. Er gewährte Rechtsgleichheit, aber nur für Männer, nicht für Frauen. Und der Code civil, das bürgerliche Gesetzbuch von 1804, wurde zum Hohelied auf das Privateigentum.

 

Dass Napoleon aus schweizerischer Optik auch noch als der Erfinder der Schweiz gefeiert wird (Historiker Thomas Maissen), gibt der Sache eine besondere Note. Unbestritten: Ohne Napoleon gäbe es die Schweiz nicht in ihrer gegenwärtigen Gestalt, oder vielleicht überhaupt nicht mehr. Aus ehemaligen Untertanengebieten schuf er sechs neue Kantone, er zitierte eine Hundertschaft von führenden Köpfen aus der Schweiz nach Paris, stauchte sie zusammen und gab der Schweiz eine Verfassung nach eigenem Gutdünken. Er war ein Wegbereiter ihrer danach von allen Mächten anerkannten Neutralität und Garant der Unversehrtheit ihres Territoriums. Basel, das sich 1798 vor dem Einmarsch der Franzosen noch schnell selbst revolutioniert hatte, schonte er, während er die Staatskassen von Zürich und Bern plünderte, um den Ägyptenfeldzug zu finanzieren. Und in Bern plünderte er gar noch den Bärengraben und führte die armen Tiere am Nasenring nach Paris.

 

Die moderne Schweiz verdankt dem französischen Einfluss insgesamt sehr viel, und einiges davon sogar Napoleon persönlich. Der grossbürgerliche Kapitalismus, der in der Zeit des Kaiserreichs in Frankreich erblühte, ist ein Teil davon. Schnell schwappte er in die Schweiz über, entfaltete sich unter den Genfer Banquiers und bei den Handelsherren in Basel und Neuchâtel und wurde so zu einem Nährboden für das Industriezeitalter, das unser Land (unter Ausbeutung der Arbeitsleistung unserer Ur- und Ururgrosseltern) schliesslich reich machte. Während Jahrzehnten profitierte auch die schweizerische Bourgeoisie von den günstigen Bedingungen, der Kaiser ihrer Klasse gewährt hatte. Dass Napoleon quasi im Vorbeigehen Tausende von Bauernsöhnen zwangsrekrutierte und in seinen Schlachten buchstäblich als Bauernopfer verheizte, focht die Grossbürger in Zürich, Bern und Winterthur nicht an. Napoleon und Frankreich haben der Schweiz die politische Struktur gegeben, die sie brauchte, damit sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen das Kapital vermehren und die Wirtschaft entfalten konnte. Verständlich, dass letzte Woche der neoliberale Präsident Macron auf einer Napoleon-Gedenkfeier bestand. In der Schweiz hat man in allen Würdigungen, die am Donnerstag zu lesen waren, die politischen Meriten hervorgehoben, die sich Napoleon um die Schweiz verdiente. Die Klassenfrage, die sich mit seinem Wirtschaftskonzept verknüpft, wurde dabei diskret übergangen. Über Privatbesitz spricht man in bürgerlichen Kreisen nicht hierzulande. Man hat ihn.

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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