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Die Frau, die ihren eigenen Tod im Fernsehen sah

DMZ - INTERNATIONAL - Silke Mülherr ¦

 

Die Bilder ihres öffentlichen Todes gingen um die Welt. Neda Soltani wurde das Gesicht des iranischen Widerstands. Dabei ist sie nie getötet worden – die Geschichte einer tragischen Verwechslung.

Von ihrem eigenen Tod erfährt sie im Fernsehen. Da ist plötzlich ihr Bild, und darüber hat man einen Trauerflor gelegt. Der Schock, den Neda Soltani in diesem Moment fühlt, ist ein starkes, höchst lebendiges Gefühl. Es ist ein Bruch mit der Realität, die sie sieht.

 

"Es war, als würde man seiner eigenen Beerdigung zuschauen. Aber ich wusste damals noch nicht, dass dieser Moment tatsächlich das Ende meines alten Lebens bedeutete", sagt die Iranerin. Doch die Geschichte, die alles veränderte, hatte schon am Tag zuvor begonnen.

 

Am 20. Juni 2009 stirbt auf den Strassen von Teheran eine junge Frau. Sie hat mit Tausenden anderen gegen die gefälschte Präsidentenwahl protestiert – und gegen deren angeblichen Sieger Mahmud Ahmadinedschad. Ein Augenzeuge hält die letzten Momente der jungen Frau mit seiner Handykamera fest und schickt den Film später an einen iranischen Exil-Blogger.

 

Der wiederum stellt die Szene ins Netz, und bald darauf greifen die grossen Sender die Geschichte auf. Millionen Menschen auf der ganzen Welt erfahren so vom Schicksal der Demonstrantin. Sie heisst Neda Agha-Soltan, und sie bestimmt fortan das Leben der anderen Neda, deren Nachname Soltani lautet.

Von dem Tod der anderen erfährt Neda Soltani erst einen Tag später. Sie ist nicht zur Wahl gegangen. "Ich bin kein politischer Mensch, und ich habe nicht daran geglaubt, dass es einen Unterschied machen würde, welchem Kandidaten ich meine Stimme gebe – am Ende gehören sie doch alle demselben System an", sagt sie heute. Trotzdem ist sie stolz auf die Demonstranten, stolz auf deren mutigen Widerstand.

Damals ist Neda Soltani 32 Jahre alt, lebt in Teheran und steht am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Anglistik-Dozentin. Schon als Kind hat sie gerne amerikanische Western geschaut. Auch deshalb hat sie später Englisch studiert. Vor Kurzem hat sie einen Mann kennengelernt, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann. "Es lief alles ziemlich gut für mich, ich war glücklich."

 

Am Tag, nachdem das junge Mädchen blutend auf der Strasse gefilmt wurde, öffnet Neda Soltani ihr E-Mail-Fach und findet 67 Freundschaftsanfragen bei Facebook.

"Einige Namen waren so fremdartig, dass ich sie nicht einmal aussprechen konnte. Es war so bizarr, dass ich mich sogar fragte, ob ich mich aus Versehen in einem fremden Konto eingeloggt hatte."

Die Zahl der Einladungen wächst immer weiter, und Neda wird das allmählich unheimlich. Ganz bewusst hatte sie beim Anlegen ihres Profils die strengsten Datenschutzeinstellungen gewählt.

Keine Fremden sollten ihre Seite einsehen können. Als sich in ihrem Postfach die besorgten Mails ihrer Studenten häufen, wird sie skeptisch. Und dann ist da diese Freundschaftsanfrage einer Amerikanerin, die gleich mit der Tür ins Haus fällt und ihr erzählt, sie wollte die Neda Soltani identifizieren, die am 20. Juni in Teheran erschossen wurde.

 

"Da habe ich verstanden, weshalb auf einmal Menschen auf der ganzen Welt meinen Namen bei Facebook gesucht hatten. Über Nacht war ich zum Symbol des Widerstands geworden", sagt sie, und sie scheint das noch immer nicht ganz verstehen zu können.

Erst, als Neda Soltani im Fernsehen das Video der sterbenden Frau und ihr eigenes Bild daneben sieht, begreift sie die Verwechslung. Erst jetzt weiss sie, was alle anderen schon zu wissen scheinen: dass sie angeblich tot ist.

 

Von nun an steht ihr Telefon nicht mehr still. Allen muss sie erklären, dass sie noch lebt. Dann wollen sie wissen, wie es zu diesem Irrtum kommen konnte. "Ich musste immer wieder dasselbe sagen, irgendwann kam ich mir vor wie ein Anrufbeantworter." Aber weshalb ausgerechnet ihr Bild im Umlauf ist, kann auch sie nicht erklären.

 

Sie ruft bei Fernsehsendern an, sie schreibt Mails. Aber sie erhält keine Antwort. Sie versucht den Irrtum aufzuklären, aber keiner will ihr zuhören. Die Journalisten brauchen ein Gesicht zu dem Opfer, und keiner will warten.

 

"Ich nehme an, sie haben einfach meinen oder einen ähnlichen Namen bei Facebook eingegeben und sind dann auf mein Bild gestossen Niemand hat das weiter überprüft." Ihr Profilfoto ist zu diesem Zeitpunkt schon tausendfach kopiert worden.

Neda Soltani kann die Maschinerie nicht mehr aufhalten, die Geschichte von dem toten Mädchen mit dem unschuldigen Lächeln läuft zu gut. "Obwohl CNN Bescheid wusste, dass ich nicht das sterbende Mädchen war, gehörte mein Bild eben zu ihrer Story", sagt sie.

 

Wenn Neda aus dem Haus geht, hat sie von diesem Tag an das Gefühl, dass die Leute auf der Strasse sie erkennen, sie anstarren. Nach einem unangenehmen Gespräch mit Kollegen meidet sie die Universität und beginnt, sich zu verstecken.

Die Zeitungen und Sender hören nicht auf, ihr Bild zu veröffentlichen – selbst dann nicht, als die Familie der verstorbenen Neda Agha-Soltan ein Bild der echten Toten herausgibt. Da bekommt Neda Angst.

"Das iranische Regime stand am Pranger. Nedas entsetzlicher Tod hatte der ganzen Welt seine Brutalität schonungslos vor Augen geführt. Und der Staat würde wohl alles tun, um diesen Eindruck zu zerstreuen." Sie ahnt, dass ihr Gesicht sie zu einer Staatsfeindin gemacht hat. Ganz ohne ihr Zutun.

Wenige Tage später tauchen die Männer vom Geheimdienst bei Neda auf, die Verhöre beginnen. Erst lässt man sie stundenlang warten, um sie mürbe zu machen. Dann kommen die Fragen: Weshalb die Medien ihr Foto zeigen. Was sie mit den Demonstrationen zu tun hat. Was sie über die Machenschaften des Westens und seine Verwicklung in den Tod der jungen Frau weiss

Neda Soltani lässt sich nicht beirren, sie beharrt darauf, dass alles ein Zufall ist. Zwei Mal lässt man sie danach wieder gehen, Neda hofft, dass alles gut wird. "Ich hatte ziemliche Angst, aber ich wusste ja, dass ich unschuldig war."

 

Erst bei ihrem dritten Verhör beginnt sie zu verstehen, dass sich bei der Geheimpolizei niemand für ihre Unschuld interessiert. Den Männern geht es darum, den Tod Neda Agha-Soltans dem Westen in die Schuhe zu schieben.

 

Neda Soltani soll ein Geständnis unterschreiben, dass sie Agentin der CIA sei. Die Männer setzen sie unter Druck, aber Neda weigert sich. "Ich bin selbstbewusst aufgetreten, weil ich vor solchen Menschen nicht schwach erscheinen wollte", sagt sie. "Heute ist mir natürlich klar, dass ich sie damit nur provoziert habe."

Der Ton wird rauer, die Männer bringen sie in einen Keller. "Ich bin noch nie in meinem Leben so angeschrien worden", sagt sie leise. Sie muss auf die Toilette, aber sie traut sich nicht, darum zu bitten. Die Männer schreien weiter und kommen ihr so nahe, dass sie überzeugt ist, gleich vergewaltigt zu werden.

 

"Ich dachte, ich komme dort nie wieder lebend raus." Schliesslich hält sie die Einschüchterungen nicht mehr aus. Sie bricht zusammen. Aber vielleicht ist es genau das, was die Männer erreichen wollten. Plötzlich lässt man sie in Ruhe. Sie wird in einen Wagen verfrachtet.

Jetzt bringt man sie ins Evin-Gefängnis, denkt sie, Teherans gefürchteten Kerker, den kaum jemand wieder lebend verlässt. Doch stattdessen hält der Wagen an einem verlassenen Park, sie steigt aus, und das Auto fährt davon. Sie stolpert auf die Grünanlage, und in diesem Moment weiss sie: Sie muss verschwinden aus diesem Land.

 

Ihre Freunde und einige Kontakte über Facebook organisieren die Flucht. Über die Türkei soll es nach Europa gehen. Ein Freund aus Teheran sammelt Geld und besticht einen Flughafenangestellten. "An den Abschied von meiner Familie erinnere ich mich nicht richtig, ich stand unter Schock."

Sie will nicht gehen, aber sie weiss, dass sie keine Wahl hat. Auf dem Flughafen von Teheran wird sie fast ohnmächtig vor Angst, als sie sich in die Schlange vor der Passkontrolle stellt. Der Mann dort winkt sie durch, nicht aber ohne ihr durch ein überlegenes Lächeln zu signalisieren, dass sie das nur seiner Gnade verdankt. Von dem Flug bleibt ihr kaum etwas im Gedächtnis.

"Ich war körperlich krank und auch psychisch ganz verwirrt." Sie will nach Deutschland weiterreisen, wo einige entfernte Bekannte in Bochum leben.

 

An ihren ersten Eindruck am Flughafen von Frankfurt erinnert sie sich noch genau: "Die Sprache klang in meinen Ohren wie ein misstönender Strom harscher Laute. Ich verstand kein Wort." Später wird ihr ein Exil-Iraner erklären, dass Deutschland vor allem das Land der Formulare sei. Was genau er damit meint, lernt Neda Soltani auf ihrem neun Monate andauernden Weg zur offiziell anerkannten Asylbewerberin in Deutschland. "

 

Diese Zeit war unheimlich schwer für mich, ich konnte ja nichts machen, mich durch nichts ablenken", sagt sie heute. Knapp 300 Tage Bangen und Hoffen folgen, bis Neda Soltani geduldet ist in Deutschland, weit weg von ihrer Familie, den Studenten.

 

Obwohl sie hier sicher ist, keine Verhöre oder Folter durch die Geheimpolizei fürchten muss, geht ihr eines nicht aus dem Kopf. "Noch immer geistert mein Bild durch manche Medien, und es macht mich wütend, wenn ich an all die Journalisten denke, denen es völlig gleichgültig ist, was ihre arglose Berichterstattung für mein Leben bedeutet hat. Für sie ist es einfach eine sentimentale Story über ein weiteres Opfer des iranischen Regimes. Aber für mich ist nichts mehr so, wie es einmal war."

Schon so oft ist ihr die Kontrolle über ihr Leben entglitten. "Aber heute will ich kein Opfer mehr sein." Deshalb hat sie ihre Geschichte selbst aufgeschrieben.

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