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Die Börsen spiegeln die Standortnachteile, sie sind nicht deren Ursache

DMZ –  WIRTSCHAFT ¦ Dirk Specht ¦

KOMMENTAR

 

Die Spiegel-Kolumne “Schwäche der Börsen” von Henrik Müller liefert ein einigermaßen strukturfreies Sammelsurium an Thesen und Fakten, die teils sogar richtig, aber weitgehend falsch eingeordnet sind.

 

Die große Ungerechtigkeit am derzeitigen System liegt nicht darin, dass die Börsen dysfunktional sind, sondern dass ihre Funktion eine gänzlich neue ist: Sie dienen überwiegend als “Exit” für Investoren, vor allem bei den hier angesprochenen jüngeren Unternehmen. Es hat sich längst durchgesetzt, dass institutionelle Anleger jeder Art sich direkt an jungen Unternehmen beteiligen, um diese in der steilsten Phase der Wertentwicklung zu begleiten und dann mit oft schneller Multiplikation des Einsatzes an die Börse zu bringen.

 

Die Börse selbst spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Richtig ist, dass oft die US-Börsen für so einen Exit die günstigeren Bedingungen bieten – von den Kosten bis zu den Aussichten für einen IPO-Kurs. Das ist aber für die Bewertung des Standorts des Unternehmens anders als beschrieben vollkommen gleichgültig. Konkret gesagt: Biontech wäre nicht “deutscher”, wenn das IPO in Frankfurt stattgefunden hätte.

Ebenso spielen die regionalen Börsen keine Rolle für die Anlagemöglichkeiten der Bevölkerung und das hat insofern auch nichts mit der zum Schluss des Beitrags etwas zusammenhanglos zitierten Systemunzufriedenheit der Deutschen zu tun. Ob man Biontech nun an der Nasdaq oder in Frankfurt kauft, ist vollkommen egal, maßgeblich ist eher, dass die meisten es gar nicht tun und insofern auch nicht an der Wertentwicklung von Unternehmen partizipieren. Das hat etwas mit der Aversion vieler gegen Aktieninvestments zu tun und nur sekundär mit unserem Standort oder gar der Funktion unserer regionalen Börsen.

 

Die beschriebenen Ungleichgewichte der Zahl und Bedeutung börsennotierter Unternehmen in Europa im Vergleich zu den USA muss man zunächst relativieren, weil in Europa viele Unternehmen in Familienbesitz oder in einem kleinen Investorenkreis verbleiben und bewusst nicht an die Börse gehen – um die vielen damit verbundenen Einflussfaktoren zu meiden.

 

Insofern sind diese Ungleichgewichte nur teilweise Ausdruck der tatsächlichen Unternehmenslandschaft. Aber ganz falsch ist der Eindruck leider nicht. Was die Unternehmenswerte betrifft, haben die US-Unternehmen tatsächlich alles in den Schatten gestellt – nicht nur, aber natürlich maßgeblich wegen der großen Tech-Konzerne. Ebenfalls auffällig ist, dass dies alles vergleichsweise junge Unternehmen sind, während Europa durch alte Industrien und Branchen geprägt ist.

 

Das alles hat aber mit den Börsen nichts zu tun. Es sind Standortunterschiede, die den Europäern zu denken geben sollten. Junge, innovative Unternehmen erreichen selten größere Bedeutung, erst nach dem Krieg entstandene neue Märkte werden von Europäern kaum mitbestimmt. Im Gegenteil wurden und werden im Zuge der Digitalisierung immer mehr traditionelle Branchen durch US-Unternehmen – und vielleicht auch bald durch chinesische – überrollt. Digitale Disruption nennt sich das – und es ist leider kein Buzzword, sondern Realität. Medien, Telekommunikation, Handel, Reise sind bereits komplett veränderte Branchen, die Finanzindustrie wird gerade auf den Kopf gestellt und wie das mit der Automobilindustrie weiter geht, wird ein gerade für Deutschland relevantes Thema.

 

Dass und wie es anders geht, zeigt das kleine Israel. Hier gibt es eine sehr agile Szene neuer Unternehmen, die von innovativen Technologien bis zu pfiffigen Geschäftsmodellen dem Silicon Valley nicht nachstehen. Die Börse in Israel spiegelt das, sie ist nicht der Grund dafür.

 

Warum Europa von Dekade zu Dekade so zurück fällt, ist eine oft diskutierte Frage ohne abschließende Antwort. Es hat wohl auch kulturelle/gesellschaftliche Gründe, die von der Politik aufgegriffen und möglicherweise verstärkt werden. Hinzu kommen veraltete Verwaltungsstrukturen und nahezu innovationsfeindliche Bedingungen für junge Unternehmen. Seit Jahrzehnten versprechen alle politischen Lager, das zu ändern – bisher jedoch ohne erkennbaren Erfolg.

Mit den europäischen Börsenplätzen hat das alles gar nichts zu tun.


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