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Wenn Religionsfreiheit ein Fremdwort ist – mitten in unserer Gesellschaft

DMZ –  GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Natalie Barth ¦   

KOMMENTAR

 

„Was war die gravierendste Folge für dich, als du bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen bist?“ Wenn ich das gefragt werde, dann habe ich darauf eine glasklare Antwort. Durch den Austausch mit anderen Aussteigern weiss ich heute, dass die meisten diese Frage ähnlich beantworten würden. Diese Antwort hat mit einer menschenrechtsverletzenden Praxis zu tun, von deren Auswirkung die wenigsten in unserer Gesellschaft auch nur annähernd eine Ahnung haben. Ein persönlicher Bericht.

 

Was passiert eigentlich, wenn ein Mitglied der Zeugen Jehovas die Gemeinschaft irgendwann in seinem Leben verlässt? Ist das dann zu vergleichen mit einem Kirchenaustritt? Man unterschreibt ein Papier, zahlt keine Steuern mehr, darf dafür im Gegenzug keine Hochzeit und Beerdigung in der Kirche zelebrieren, aber im täglichen Leben ändert sich nicht viel? Gut, wenn man auf einem sehr religiösen Dorf lebt und die Familie kirchlich eingebunden ist, dann bekommt man vielleicht auch als ehemaliger Katholik leichtes Unverständnis zu spüren.

 

Was bei Zeugen Jehovas passiert, wenn sie sich irgendwann gegen ihren Glauben entscheiden, ist dagegen fast schon ein mittelalterliches Vorgehen. Man erleidet eine Art sozialen Tod und wird aus der Gemeinschaft ausgestossen. So wollen es die Vorschriften des Leitungsgremiums in den USA. In der Regel wird man nicht einmal mehr gegrüsst. Sogar die Strassenseite wird manchmal gewechselt, sollte man sich in der Stadt zufällig begegnen. Das Vorgehen des radikalen Kontaktabbruchs praktizieren nicht nur ehemalige Freunde und Bekannte, die der Gemeinschaft noch angehören. Es macht leider auch vor der engsten Familie keinen Halt.

 

Soziale Ausgrenzung und Mobbing

Zeugen Jehovas stehen sehr gerne für Toleranz und Religionsfreiheit ein, wenn es darum geht, ihre eigene Religion mit allen dazugehörigen Tätigkeiten ausüben zu dürfen. Sie fühlen sich schnell diskriminiert, wenn sie etwas aus religiösen Gründen tun oder nicht tun und dann bei anderen auf Unverständnis oder Kritik stossen, zum Beispiel weil sie Bluttransfusionen ablehnen und dafür lieber sterben würden. Oder weil Weihnachten und Geburtstage nicht gefeiert werden dürfen. Politischen Wahlen und interkonfessionelles Zusammenarbeiten sind für sie nicht akzeptabel, und für diese weltfremde, gesellschaftsfeindliche Haltung wollen sie dann ebenfalls respektiert werden.

 

Wenn es dann aber darum geht, ihren eigenen Mitgliedern diese freie Entscheidung zuzugestehen, dann sieht die Lage schon etwas anders aus. Wer selbst aussteigt oder unfreiwillig ausgeschlossen wird (ja, auch das gibt es), der erlebt tatsächlich Dinge, die die Menschenwürde zutiefst untergraben: Ächtung, soziale Abgrenzung, Kontaktabbruch.

 

Ich bin selbst Betroffene von dieser Art Mobbing, wie es ein Schweizer Gericht letztes Jahr beurteilte. (Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/schweiz-zwischen-achtung-und-aechtung-1.4969242 ). Soziale Ausgrenzung, wie sie bei den Zeugen Jehovas nach einem Ausstieg gang und gäbe ist, soll das ehemalige Mitglied dazu bewegen, zurückzukommen.

 

Ausgegrenzt wurde ich von meinen Freunden, die ich teilweise seit der Sandkastenzeit kannte. Von meinen Geschwistern, mit denen ich gemeinsam aufwuchs. Von meinen Eltern, die mich irgendwann sogar telefonisch blockierten. Alles im Namen der Religion und deren Vorschriften, die damit die engste und kleinste Einheit einer Gesellschaft mutwillig auseinanderreissen.

 

Die Wahl zwischen Freiheit und Familie

Auf die Frage, was die gravierendste Folge des Ausstiegs war, werde ich immer und immer wieder dieselbe Antwort geben: Der radikale Kontaktabbruch, vollzogen von den Menschen, die mir einmal so nahestanden und denen ich vertraute. Und das lediglich, weil ich mich dafür entschied, dieser Religion nicht mehr angehören zu wollen.

 

Wenn ich zwischen Familie und Freiheit wählen muss und mich nur für eines der beiden entscheiden darf, ist das dann tatsächlich Religionsfreiheit, wie sie in zahlreichen internationalen Menschenrechtsverträgen und auf nationaler Ebene garantiert wird? Wirkliche Freiheit sieht anders aus.

 

Es gab sicher auch sehr viele andere Punkte, die mit dem Ausstieg aus dieser Gemeinschaft einhergingen und mich manchmal an psychische Grenzen manövrierten.

  • Beispielsweise die Schwierigkeiten beim Thema „Freundschaften“ oder „Beziehungen“ mit anderen Menschen.
  • Wieder vertrauen lernen.
  • Ängste vor Dämonen und Satan oder dem grossen Krieg Gottes „Armageddon“ zu hinterfragen und abzubauen.
  • Die Manipulation in der Sekte zu verstehen.
  • Das alte Weltbild komplett niederzureissen und mir ein neues aufbauen.
  • Schuld- und Schamgefühle zu hinterfragen und auch sonst sehr viel Selbstreflexion zu betreiben.
  • Im Grunde mich selbst neu kennenzulernen – zum Beispiel: Was will ich wirklich? Was sind meine Bedürfnisse und Wünsche? Wo sind meine Grenzen?

All das war nicht immer einfach. Eine Reise, die wohl noch einige Jahre oder Jahrzehnte andauern wird. Aber diese eine Sache, die mich nach dem Ausstieg wirklich an den Rand der Verzweiflung trieb, war dieser soziale Tod und damit nicht nur der Verlust an sich sondern auch die gnadenlose Ablehnung und diese Gefühle der Wertlosigkeit, die unversehens auftauchen, sobald die Ausgrenzung anfängt. Dieses jahrelange Hoffen, ob da nochmal etwas kommt, ob sich wenigstens die Familienangehörigen ab und zu – wenigstens einmal im Jahr - melden, nur um zu wissen, ob alles okay ist. Und diese Enttäuschung, wenn nichts dergleichen passiert und auch auf die eigenen Kontaktversuche keine Reaktion erfolgt – so als ob tatsächlich jemand gestorben wäre.

 

Diese ganze Situation ist wie ein Tod, obwohl alle Beteiligten noch am Leben sind. Das macht es so schwierig, das ganze Kapitel ein für alle Mal abzuschliessen und hinter sich zu lassen.

 

Die Sekte und das negative Selbstbild

Wenn ich von dieser Vergangenheit berichte, erzähle ich dies nicht, weil ich ein Mensch bin, der die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas „auf dem Kicker hat“ und ihnen aus Rachegedanken gerne etwas ans Bein binden möchte. So etwas wird mir tatsächlich immer mal wieder unterstellt. Ich bin auch keine Journalistin, die für Aufmerksamkeit und Auflagenzahlen eine sensationelle Geschichte (mag sie stimmen oder nicht) unters Volk bringen möchte. Und das letzte, was ich mit all dem Öffentlichmachen, wie z.B. auf meinem YouTube – Kanal, erzielen möchte, ist Mitleid. Mitleid kann ein Mensch selten gebrauchen, denn es schwächt ihn. Vielleicht wäre manchmal sogar eher Bewunderung angebracht. Sich aus so einer „Scheisse“, die man unfreiwillig schon als Kleinkind eingetrichtert bekam, zu befreien – wieviel Stärke muss man da wohl aufbringen? Genau das versuche ich anderen Aussteigern zu vermitteln, wenn sie dazu neigen, eher sich selbst und ihren Wert in Frage zu stellen, statt die Art, wie man mit ihnen - manchmal jahrzehntelang - umging.

 

Viele Sektenmitglieder haben ein extrem negatives Selbstbild und ein fehlendes Gefühl für ihren Selbstwert. „Erhöhe Dich nicht selbst“, „Gib Gott die Ehre, statt dir selbst“, „Stolz ist eine Sünde“ sind leider nur ein Bruchteil der verinnerlichten Überzeugungen, die ein Sektenkind oft in sich trägt. Entsprechend schwer fällt es auch manchen - selbst Jahre nach dem Ausstieg – sich nicht als „sündig“ zu betrachten. Viele lehnen das Gefühl von Stolz auf sich selbst und auf das, was sie bisher schon erreicht haben, ab. Sie können Lob schwer annehmen und wenn sie über ihre eigene Person etwas Gutes erzählen sollen, dann fällt ihnen höchstens ein, was sie „mit der Hilfe von…“ erreicht haben.

 

Einmal Opfer – immer Opfer?

Wieviele Jahre habe ich mich inzwischen selbst immer wieder bewusst trainieren müssen, um dieses Selbstwertgefühl zu stärken, mein Selbstbild (wie sehe ich mich selbst) zu hinterfragen und tatsächlich einmal sagen zu können: „Ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe! Ich bin stolz darauf, mich – auch wenn es lange gebraucht hat – von der Sekte zu verabschieden und endlich mein eigenes Leben zu führen.“?!

 

Ich fühle mich heute nicht (mehr) als Opfer, auch wenn ich in diese Gemeinschaft hineingeboren wurde und als Kind keine andere Wahl hatte. Ich weiss, dass ich heute eigene Entscheidungen treffen kann und vieles in meinem Leben selbst in der Hand habe. Ich habe mich aus einem Sumpf herausgekämpft und der Kampf hat Jahre gedauert. Ja, ich kann heute sagen, dass ich stolz auf mich bin, denn der Kampf in meinem Inneren war alles andere als leicht.

 

Vor einigen Monaten starb meine Mutter. Das letzte Mal sah ich sie 2 Jahre zuvor, bei einem meiner Versuche, den Kontakt wieder aufzunehmen. Ich habe heute leider nicht mehr die Chance, mich mit ihr auszusöhnen, sie noch einmal in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen: „Ich liebe Dich, egal wie sehr Du mich mit deinem Verhalten verletzt.“ Ich wünschte, ich hätte es ihr noch einmal sagen können - auch wenn ich tief im Inneren weiss, es hätte nichts genützt und es wäre niemals bei ihr angekommen. In dieser Gemeinschaft hat sie, wie die meisten anderen, gelernt, ihre Gefühle abzuspalten, um die natürliche Zuneigung zu ihrem eigenen Kind nicht mehr zu spüren. Welche Mutter hält es sonst aus, sich zwischen ihrer Religion und der Tochter entscheiden zu müssen? Und das musste sie. Wie viele andere auch.

 

Ja, Religionsfreiheit sieht anders aus. Die Freiheit, mich dafür zu entscheiden, meine Religion aufzugeben, hat mich Familie, Freunde, Identität und Selbstwert gekostet. Und auch wenn ich mir im Lauf der Zeit wieder all das Stück für Stück, mit anderen Menschen, mit tiefgehender Aufarbeitung der Vergangenheit und Selbstreflexion zurückerobert habe, bleibt doch ein Teil von mir mit Narben zurück, die mich an das Geschehene erinnern. Vielleicht für immer.

 

Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com und betreibt den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach» (Link: https://www.youtube.com/c/NatalieBarth)

 

ALLEMEINE INFOS ZU DEN ZEUGEN JEHOVAS

Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Sondergemeinschaft mit ca. 20.000 in der Schweiz und weltweit ca. 8.5 Millionen Mitgliedern. Sie sind hauptsächlich für ihre Missionstätigkeit von Haus zu Haus und ihre beiden Hauptzeitschriften „Wachtturm“ und „Erwachet“, ihre Verweigerung von Bluttransfusionen und dem Nichtbegehen religiöser und nichtreligiöser Feiertage (wie z.B. Weihnachten oder Geburtstag) bekannt. Besonders in die Kritik geraten sind sie in den letzten Jahren durch den Vorwurf von Vertuschung von sexuellem Missbrauch innerhalb der Gemeinschaft, durch ihr Praktik der Ächtung von ehemaligen Mitgliedern, sowie die Ablehnung von Homosexualität.

Der Ursprung der Zeugen Jehovas liegt im 19. Jahrhundert, als sich ihr amerikanischer Anführer Charles Taze Russel enttäuscht von seiner Kirche lossagte und mit Gleichgesinnten im Jahre 1870 eine Bibelstudiengruppe gründete, der sich immer mehr Menschen anschlossen.

Von verschiedenen Wissenschaftlern wird die Gemeinschaft heute dem christlichen Fundamentalismus zugeordnet. Manchmal wird sie auch als „Endzeit-Sekte“ bezeichnet, da eine ihrer Hauptlehren der unmittelbar bevorstehende Krieg Gottes gegen die Menschheit ist.

 

 


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