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Die gesellschaftliche Debatte über die Corona-Krise könnte noch hässlicher werden

DMZ –  GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Dirk Specht ¦       

KOMMENTAR

 

Christian Drosten weist auf die zu geringe Impfquote hin und erwartet Kontaktbeschränkungen für den Herbst. Der Polarisierung der Meinungen folgend, wird er dafür wahlweise mahnend zitiert oder verrissen. Letzteres oft wieder mit Hinweisen auf seine angebliche Verantwortung für nutzlose Lockdowns – um die es längst nicht mehr geht.

Drosten zitiert dabei wie bereits vor Ostern lediglich die Projektionen des RKI und diese sind wissenschaftlich begründet. Natürlich weiß niemand, wo die Pandemie im Oktober stehen wird. Sie ist erkennbar bereits im Sommer stärker gewachsen, als im letzten Jahr, zugleich hat sie ohne Gegenmaßnahmen in fast allen Ländern eine Grenze gefunden.

 

Die Impfungen wirken also, der Herbst wird es aber leider auch tun. Man kann anhand dieser Entwicklungen nur Korridore rechnen, wie es bei unveränderten Parametern weiter gehen wird – wohl wissend, dass sich die Rahmenbedingungen inklusive der politisch/gesellschaftlichen Reaktionen sehr wahrscheinlich ändern werden. Ostern hat das zu einer leichten Abflachung geführt, weshalb sich der unterste Korridor der Projektionen einstellte. In Teilen der Öffentlichkeit wurde Drosten dafür vollkommen unsachlich verrissen, nicht mal achtend, dass er das RKI zitierte.

 

Er hat insofern wohl daraus gelernt, weil er dieses Mal keine harten Zahlen nannte. Es muss für einen Wissenschaftler bedauerlich sein, wenn er seine Aussagen kommunikativ “filtern” muss. Selbstverständlich gehört die Nennung solcher Zahlen zur wissenschaftlichen Methodik, sie sind begründet, quantifizieren Risiken und fungieren als Prognosen, die das Ziel haben, ihr Eintreten zu verhindern.

Ob das auch dieses Mal gelingt, erscheint fraglich. Das RKI und der dieses zitierende Drosten zielen dieses Mal vor allem auf die Impfquote ab. Die scheint aber kaum noch maßgeblich zu steigen und die Politik wird nicht vor einer Eskalation der Zahlen reagieren. Insofern könnte es dieses Mal anders als Ostern laufen. Warten wir es ab.

 

In den USA ist jüngst eine sehr breit angelegte Studie aus Los Angeles vorgelegt worden, die für unsere Situation einige spannende Hinweise gibt. Hier wurden Infektions- und Hospitalisierungsverläufe von Geimpften und nicht Geimpften untersucht (https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/70/wr/mm7034e5.htm#F1_down).

 

Die beiden Charts anbei weisen klar die Wirksamkeit der Impfungen nach – und zwar sowohl seitens der Infektionen als auch noch stärker seitens der Hospitalisierungen. Demnach schützen die Impfungen um mehr als Faktor 10 vor einer Infektion – nicht Geimpfte infizieren sich also 10x häufiger als Geimpfte.

Aber: Dieser Faktor ist mit dem Aufkommen von Delta auf fünf zurückgegangen! Das ist auch die wesentliche Grundlage für die Projektionen des RKI. Während wir bei Alpha davon ausgehen konnten, dass es bei eine Impfquote von 70-75% zu einem Stopp der Epidemie kommt, werden für Delta >85% berechnet – ein Wert, den wir nicht näherungsweise erreichen und das ist die wissenschaftlich korrekt begründete Botschaft von Drosten, respektive dem RKI.

 

Das sehen wir natürlich bereits, denn die Delta-Wellen laufen bereits im Sommer, finden zwar eine Grenze, aber die wird im Herbst höher liegen. Die maßgebliche Frage ist daher leider nur, was im Herbst seitens der Politik diskutiert wird, nicht, ob es dazu kommt.

 

Im Kern der Diskussion sehen wir bereits heute die Frage, wie man mit den Impfungen umgehen soll. Das ist bereits juristisch strittig, denn der Faktor fünf, der aktuell in den meisten Studien außerhalb des teilweise bereits zurücklaufenden Impfschutzes in Israel ermittelt wird, reicht dem einen Juristen, von einer klaren Unterscheidbarkeit Geimpfter zu sprechen, dem anderen nicht. Das ist aber genau die maßgebliche Bewertung, die vermutlich letztlich politisch zu finden ist. Geht man nämlich davon aus, dass von Geimpften (und Genesenen) eine deutlich geringere Gefahr ausgeht, kann man deren Rechte nicht mehr ohne weiteres einschränken.

 

Interessanterweise zeigen die Studien – auch in Israel – einen signifikanten Schutz vor schwerer Erkrankung. Rein sachlich betrachtet, ist die Impfung insofern ein sehr guter individueller Schutz. Über ihren gesellschaftlichen Schutzfaktor dürfte noch gestritten werden. Notwendig wird das zweifellos nur deshalb, weil zu viele den individuellen Schutz aus welchen Gründen auch immer ablehnen.

 

Diese Situation war bereits im Frühjahr absehbar, als sich in den meisten westlichen Gesellschaften eine degressive Entwicklung der Impfungen im Korridor von 1/2 bis 2/3 abzeichnete. Ob und wie die Politik sich auf diese Situation vorbereitet hat, werden wir sehen. Sie dürfte ausgerechnet im Übergang von einer amtierenden auf eine möglicherweise sogar noch zu findende neue Bundesregierung eintreten. Aber wir haben natürlich noch unsere Länderchefs – die waren auch im Frühjahr im Amt. Sieht man deren aktuellen Kurs, ist von der britischen Strategie bis zu 2G alles am Start.

 

Die Daten legen nahe, dass nach dem bisherigen Kriterium – die Belastung der Krankenhäuser – sogar ein Durchlaufen lassen begründbar sein dürfte. Gesellschaftlich wird das eine noch hässlichere Diskussion, weil durch die Impfungen die großen Risiken natürlich vor allem auf Impfverweigerer, nicht Impfbare (Kinder sowie Vorerkrankte) sowie Menschen mit schwachem Immunschutz verschoben wurden.

 

Bereits der Umgang mit den Impfverweigerern ist nicht so einfach, wie es erscheint, denn während man sich gesellschaftlich noch einigen mag, dass diese Gruppe sich für die Risiken entschieden hat und daher auch kein besonderer Schutzanspruch besteht, geht leider alleine aus deren großer Zahl ein Risiko für die Gesamtheit aus. 10% Impfverweigerer können epidemiologisch irgnoriert werden, 30% rein mathematisch leider nicht. Lässt man das Virus dort beliebig zirkulieren, wachsen die Risiken für Menschen mit geringem Impfschutz sowie nicht Impfbare unmittelbar. Die bizarre Situation, auch diejenigen zu schützen, die das ablehnen, um den Schutz der Gesamtheit zu gewähren, ist also mit unserer geringen Impfquote nicht vom Tisch.

 

Die Schwierigkeit der kommenden Debatte läuft also letztlich darauf hinaus, dass wir im Unterschied zu den bisherigen Wellen nun nicht mehr von den dramatisch belasteten Krankenhäusern und fünfstelligen Sterbezahlen pro Tag sprechen – sondern von einer zahlenmäßig sogar größeren Gefährdungsgruppe, bei denen sich aber die bisherigen klinischen “Grenzwerte” in absoluten Zahlen nicht zeigen werden. LongCovid wird bekanntlich zum gesellschaftlichen Risiko und die nicht schützbaren sind im Wesentlichen Kinder sowie Menschen mit Vorerkrankungen.

 

Bisher tendiert die öffentliche Debatte zum Narrativ, die Kinder könnten das “aushalten” – und die Vorerkrankten werden überwiegend schlicht verschwiegen. Sofern es bei der bisherigen Wahrnehmung mit der Fokussierung auf klinische Daten bleibt, lassen sich diese beiden Opfergruppen leicht unter den Teppich kehren. Das geschieht durchaus sehr bewusst, denn nicht wenige Debatten über verstorbene Kinder werden schließlich mit der Feststellung “beendet”, die seien überwiegend vorerkrankt gewesen.

 

Das ist dann in der Tat der Gipfel der Hässlichkeit einer Debatte, wenn sogar die Schnittmenge der Kinder und der Vorerkrankten als Argument genutzt wird, von der Pandemie gehe keine relevante Gefahr mehr aus.

In vielen Ländern sehen wir die Impfkampagne stärker im Zentrum der Bemühungen von Regierungen. In Irland und Spanien beispielsweise trägt das Früchte. Bei entsprechenden Impfquoten ist es verantwortbar, sich auf Maßnahmen wie 2G oder 3G für das Endspiel der Pandemie festzulegen. Vor allem die Wirtschaft kann dort verlässlicher planen. In Deutschland ist insbesondere regional unsicher, was passieren wird. Das reicht vom Schulbetrieb bis zu Gastronomie und Veranstaltungen.

 

Vermutlich wird Deutschland mit in Europa vergleichsweise geringeren gesundheitlichen Schäden, zugleich aber mit den längsten Debatten und zeitlich/inhaltlich zähesten Gegenmaßnahmen durch diese Krise kommen. Wer den öffentlichen Diskurs und den daraus zu findenden Weg sehr hoch schätzt, muss damit nicht unzufrieden sein. Wären da nicht die perfiden Hässlichkeiten in der Argumentation und die Polarisierung um eher kaum vermittelbare Lager, könnte man sich dem anschließen.

 

So erleben wir aber nur einen bitteren Ringkampf von tief gespaltenen Lagern. Das sollte man von einem wünschenswerten demokratischen Einigungsprozess trennen. Wir stehen vor einem kalten Herbst und sollten dringend erkennen, dass die gesellschaftlichen Folgen von Covid-19 nun mit derselben Aufmerksamkeit auf die Agenda gehören, wie die Pandemie selbst. Die nähert sich ihrer Endphase, die gesellschaftlichen Auswirkungen sind noch lange nicht dort.


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