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Zwei Drittel gegen 99 Prozent – und parlamentarischer Schutz für Pandora?

DMZ –  POLITIK  ¦ Loris Fabrizio Mainardi, lic.iur. ¦     

GASTKOMMENTAR

 

Nach der 1:12- und der Spekulationsstopp- haben die Jungsozialisten mit der gescheiterten 99- Prozent-Initiative zum dritten Mal ein sympathisches Anliegen in die politische Arena geführt – jedoch ihre Gladiatorin schon wieder schlecht ausgebildet und bewaffnet in den Kampf geschickt. Doch zunächst zum Sympathischen: Im Kontrapunkt zu neoliberal gestimmten Ökonomen, die als ganzjährige 1.-August-Hymnensänger die faire Einkommensverteilung in unserem Land lobpreisen, betonten die Initiant:innen zu Recht, dass die im internationalen Vergleich extrem ungleiche Vermögensverteilung wohl jenen Herren, aber kaum dem Schweizer Mittelständler bekannt ist. Sie haben ihren Piketty gelesen und gesehen, dass die Vermögen der Reichsten, von der «unsichtbaren» oder anderen Händen gelenkt, immer mehr und schneller wachsen.

 

Die Lösung, Kapitaleinkommen stärker zu besteuern, hat sich als ebenso naheliegend wie vorschnell umgesetzt erwiesen: Wenn es – um mit SP-Nationalrätin Mattea Meyer zu skandieren – gilt, den Mächtigen «endlich auf die Finger zu klopfen», muss auch dies nach rechtsstaatlichen Prinzipien erfolgen. Unsere Bundesverfassung verankert in Art. 127 Abs. 2 die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichmässigkeit der Besteuerung sowie der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Volk und Ständen gegenüber blieb denn auch die Frage unbeantwortet, weswegen der dutzende Millionen an Boni beziehende Manager gemäss Initiative weniger Steuern bezahlen sollte als die Euromillion-Gewinnerin aus dem Aargau, die das gleiche Einkommen aus ihren 184 Millionen erzielen wird. Zum Lottogewinn braucht es redensartliches Glück; zum Aufstieg in einen zweistellig besoldeten Millionenjob aber mitnichten weniger.

 

Indes erstaunt – bei allen konkreten Mängeln des Initiativtexts – die schliesslich doch unerwartet hohe Ablehnung in allen Kantonen: Wenn die mittelständische Mehrheit derart deutlich gegen Vorlagen stimmt, die sie rational betrachtet eigentlich annehmen müsste, weil sie – im Vergleich zur Oberschicht – durch Steuererhöhungen unterproportional belastet, an den staatlichen Leistungen dagegen überproportional profitiert, stellen sich Fragen. Ist, wie jüngst Jean Ziegler anklagte, «selbst die stolze Eidgenossenschaft … zuweilen nur eine simulative Demokratie», in der «das entfremdete Schweizervolk wie Schafe den Lügen der kapitalistischen Oberhirten glaube und häufig gegen seine eigenen Interessen stimmt»? Die deutsche Wirtschaftspublizistin Ulrike Herrmann diagnostizierte derweil einen «Selbstbetrug der Mittelschicht», den sie darin begründet sieht, dass die schon an den Grundschulen zum Leistungsdenken getrimmte Mittelschicht die «sozialschmarotzerische» Unterschicht ablehne und verachte; ihre eigene Angst vor dem sozialen Abstieg unterdrücke sie derweilen mit dem Glauben, dass sie selbst aufgestiegen sei und noch weiter aufsteigen könne – und mache sich so zur willigen, aber blinden Handlangerin der Oberschicht und deren neoliberaler Politik. Sie scheint darin der Hausangestellten Françoise in Marcel Prousts «À la recherche du temps perdu» zu gleichen, die Tugend und Reichtum so wenig voneinander trennte, «dass sie schliesslich der einen die Eigenschaften der andern verlieh.»

 

Bei welcher Deutung des Abstimmungsergebnisses auch immer – nach der dritten Schlachtniederlage täten die Jusos gut daran, den Kampf wohl nicht aufzugeben, doch mit treffsichereren Waffen auf angreifbarere Ziele weiterzuführen.

 

Ein erstes hat vor wenigen Tagen die internationale Investigativrecherche aus der bis dato als kryptisches Staatsgeheimnis gehüteten Büchse der Pandora entlockt: Dass die Eidgenössischen Räte – nach erfolgreicher Lobbyarbeit der hiesigen Rechtsberatungsindustrie – dieses Frühjahr eine Vorlage versenkt haben, die auch finanzberatende Rechtsanwälte griffigen Regeln der Geldwäschereigesetzgebung unterstellt hätten, erweist sich nun als faktische Legitimierung von organisierter Offshore-Geldwäscherei und -Steuerhinterziehung.

 

Ein zweites Angriffsziel ist dagegen seit Jahrzehnten gleichsam bekannt wie umstritten: das inländische «Bankgeheimnis», von Ex-Nationalrätin Leutenegger-Oberholzer bekanntlich als «Steuerhinterziehergeheimnis» gebrandmarkt. Tatsächlich stört seit der Durchsetzung des automatischen Informationsaustausches die eigenartige Rechtslage, dass ausländische gegenüber inländischen Steuerbehörden bevorzugten Informationszugang haben, beileibe nicht nur «linke» Steuerzahler. Schliesslich ist die aktuelle inländische Regelung – welche im Übrigen nur «Geheimnisse» schützt, die jeder ehrliche Steuerzahler den Behörden ohnehin offenlegen müsste – nicht nur fiskalisch, sondern auch staatspolitisch höchst fragwürdig, verletzt doch gerade auch sie die zitierte Verfassungsbestimmung der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es handelt sich mithin um ein Relikt politischer Duldung, das längst zum Atavismus geworden ist – freilich nicht für die Eidgenössischen Räte: Die diesbezügliche Berner Standesinitiative wurde – nach Ablehnung im Ständerat – in dieser Session auch vom Nationalrat mit 97 zu 81 Stimmen abgelehnt.

 

Bei anhaltendem Selbstgerechtigkeitsdenken der parlamentarischen Mehrheiten wird es – im fiskalischen wie auch im unbezahlbaren Interesse der Glaubwürdigkeit der Eidgenossenschaft – nötig, dass sich die jungen (und älteren) Sozialdemokraten sowohl die gescheiterte Kantonsinitiative zu eigen machen als auch die begrabene Geldwäschereivorlage wiederbeleben. Es wären für einmal zwei aussichtsreiche Kämpfe! 


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