Ruth Baumann-Hölzle - «Gesellschaft und Medizin - Denkanstösse für den Dialog»

Ruth Baumann-Hölzle (© Stiftung Dialog Ethik)
Ruth Baumann-Hölzle (© Stiftung Dialog Ethik)

DMZ – BILDUNG ¦ Walter Fürst  ¦                                             Ruth Baumann-Hölzle (© Stiftung Dialog Ethik)

 

"Die medial präsente und viel zitierte Medizinethikerin und Leiterin des «Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen» der Stiftung Dialog Ethik veröffentlicht ein neues Buch «Gesellschaft und Medizin - Denkanstösse für den Dialog»". Als Anthologie enthält diese Neuerscheinung Texte und Kommentare der letzten 21 Jahre der Autorin zu unterschiedlichsten Themen der modernen Medizin und deren gesellschaftlichen Auswirkungen.
Ein paar Tage vor der Veröffentlichung haben wir die Gelegenheit beim Schopf gepackt und Frau Baumann-Hölzle ein paar Fragen gestellt:

 

DMZ: Was ist das Ziel, welches Sie mit dem Buch verfolgen?

Ruth Baumann-Hölzle: Das Buch versammelt Kommentare der letzten 21 Jahre zu unterschiedlichsten Fragestellungen im Gesundheitswesen, welche von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind. 

 

DMZ: Denken Sie, dass das Buch auch betroffene Menschen erreichen wird?

Ruth Baumann-Hölzle: Persönlich hoffe ich, dass das Buch zum Dialog über die Ambivalenzen des medizin-technischen Fortschritts beiträgt. Das Buch fokussiert auf interessierte Laien.

 

DMZ: Wie sehen Sie allg. die Rolle von Ethikerinnen und Ethikern in ihrer Medienrolle während der Pandemie?

Ruth Baumann-Hölzle: Die Ethik hat stets eine Meta-Perspektive einzunehmen und zu beschreiben, welche Werte und Normen involviert sind. Ethik ist die Wissenschaft der Moral und entsprechend zu unterscheiden. Die Meta-Moral dabei sind die Menschenwürde und die Menschenrechte, welche Toleranz von Beliebigkeit abgrenzen. Da jedes menschliche Tun ambivalent ist, hat die Ethik stets diese Ambivalenzen aufzuzeigen und die ethischen Dilemmata zu beschreiben. 

 

DMZ: Was entgegnen Sie Menschen, die Ihre "Rolle" eher in  der Massnahmengegner-Ecke einordnen?

Ruth Baumann-Hölzle: Ich frage nach, wie sie denn darauf kommen.

 

DMZ: In der NZZ sagten Sie, dass man die Grundkonflikte rund ums Impfen nicht offen diskutiere. Wie kamen Sie zu dieser Auffassung, wo doch das Thema seit Monaten breit diskutiert wird?

Ruth Baumann-Hölzle: Grundkonflikte hinsichtlich des Spannungsfeldes der Einzelfallgerechtigkeit und der Allgemeinen Gerechtigkeit werden kaum thematisiert. Es fehlt die Perspektivenvielfalt bei der Fakteneinschätzung und die Ansatzvarianz der unterschiedlichen Moralvorstellungen. Es bestehen nur noch zwei sich zunehmend feindlich eingestellte Gruppen gegenüber, die nicht mehr in einen Dialog miteinander treten. Diesen Dialog aber möchte ich fördern.

 

DMZ: Der Deutsche Ethikrat sieht es anders als Sie? Der unterstützt die 3G-Regel („geimpfte, genesene oder getestete Person“) und hält auch das 2G-Optionsmodell nicht für eine Impfpflicht durch die Hintertür. „Eine Pflicht ist etwas, dem man sich nicht entziehen kann”, sagte die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx. Wie sehen Sie das?

Ruth Baumann-Hölzle: Als Ethikerin alleine kann ich im Gegensatz zu einer Ethikkommission nicht einen interprofessionell erarbeiteten Konsens vertreten, sondern ich könnte nur meine eigenen Moralvorstellungen einbringen.  Dies aber widerspricht dem Handwerk der Ethik, welche die Ambivalenzen einer Thematik offenhalten muss. Es ist eine debattierte Frage, inwiefern nationale Ethikkommissionen Empfehlungen herausgeben oder nur Analysen und Argumente darlegen sollen. Auch eine Ethikkommissionen hat in jedem Fall aber die Aufgabe, die  Perspektiven- und Ansatzvarianz aufzuzeigen und auch ihre Mehrheits- und Minderheitenpositionen zu veröffentlichen. Insofern bin ich jeweils überrascht, dass Frau Alena Buyx meist nur eine Position darlegt und weder Ambivalenzen noch ethische Dilemmasituationen aufzeigt.

 

DMZ: Wo sehen Sie noch Mängel im "Fortschritt" der Medizin (vor allem im Bereich Kommunikation)?

Ruth Baumann-Hölzle: Wissenschaftskommunikation ist eine grosse Herausforderung. Sie hat die Aufgabe, neues Können mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, seinen Chancen und Risiken allgemeinverständlich darzulegen und zur Urteilsfähigkeit der Bevölkerung beizutragen und einen gut informierten und unabhängigen Entscheidungsfindungsprozess zu fördern. 

 

Ruth Baumann-Hölzle, geboren 1957, ist promovierte Theologin und Ethikerin. Sie leitet das Interdisziplinäre Institut für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik in Zürich, die sie mitbegründet hat. Als Medizinethikerin unterstützt sie interprofessionelle Teams in Spitälern und Heimen bei komplexen ethischen Fragestellungen.

Mit ihren Publikationen und als Dozentin im In- und Ausland engagiert sie sich für ein menschengerechtes Gesundheits- und Sozialwesen als Teil einer verantwortungsbewussten Gesellschaft. Weitere Informationen zu den Aktivitäten von Dialog Ethik unter: www.dialog-ethik.ch

 

Ruth Baumann-Hölzle (© Stiftung Dialog Ethik)

 

«Gesellschaft und Medizin»

Erscheint: 25. Oktober 2021, 304 Seiten 

ISBN: 978-3-906287-96-6, CHF 29.80

 

Medienkontakt:

Rafael Schlegel, Projektleitung,  info@cameo-verlag.ch, +41 31 371 54 06

 

 

Einleitung im Buch

Die moderne Medizin hat die Lebensqualität vieler Menschen maßgeblich verbessert und ihre Lebensspanne stark verlängert. Diese medizinischen Verdienste und Errungenschaften erweisen sich jedoch – wie jedes menschliche Tun – in ihren Auswirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft als ambivalent. Die «Kommentare zur Zeit», erstmals erschienen in den Newsletters des Instituts Dialog Ethik, sowie einige Beiträge aus der Zeitschrift «Thema im Fokus» von Dialog Ethik bringen anhand konkret sich stellender Fragen Licht und Schatten des medizinischen Fortschritts zur Sprache. Thema sind individualund sozialethische Reflexionen unter dem Aspekt der Menschenwürde und der Menschenrechte, die die normative Grundlage bilden. Die Texte sollen Denkanstöße bieten. Geordnet sind sie sind nach Themenfeldern und – bis auf wenige Ausnahmen – auch chronologisch. Einzelne Fragen werden aufgrund jeweils neuer Gegebenheiten im Laufe der Jahre wiederholt thematisiert. Dabei zeigt sich auch, wie der Umgang mit dem menschlichen Leben von seinen Anfängen bis zum Tod sich verändert. Das Ergebnis der Reflexionen ist kein abschließendes. Die hier vorgestellten Überlegungen werfen oft mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Ethisch vertretbare Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit ergeben sich nur aus der gemeinsamen, gleichberechtigten Suche der Menschen mit all ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen. Und nur auf dieser Suche können wir füreinander zur Quelle neuer Erkenntnisse und Einsichten werden. Mit meinen Reflexionen hoffe ich dazu beizutragen, dass ein Dialog über die Ambivalenzen des medizinisch-technischen Fortschritts entsteht, aus dem ethisch vertretbares Entscheiden und Handeln erwachsen kann.

Im September 2021

Ruth Baumann-Hölzle


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