· 

DE: Immunzellen des Gehirns haben bei neurodegenerativen Erkrankungen „Heißhunger“ auf Zucker

(C) Orlando Florin Rosu
(C) Orlando Florin Rosu

DMZ –  GESUNDHEIT / WISSEN ¦ Markus Golla ¦   (C) Orlando Florin Rosu

 

Zu Beginn einer neurodegenerativen Erkrankung nehmen die Immunzellen des Gehirns – die „Mikroglia“– den Zuckerstoff Glukose in weitaus größerem Umfang auf als bislang angenommen. Zu diesem Schluss kommen Untersuchungen des DZNE, der LMU München und des LMU Klinikum München, die im Fachjournal „Science Translational Medicine“ veröffentlicht sind. Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung für die Interpretation von Hirnscans, die die Verteilung von Glukose im Gehirn darstellen. Darüber hinaus könnten solche bildbasierten Daten möglicherweise als Biomarker dienen, um bei Menschen mit Demenz die Reaktion der Mikroglia auf therapeutische Maßnahmen nicht-invasiv zu erfassen.

 

Beim Menschen zählt das Gehirn zu den Organen mit dem größten Energieverbrauch, der sich mit dem Alter und auch krankheitsbedingt – etwa infolge von Alzheimer – verändern kann. „Der Energieumsatz lässt sich indirekt über die Verteilung von Glukose im Gehirn erfassen. Glukose ist ein Energieträger. Deshalb geht man davon aus, dass dort, wo sich Glukose im Gehirn ansammelt, der Energiebedarf und demzufolge die Hirnaktivität besonders hoch ist“, sagt Privatdozent Dr. Matthias Brendel, stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin des LMU Klinikum München.

 

Das dafür gängige Messverfahren ist eine spezielle Variante der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), im Fachjargon „FDG-PET“ genannt. Den untersuchten Personen wird dazu eine wässrige Lösung mit radioaktiver Glukose verabreicht, die sich im Gehirn verteilt. Die Strahlung, die von den Zuckermolekülen ausgeht, wird dann von einem Scanner gemessen und bildlich dargestellt. „Die räumliche Auflösung reicht aber nicht aus, um zu erkennen, in welchen Zellen sich die Glukose anreichert. Letztlich erhält man ein Mischsignal, das nicht nur von Nervenzellen stammt, sondern auch von den Mikroglia und anderen Zelltypen, die im Gehirn vorkommen“, so Brendel.

 

Zelluläre Präzision

„Die Lehrbuchmeinung ist, dass das Signal aus der FDG-PET hauptsächlich von den Nervenzellen kommt, denn sie gelten im Gehirn als die größten Energieverbraucher“, sagt Christian Haass, Forschungsgruppenleiter am DZNE und Professor für Biochemie an der LMU München. „Diese Vorstellung wollten wir auf die Probe stellen und haben herausgefunden, dass das Signal tatsächlich überwiegend von den Mikroglia herrührt. Das gilt zumindest im Frühstadium einer neurodegenerativen Erkrankung, wenn die Nervenschäden noch nicht so weit fortgeschritten sind. Hier sehen wir, dass die Mikroglia große Mengen an Zucker aufnehmen. Dies scheint notwendig zu sein, um ihnen eine akute, sehr energieaufwändige Abwehrreaktion zu ermöglichen. Diese kann zum Beispiel gegen krankheitsbedingte Proteinaggregate gerichtet sein. Erst im späteren Krankheitsverlauf wird das PET-Signal offenbar von den Nervenzellen dominiert.“

 

Die Befunde der Münchner Forschenden beruhen auf Laboruntersuchungen sowie auf PET-Studien an rund 30 Patientinnen und Patienten mit einer Demenzerkrankung – entweder Alzheimer oder einer sogenannten Four-Repeat-Tauopathie. Untermauert werden die Ergebnisse unter anderem durch Studien an Mäusen, deren Mikroglia aus dem Gehirn entweder weitgehend entfernt oder sozusagen außer Kraft gesetzt wurden. Zum Einsatz kam überdies ein neu entwickeltes Verfahren, das es ermöglichte, Zellen aus den Gehirnen von Mäusen nach Zelltyp zu sortieren und deren Zuckeraufnahme getrennt zu messen.

 

Folgen für Forschung und Praxis

„Die FDG-PET wird sowohl in der Demenzforschung eingesetzt als auch im Rahmen der klinischen Versorgung“, so Brendel. „Insofern sind unsere Ergebnisse wichtig für die korrekte Interpretation solcher Aufnahmen des Gehirns. Sie lassen zudem manche, bislang rätselhafte Beobachtungen in neuem Licht erscheinen. Bestehende Diagnosen stellt dies aber nicht in Frage. Es geht vielmehr um ein besseres Verständnis der Krankheitsmechanismen.“

 

Haass zieht aus den aktuellen Ergebnissen weitere Schlüsse: „In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass die Mikroglia bei Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen eine maßgebliche, schützende Rolle spielen. Es wäre sehr hilfreich, wenn man Aktivität und Reaktion dieser Zellen etwa auf Medikamente nicht-invasiv überwachen könnte. Insbesondere um festzustellen, ob eine Therapie anschlägt. Unsere Befunde deuten darauf hin, dass das per PET möglich sein könnte.“

Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)

Das DZNE ist eine Forschungseinrichtung, die sich mit sämtlichen Aspekten neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS) befasst, um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Es wird öffentlich gefördert und ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft. Website:

 https://www.dzne.de

Originalpublikation:

Microglial activation states drive glucose uptake and FDG-PET alterations in neurodegenerative diseases; Xianyuan Xiang et al.; Science Translational Medicine (2021), DOI: 10.1126/scitranslmed.abe5640


Meistgelesener Artikel

Jeden Montag wird jeweils aktuell der meistgelesene Artikel unserer Leserinnen und Leser der letzten Woche bekanntgegeben.


Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.


Mein Mittelland

Menschen zeigen ihr ganz persönliches Mittelland. Wer gerne sein Mittelland zeigen möchte, kann dies hier tun
->
Mein Mittelland



Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der Mittelländischen ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 


Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.


Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst unsere Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.


Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0