„Ich sage: Kinder auf die Jagd“

Silvia Boadella  (Photocredit: Christine  Kocher)
Silvia Boadella (Photocredit: Christine Kocher)

DMZ –  KULTUR ¦ Urs Heinz Aerni ¦                                     Silvia Boadella (Photocredit: Christine Kocher)

 

Mario Theus wuchs mit der Jagd in Graubünden auf und machte einen vielschichtigen Dokumentarfilm über ein Handwerk, das in regelmäßig Debatten auslöst. Er erklärt im Interview, seine Absichten mit seinem Film über „Jäger und Sammler“, der im Herbst in die Kinos kommt.

 

Aerni: Bevor wir zur Kernaussage Ihres Filme kommen, sei die Frage erlaubt, ob sich diese fünf investierte Jahre für den Film gelohnt haben.

Mario Theus: Ja, auf jeden Fall. Aus einer Gedankenspielerei beim Kaffeetrinken mit meinem Produzenten Martin Schilt ist Realität geworden. Es ist ein schönes Gefühl mit einem Film, die faszinierende Naturwelt mit ihren Wildtieren und die Menschen, welche sie beobachten, kennen und lieben, für ein größeres Publikum erfahrbar zu machen.

 

Aerni: Jagd polarisiert, ist jedoch für viele Zeitgenossen ein fremdes, ja exotisches Terrain. Eine Art Aufklärungsfilm?

Theus: Warum nicht? In der Schule, in Büchern oder vom Hörensagen lernen wir die Jagd nicht wirklich kennen. Zudem sind persönliche Jagderfahrungen in der einheimischen Natur mit ihren Tieren für eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung selten geworden. Unsere Kultur verändert sich. Statt durch einen Feldstecher zu schauen, tippen wir auf dem Smartphone, statt zu pirschen betreiben wir Trailruning Ich wollte einen Film realisieren, der die Jagd für das Publikum erlebbar macht und dadurch hoffentlich auch verständlicher.

 

Aerni: Sie outen sich im Film und geben zu, dass Sie als junger Jäger Angst hatten vor Grossraubtieren. Wie beeinflusst diese Angst unseren Umgang mit den «tierischen» Jägern wie Bär und Wolf? 

Theus: Wir fürchten oft was wir nicht kennen. Und was wir fürchten, das bekämpfen wir. Wir argumentieren dann scheinbar rational und malen ein Weltbild in dem die vermeintliche Gefahr angegriffen wird. In diesem Fall die Grossraubtiere. Das Fundament der selektiven Argumentation ist jedoch die Emotion der Angst. Diese Angst Verhindert dann, dass wir uns dem Gesamtbild öffnen. Die einzige Lösung die wir so bewusst oder unbewusst vorantreiben ist die Elimination des Angstauslösers. 

 

Aerni: Es gibt im Film Sequenzen, von denen man fast meinen könnte, dass sie ein Versuch des Brückenschlagens sein könnten, zwischen Mensch und Tier...

Theus: Wenn ich einen Mitmenschen, oder auch ein Tier wirklich verstehen möchte, dann muss ich in seine Welt eintauchen und diese selbst erfahren. Dadurch können wir andere Meinungen, Leidenschaften und Traditionen als das betrachten, was sie sind – ohne sie zu werten.

 

Aerni: Und das geschieht zu wenig, die Bereitschaft, zu erleben ohne gleich zu werten?

Theus: Auf jeden Fall. Wenn ich meine Meinung aber aufgrund von Informationen und nicht Erleben bilde, dann sagt diese Meinung mehr über mich aus als über das Meinungsobjekt selbst. Meine Meinung ist dann ein Spiegel von mir. Wenn ich wirklich verstehen möchte, weshalb ein Jäger ein Tier tötet oder wieso die Jagd ein Kulturhandwerk sein soll, dann muss ich selbst jagen oder die Jäger und Jägerinnen in ihre Welt begleiten. Ich hoffe, dass der Film genau das möglich macht.

 

Aerni: Sie nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar und ohne große Voraberklärungen direkt mit, ins Geschehen.

Theus: Das ist die Idee. Wir wollten einen Film machen, der dem Zuschauer die Möglichkeit gibt durch das filmische Erleben zu verstehen. Der Begriff «Einsicht» bringt das für mich gut auf den Punkt: Meinungsbildung durch eine vertiefte Auseinandersetzung. Ich möchte mit meinem Film den Horizont erweitern. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können einen Teil des Lebens der heutigen Jägerinnen und Sammler miterleben, vom Kind bis zum Erwachsenen.

 

Aerni: Das Interesse an der Natur scheint zu steigen, was die Auflagenzahlen von Magazinen über Natur und Garten oder die vielen beliebten TV-Dokumentarfilme zu bestätigen scheinen. Aber eigentlich haben wir uns von der echten Natur distanziert, oder?

Theus: Korrekt, und doch haben wir alle vor noch nicht allzu langer Zeit von und mit der einheimischen Natur gelebt. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit der Natur ist immer noch tief in uns verankert – auch wenn die meisten von uns ihre Nahrungsmittel heute im Supermarkt einkaufen.

 

Aerni: Und die Jägerinnen und Jäger?

Theus: Gute Jäger und Jägerinnen pflegen einen bewussten und respektvollen Umgang mit der Natur. Das erklärt Pirmina Caminada, die erste Wildhüterin des Kantons Graubündens, in meinem Film sehr eindrücklich. Das Handwerk wird aber von vielen Leuten weder wertgeschätzt noch akzeptiert. Wenn es mir mit dem Film gelingt, das Verständnis für das Kulturhandwerk der Jagd zu fördern, dann ist der Film eine Bereicherung.

 

Aerni: Ihr Film wird berühren aber auch für viele Menschen, denen die Welt der hiesigen Wildtiere und die Jagd fremd ist, irritieren. Welche Fragen sollen nach dem Betrachten des Filmes diskutiert werden?

Theus: Der Film vermittelt einen hautnahen und sehr persönlichen Einblick in das Jagdhandwerk in unseren Berggebieten. Dies führt zu Neugierde, aufrichtigem Interesse und Anteilnahme. Das ist die beste Grundlage für eine Auseinandersetzung.

 

Aerni: Das heißt, Sie suchen den Austausch mit Menschen, die der Jagd kritisch gegenüberstehen?

Theus: Aber ja doch, denn eine Diskussion unter diesen Voraussetzungen kann Jäger und Nichtjäger annähern, sie kann Missverständnisse aufklären und einer kulturellen Minderheit eine Plattform bieten. Die Debatte kann und soll hoffentlich auf allen Seiten zu neuen Sicht- und Denkweisen anregen und so zu gegenseitigem Verständnis führen, sprich einen Aha-Effekt auslösen.

 

Aerni: Sie weisen im Film daraufhin, dass auch Nichtjäger bis zu 1000 Tiere durch ihren Fleischkonsum auf dem Gewissen haben. 

Theus: Wir essen mehr Fleisch als uns gut tut. Sei dies aus gesundheitlicher Sicht, sei dies aus ökologischer Sicht und auch aus moralischer Sicht. Der heutige Fleischkonsum hat eine regelrechte Industrie geschaffen. Nutztiere sind Sachwerte geworden.

 

Aerni: Woher kommt das denn?

Theus: Eine mögliche Ursache dafür ist die Entkoppelung des menschlichen Bewusstseins vom Wunder des Lebens, von der Natur und ihrem endlosen Kreislauf von Werden und Vergehen. Wir sind uns vielleicht zu wenig bewusst, dass die Baustoffe für jede Zelle die unseren Körper formt und uns lebendig macht, von vergangenem Leben stammt. Unsere Ernährungsweise und damit auch unser direkter und indirekter Einfluss auf die Umwelt und die eigene Gesundheit könnte sich stark zum Besseren wenden. Möglicherweise brauchen wir dazu mehr Achtsamkeit für das vorangegangene Leben in der Nahrung die unser eigenes Leben überhaupt möglich macht.

 

Aerni: Ein Teil des Filmes widmet sich einem Großvater und Vater, die ein Kind mit auf die Gamsgjagd mitnehmen. Für die einen Momente der Poesie, andere stellen die Frage, ob das sinnvoll sei.

Theus: Ich bin mit der einheimischen Jagdkultur aufgewachsen. Mein Vater nahm mich zum ersten Mal mit auf die Jagd, als ich sechs Jahre alt war. Den Wunsch mitzudürfen hatte ich schon im Alter von vier Jahren. Ich war sehr neugierig und wollte unbedingt in diese Welt der Fabelwesen wie Schneehasen, Gämsen, Hirsche oder Rehe eintauchen. Denn mein Vater brachte diese Wesen jeweils als Beute nach Hause mit. Das ich in einer Jägerfamilie aufgewachsen bin, sehe ich als Geschenk. Ich wollte im Film zeigen, wie Kinder in die Jagdkultur eingeführt werden und diese von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Besonders schön finde ich persönlich auch die Momente, wo die Mutter ihrer Tochter das Jagdhandwerk beibringt. Die Göttin der Jagd ist schließlich eine Frau.

 

Aerni: Was lehrte Sie, der durch Ihre Eltern möglich gewordenen Zugang zur Natur?

Theus: In Begleitung meines Vaters durfte ich die Naturwelt von klein auf entdecken und einen tiefen Zugang zu dieser entwickeln. Kein Buch, kein Bildschirm, war mein Zugang, sondern das eigene Erleben. Ich sah, wie Blitze in Felswände einschlugen, ich spürte die Kälte wie Nadelstiche in meinen Zehen und Fingern. Ich lernte, mich dem Tagesablauf der Wildtiere anzupassen; in aller Frühe aufzustehen, weite Strecken mit Sack und Pack zu gehen, in der wärmenden Mittagssonne zu rasten oder mich gar wie ein Fuchs zum Schläfchen einzurollen. Ich lernte, meine Augen zu schärfen wie ein Adler, meine Ohren zu spitzen wie ein Luchs und die Geräusche der Natur zu erkennen. Ich übte, die Windrichtung auf meiner Haut zu spüren. Ich erforschte die Landschaften, entdeckte deren geheimen Durchgänge und die sicheren Pfade der Wildtiere. Ich übernachtete in Höhlen auf hartem Boden, und ich bewunderte den Sternenhimmel. Und ich lernte zu jagen - eine Beute zu erlegen, diese auszuweiden, zu bergen und zu verwerten.

 

Aerni: Und wie sickert all das Erlebte als Bereicherung in Ihren heutigen Alltag?

Theus: Bereits als Kind an der Seite meines Vaters lernte ich etwas, was mir mein ganzes Leben lang und besonders als Filmer sehr entgegenkommt: Geduld, Durchhaltewillen, Zielstrebigkeit, Achtsamkeit und Wertschätzung. Das Jägerleben ist eine der besten Lebensschulen überhaupt. Darum sage ich nicht wie Herbert Grönemeyer „Kinder an die Macht!“ - ich sage: „Kinder auf die Jagd!“.

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Mario Theus, geboren 1979 in Sta. Maria. Der Rätoromane ist in der Val Müstair aufgewachsen und lebt heute im Calancatal (GR). Er ist passionierter Gebirgsjäger und jagt seit 1999 aktiv in Graubünden für die eigene Küche. 2006 schloss er an der ETH Zürich das Studium als Forstingenieur ab. Von 2007 bis 2011 war Mario Theus offizieller Bärenexperte beim Bundesamt für Umwelt. Von 2011 bis 2014 arbeitete er als Redaktor und Tierfilmer für die Sendung „Netz Natur“ beim Schweizer Fernsehen. Heute ist Mario Theus Filmemacher und Fotograf bei Palorma GmbH.


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