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Straumanns Fokus am Wochenende - Etwas ist uns doch noch eingefallen…

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Karl Kraus, der grosse österreichische Journalist und Satiriker, der während 37 Jahren seine Zeitschrift «Die Fackel» alleine schrieb, herausgab und verantwortete, war Zeit seines Lebens (1874-1936) nie um Worte verlegen. Im Gegenteil: Seine Worte waren seine Waffe, mit der er gegen den Ungeist der Zeit ankämpfte, besessen von der Mission, ein Bollwerk zu sein gegen den Kulturzerfall. Aber angesichts dessen, was nach 1933 geschah, verschlug es auch ihm die Sprache. 1935 schrieb er: «Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein».

 

Es ist eine Sprachlosigkeit, die niemand besser nachvollziehen kann als derjenige, der sich heute anschickt, das Geschehen im weissrussisch-polnisch-litauischen Dreiländereck zu kommentieren. Mehr Zynismus war nie. Alexander Lukaschenko, dieser weissrussische Präsidentenhalunke, der vor einem Jahr die Wahl gestohlen hat (nicht die erste) und daraufhin die Proteste in seinem Land mit Staatsterror niederwalzte, hebt die Unmenschlichkeit in neue Sphären. Er lockt die Verzweifelten dieser Erde aus Syrien, aus Libyen, irakische Kurden, Menschen aus allen möglichen Krisenregionen mit dem Versprechen an, ihnen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, nimmt ihnen dafür 6000 bis 8000 Dollar ab, fliegt sie nach Minsk, lässt sie dort einige Nächte in der Kälte frieren (oder erfrieren) und transportiert sie schliesslich in ganzen Busladungen an die polnische und litauische Grenze. Dort gibt es für diese Menschen weder vor noch zurück: Vor ihnen liegen Rollen frisch verlegten Stacheldrahtes (des messerscharfen sogenannten «NATO-Drahtes»), der überdies von 20'000 polnischen und litauischen Soldaten abgesichert wird; hinter ihnen steht die Phalanx der Armee Belarus’, die sie hierher gekarrt hat und jetzt mit Waffengewalt daran hindert umzukehren. Schüsse waren vielfach zu hören; es soll Tote gegeben haben. Frauen, Kinder, Männer liegen bei Minusgraden in einem ihnen zugeordneten Waldstreifen, so gut wie ohne Nahrung, ohne Trinkwasser, ohne medizinische Versorgung, ohne juristische Betreuung und ohne die Aufsicht der Weltpresse, die wenigstens noch den Rest einer Schutzwirkung haben könnte. Denn sowohl die polnische wie auch die litauische Seite haben den nationalen Notstand ausgerufen und somit die Ausserkraftsetzung völkerrechtlicher Normen erwirkt. Tausende sind es, und es werden täglich mehr.

 

Was treibt diesen Lukaschenko an, seit 1994 faktischer Alleinherrscher und Folterer seines Landes? Die EU hat ihm nach der offenkundig gestohlenen Wahl 2020 die Anerkennung entzogen und Weissrussland mit neuen Sanktionen belegt, die ältere Massnahmen verschärften, welche bereits seit 2006 in Kraft waren. Die Schweiz hat sich allem angeschlossen. Geht es darum, dass Lukaschenko mit seinem staatskriminell organisierten Schleppertum die EU zum Einlenken zwingen will? Oder will er der EU einfach etwas heimzahlen? Will er einen Spaltkeil in die EU hineintreiben, zwischen Polen und dem Baltikum einerseits und Deutschland und dem Westen andererseits? Oder reitet ihn einfach sein Sadismus zuzuschauen, wie die «Wertegemeinschaft» EU (als die sie sich selbst so gerne sieht) am Gegensatz von Anspruch (geltendes Asylrecht) und Wirklichkeit (Praxis des illegalen «Push-backs») scheitert?

 

Es darf angenommen werden, dass Lukaschenko nicht ohne die Einwilligung Moskaus handelt. Oder, mehr noch, vielleicht ist der Kreml-Chef sogar der Spiritus rector des ganzen Horrors. Denn dass ihm eine Schwächung sowohl der EU wie der NATO entgegenkäme, ist kein Geheimnis. Gewiss ist, dass die NATO (also die USA) in Sachen Ukraine eine zweifelhafte Rolle spielte und spielt; der Umsturz in der Ukraine 2013/14 – um nicht zu sagen: der Putsch – war eine westliche Aggression vor der russischen Haustüre. Aber niemals rechtfertigt dies eine Aktion wie die gegenwärtige, die Tausende unschuldiger Menschen zum Spielball der Skrupellosigkeit von einer Handvoll Zynikern mit Allmachtsphantasien macht.

 

Wo keine Skrupel sind, ist jeder moralische Appell nutzlos. Die Putins und Lukaschenkos dieser Welt sind so mies, wie sie nun einmal sind. Dazu fällt uns wie damals Karl Kraus nichts mehr ein. Aber wenn der Westen sich nur einen Hauch davon bewahrt hat, was er sich so gerne auf die Fahne schreibt (Demokratie! Menschenrechte! Humanitäre Tradition!), dann dürfen die Appelle an die EU und die NATO nicht vergebens sein. Was wir uns keinesfalls leisten dürfen, wäre es, diesen Unmenschen den Triumph zu gönnen: Seht, wie verlogen dieser Westen ist! Schaut, wie nichtswürdig sein moralisch überlegenes Getue! Guckt, wie christlich er Wasser predigt und Wein trinkt!

 

Wir haben keine andere Wahl, als diese Menschen, die jetzt in einem Streifen Niemandsland zwischen Weissrussland und Polen verhungern und erfrieren, hereinzulassen und ihnen nach Recht und Gesetz zu ermöglichen, einen Asylantrag zu stellen. Alles andere muss an anderer Stelle geschehen: Dort, wo die Flugzeuge starten mit der Destination Minsk. Die Fluggesellschaften selbst können durch Boykott der EU-Staaten in die Knie gezwungen werden; entsprechende Beschlüsse wurden bereits gefasst. Eine Alternative dazu gibt es nicht. Und zwingend müsste Bundesrätin Keller-Sutter zur Einsicht gebracht werden, dass auch die Schweiz ein paar Hundert Bemitleidenswerte aufnimmt.

 

2015, angesichts einer viel grösseren Zahl von Menschen, die in die EU drängten, sagte Bundeskanzlerin Merkel: «Wir schaffen das.» Es hat sie politisch fast den Kopf gekostet. Aber es war ein grossartiger Satz einer Frau, die nicht vergessen hat, wofür sie die Kanzlerschaft einst antrat: Für Werte. Jetzt ist es an Europa insgesamt zu zeigen, ob die Staaten sich dieser Vorgabe würdig erweisen. Da die Wahlen – in Deutschland – seit kurzem vorbei sind, wären Mut und Menschlichkeit grad günstig zu haben... Etwas ist uns also doch noch eingefallen: Wie wohltuend es wäre, diesen Schurken zu zeigen, dass mit nichts als Zynismus kein Staat zu machen ist. 

 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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