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Straumanns Fokus am Wochenende - Den Scharfmachern vertrauen?

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Heute, am Freitag, den 18. Februar 2022, ist die Ukraine ein bedrohter, aber nach wie vor unabhängiger Staat. Auf vorgestern Mittwoch, 16. Februar, hatte die CIA den Angriff Putins angekündigt. Nichts ist passiert. Zwar geht in Kiew nur vor die Tür, wer unbedingt muss, aber das ist dem unwirtlichen Kontinentalwind geschuldet, der über den Maidanplatz fegt, und nicht russischen Panzern. Wohlverstanden: Wir sind nicht naiv und werden uns hüten, uns von den Schalmaienklängen einlullen zu lassen, die Wladimir Putin jüngst betreffend Truppenabzug flötete.

 

Aber wir sind ebenso wenig naiv, wenn es um die Einschätzung der westlichen Phalanx geht. Mit Blick auf die von der CIA letzte Woche in die Welt gesetzten Behauptung, am 16. werde Moskau losschlagen, wurde am vergangenen Wochenende eine fatale Hektik unter den NATO-Staaten losgetreten, die plötzlich alle ihr nicht benötigtes Botschaftspersonal aus Kiew repatriiert haben. Westliche Fluggesellschaft fliegen die ukrainische Hauptstadt noch an, aber internationale Flüge über ukrainisches Hoheitsgebiet sind seither gecancelt. Boris Johnson, britischer Noch-Premier, verschaffte sich im Party-Gate etwas Luft, indem er der Welt vorfaselte, die Russen seien höchstwahrscheinlich im Begriff, einen Kriegsgrund zu fälschen, um sich einen Vorwand für den Angriff zu organisieren. Putin als der neue Quasi-Hitler: Seit 05:45 wird jetzt zurrrückgeschosssen.

 

Um keine Missverstände aufkommen zu lassen: Hier wird nicht die These vertreten, so etwas sei unmöglich. Putin ist mit allen Wassern gewaschen. Aber Figuren wie Boris Johnson stehen ihm in nichts nach. Und gegenüber der Plausibilität, dass sich Putin solcher Spielchen bediente, halten wir es für mindestens ebenso wahrscheinlich, dass die Scharfmacherei in der NATO ausser Kontrolle geraten könnte. In der Fälschung von Angriffsgründen, um den demokratischen Öffentlichkeiten Legitimität von kriegerischer Aggression vorzugaukeln, macht den Amerikanern und den Briten niemand etwas vor. Erinnern wir uns daran, wie der damalige US-Aussenminister Powell 2003 die UNO angelogen hat, um die Menschen für den Irak-Krieg gewogen zu stimmen. Oder wie – anlässlich des ersten Golfkriegs – die Mär erfunden wurde, irakische Soldaten hätten die Neugeborenenabteilung eines Spitals in Kuweit gestürmt und 312 Babies aus ihren Brutkästen geworfen. Oder wie Präsident Lyndon B. Johnson 1964 von einem nordvietnamesischen Angriff auf den US-Zerstörer Maddox laberte, um seine mörderischen Bombardierungen Nordvietnams zu rechtfertigen. Bei keiner dieser Lügen mussten die USA je auf die Gefolgschaft Grossbritanniens verzichten, die jeder Aggression unbesehen folgten. Millionen von Toten waren die Folgen. Keines dieser Kriegsverbrechen ist je völkerrechtlich geahndet worden. Kein Wunder: Ihre Urheber haben als ständige Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat das Vetorecht.

 

Wer seine sieben Sinne beisammen hat, sollte sich hüten, diesen Scharfmachern zu folgen. Sie sitzen in den Geheimdiensten des Ostens wie des Westens, sie sitzen in den Generalstäben hüben und drüben, wo man Probleme nach der Anzahl benötigter Divisionen aufrechnet, und leider ist zu beobachten, wie die Scharfmacherei auf die Politik übergreift. Und immer zu ihren Diensten: Die Chefredaktionen der westlichen Leitmedien („Die Lage im Donbass spitzt sich zu!“).

 

1990, als Gorbatschow der Wiedervereinigung Deutschlands zustimmte, tat er es auf das Versprechen des US-Aussenministers Baker, die NATO werde sich keinen Fussbreit nach Osten ausdehnen. Seither sind der NATO beigetreten (man zücke eine Europakarte, um sich das von Norden nach Süden bewusst zu machen): Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Zusammen mit Griechenland und der Türkei (was haben die eigentlich in einem nordatlantischen Bündnissystem verloren?) bedeutet das eine strategische Umfassung Russlands an seiner europäischen West- und Südgrenze.

Fehlen nur noch die Ukraine und Weissrussland (wo sich die gegenwärtige Krise wiederholen wird, sobald Lukaschenko vom Fenster weg ist). Man stelle sich vor, was gewesen wäre, wenn der Warschauer Pakt selig von Mexiko bis Venezuela ganz Mittelamerika unter seine Kontrolle zu bringen versucht hätte…

Den Falken in der NATO stellt sich derzeit nur eine Nation entgegen, und auch sie nur zaghaft: Deutschland. Deutschland verbindet mit Russland (wenn wir vom Stalinismus und dem Kalten Krieg absehen) ein intensiver geistiger und wirtschaftlicher Austausch und eine jahrhundertelange Freundschaft. Was die Verbrechen der Kriegszeit betrifft, standen sich die Herren Hitler und Stalin in nichts nach. Deutschland hat für seine damaligen Untaten im Osten Busse geleistet, symbolisiert durch Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970.

 

Der heutige deutsche Kanzler Olaf Scholz bemüht sich nach Kräften, das Erbe der deutsch-russischen Freundschaft zu wahren und gleichzeitig im westlichen Bündnis ein verlässlicher Partner zu sein. Statt dass ihm dafür Lob zuteil würde, erhält er von allen westlichen Leitmedien so heftige Prügel, dass er – leider – nach und nach einzubrechen scheint. Das ist bedauerlich. Jedes Zugeständnis, das er Biden und der NATO macht, wird von der westlichen Presse gefeiert: Aha, Scholz gewinnt an Statur! Haben wir ihn doch noch ins Boot geholt!

 

Wir müssen vorsichtig sein, gewiss. Aber dass wir uns von der gesamten westlichen Presse einreden lassen, nicht die Besonnenen hätten recht, sondern die Scharfmacher, hat nichts mit Vorsicht zu tun. Sondern mit handfesten Interessen, beispielsweise jenen der amerikanischen Rüstungsindustrie, die alle Nationen, die neu zur NATO stossen, mit NATO-kompatiblem Kriegsgerät ausstatten darf. Es geht um Hunderte von Milliarden Dollar. Also um Interessen, die mit uns nichts zu tun haben. 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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