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Straumanns Fokus am Wochenende - Kohlhaas 2.0

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Wladimir Putin führt uns über die Grenzen dessen hinaus, was ein normaler Mensch verstehen kann. In ihm tritt in Erscheinung, was es heisst, von allen guten Geistern verlassen zu sein. Er selbst geht wohl davon aus, bei klarem Verstand zu sein. Aber in Tat und Wahrheit leidet er an der Verblendung, für Verstand zu nehmen, was seine persönliche kalte Logik ist. Es ist die Logik dessen, der sich in das verbohrt, was er für sein Recht hält. Wie Michael Kohlhaas in der Novelle von Heinrich von Kleist fühlt er sich legitimiert, alles und alle in den Strudel des Untergangs zu reissen. Und es scheint sogar – wie es der Psychologie von Gewaltverbrechern eigen ist –, als teile sich Putin darüber in einem Code geheimer Symbole mit. Seinen Handlungen lässt sich eine Botschaft entnehmen. Allerdings eine, die in den westlichen Leitmedien nicht erwähnt wird, weil sie auf einen historischen Umstand Bezug nimmt, der der Öffentlichkeit stets verschwiegen wurde.

 

Wir reden nicht davon, dass USA und NATO nach 1990 das hoch und heilig zugesicherte Versprechen, die NATO werde sich nie weiter Richtung Osten ausdehnen, noch und noch gebrochen hat. Das ist für Putin auch von Bedeutung, aber zweitrangig. Keiner der Staaten, die sich seither unter den westlichen Verteidigungsschirm geflüchtet haben, wäre ihm wichtig genug. In Putins Augen war der Sündenfall ein anderer.

 

Eine Meldung aus dem ukrainischen Kriegsgeschehen liess uns in diesem Zusammenhang gestern aufhorchen. Putin werde, so hiess es, wenn er dereinst den ukrainischen Präsidenten Selenski erwischt und ihn den Kameras und Mikrophonen entzogen habe, Viktor Janukowitsch als Präsident und Nachfolger Selenskis installieren.

 

Janukowitsch, da war doch mal was? In der Tat. Viktor Janukowitsch soll nicht nur der Nachfolger Selenskis sein, sondern er war auch einer seiner Vorgänger. Janukowitsch war der gewählte Präsident der Ukraine, ehe er 2014 im Laufe der Maidan-Unruhen aus dem Amt und ins Exil gedrängt wurde. Wie legitim Janukowitschs Herrschaft damals gewesen sein mag, ist eine andere Frage – Legitimität und Rechtsstaat haben den Gewaltmenschen Putin nie interessiert.

 

Aber Janukowitsch war gewählt. Er wurde im Februar 2014 durch die Macht des Volks abgesetzt, die sich auf dem Maidan mit blutiger Entschlossenheit manifestierte, als am 20. Februar Scharfschützen der Menge in den Rücken geschossen hatten. 40 Tote waren die schreckliche Bilanz; 40 geopferte Menschenleben, für die man direkt Janukowitsch verantwortlich machte. Damit war er politisch nicht mehr zu halten.

Aber er war nicht der Täter. Erstens hatte er in der damaligen Situation nicht das geringste Interesse, die Situation eskalieren zu lassen. Zweitens gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Fäden für die Eskalation der Demonstrationen in der amerikanischen Botschaft zusammenliefen. Der amerikanische Botschafter in Kiew hiess Geoffrey Pyatt. Er stand in direkter Verbindung mit der stellvertretenden Aussenministerin, zuständig für europäische Angelegenheiten, namens Victoria Nuland. Ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Pyatt und Nuland ist ihr zum Verhängnis geworden, weil sie, nicht sehr tiefsinnig, den Kommentar «Fuck the EU!» abgegeben hatte. Diplomatisches Stirnrunzeln in Europa war angesagt – und der eigentliche Inhalt des Telefongesprächs blieb haften, der damals jedoch kaum jemanden interessierte.

 

Heute schon. Der Mitschnitt des Anrufs beweist nämlich, dass zwischen der US-Botschaft und dem Aussenministerium die Frage behandelt wurde, wer in der künftigen ukrainischen Regierung sitzen werde. Damit war klar, wer in diesem Putsch das Sagen hatte. Nuland hielt dafür, nicht «Klitsch» solle der künftige Ministerpräsident sein (Vitali Klitschko musste sich, wie wir wissen, mit dem Amt des Bürgermeisters von Kiew bescheiden), sondern Arsenij Jazeniuk. Am 22. Februar 2014 wurde Janukowitsch vom Hof gejagt. Am 23. Februar soll Putin, wie er später bekannte, den Auftrag gegeben haben, Vorbereitungen zu treffen, dass man die Ukraine dereinst «zurückholen» könne.

 

Am 24. Februar 2022, also fast exakt am Jahrestag, brach das Inferno über die Ukraine herein. Zufall? Kaum. Und erst recht kein Zufall ist, dass Putin den Mann seines Vertrauens reinstallieren will, der damals aus dem Amt gemobbt wurde. Putin will dem Westen eine Lektion erteilen. Wie ihr mir, so ich euch.

Gibt all das, von dem der Konsument westlicher Leitmedien nie etwas gehört hat (denn die USA hätten nie ihre völkerrechtswidrige Verstrickung in den Putsch eingestanden), Putin das Recht zu seinem Krieg? Selbstverständlich nicht. Er ist und bleibt ein Killer. Er hätte an die Weltöffentlichkeit gelangen, bei der UNO eine Untersuchung verlangen, die internationalen Medien auf seine Seite ziehen können. Putin aber zieht es vor zu schiessen. Er geht den Weg von Tod und Verwüstung.

 

1810 hat Heinrich von Kleist mit «Michael Kohlhaas» das entsprechende Psychogramm entworfen. Dem Rosshändler Kohlhaas widerfährt ein mehr oder minder schweres Unrecht, für das er Wiedergutmachung verlangt, aber mit seiner berechtigten Forderung bei der korrupten Justiz auf taube Ohren stösst. Deshalb geht Kohlhaas den Weg der Selbstjustiz und überzieht ganze Landstriche mit Krieg und Verderben. Erst als der Rechtsstaat einlenkt und für Recht sorgt, anerkennt auch Kohlhaas seine Schuld. Er übergibt sich dem Lauf der Gerechtigkeit und lässt sich geradezu frohgemut öffentlich den Kopf abschlagen.

Heute müsste er sich einem Kriegsverbrechertribunal stellen. Aber hier stossen wir hier auf den Unterschied zwischen Literatur und Wirklichkeit. Putin ist nicht Kohlhaas 2.0.

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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