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CH: Zivilgesellschaftliche Organisationen nehmen Stellung zur Aufhebung der Massnahmen

DMZ –  GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Sarah Koller ¦             

 

Erneut nehmen sieben zivilgesellschaftliche Organisationen Stellung. Diesmal zur Aufhebung aller Corona-Massnahmen ab dem 1. April 2022. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich seit langem für eine evidenzbasierte, nachhaltige und menschlichere Strategie der Pandemiebewältigung einsetzen nehmen es in ihrer Mitteilung gleich selber vorweg, dass sie nicht überrascht sind, dass der Bundesrat trotz rekordhoher Viruszirkulation mit voraussehbaren Long-Covid-Folgen, trotz einer Flut von Krankheitsfällen und anhaltend hoher Spitalbelastung auch die restlichen Corona-Schutzmassnahmen aufgehoben hat. 

 

"Nein, nachdem der Bundesrat im Dezember darauf verzichtet hatte, die anrollende Omikron-Welle wenigstens mit kurzfristig wirksamen Schutzmassnahmen abzubremsen, nachdem die Bevölkerung im Januar die ersten Superinfektionswochen hinter sich gebracht hatte und der Bundesrat am 16. Februar trotz hoher Inzidenz weitgehende Lockerungen beschlossen und damit eine zweite Omikron-Welle zusätzlich befeuert hatte – nach all diesen Fehlentscheiden mit massiven Krankheitsfolgen und

Personalausfällen konnte man nichts anderes erwarten."

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Bundesrat Berset hat der pandemüden Bevölkerung "Freudentage" versprochen

Schliesslich habe Bundesrat Berset der pandemüden Bevölkerung "Freudentage" versprochen und die "gute Situation" beim maskenbefreiten Bad in der Menge medienwirksam inszeniert. Das angeblich milde Omikron sei von den Behörden sogar als «Glücksfall» bezeichnet worden. "Die bundesrätliche Euphorie habe daraufhin viele zur Annahme verleitet, eine Omikron-Infektion führe zur nachhaltigen Immunität." Ein Trugschluss. Eine sogenannte "Grundimmunisierung" gibt es nicht, denn die Bevölkerung ist zunehmends mit Reinfektionen konfrontiert, was dies bestätigt.  Viele Menschen haben sich trotz Booster oder Genesung mittlerweile bereits mehrfach mit dem Virus infiziert. Long-Covid Erkrankungen nehmen rasch zu. Da kommt noch Vieles auf das Gesundheitswesen und die Wirtschaft zu. Mit dem Ende der besonderen Lage fällt auch die Isolationspflicht für Infizierte dahin. Der Bundesrat glaubt, dass in der aktuellen Lage eine allgemeine Isolationspflicht nicht mehr viel bringt und vergleicht das Vorgehen und die Behandlung der Umstände gar mit einer Grippe.

 

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen betonen dann auch, dass der schnell verfügbare Schutz durch Antikörper in wenigen Monaten schwinde. Zudem würden hohe Inzidenzen die Mutationsrate steigern.

"Dies begünstigt die Entstehung neuer Varianten, welche eine durch Impfung oder Infektion erworbene Immunität leichter umgehen können. Zudem entpuppt sich die Immunantwort nur aufgrund einer Omikron-Infektion als schwach und kurzlebig."

 

"Herdenimmunität" mittels Durchseuchung ist eine Illusion

In der Stellungnahme wird auch klar gemacht, dass die Risiken für Long Covid, Diabetes und kardiovaskuläre Folgen ausgeblendet würden. Man sähe sich "nicht gerne als «schwach» und glaubt, es betreffe nur «die anderen» – die Senioren, die Ungeimpften, Untrainierten, Vorerkrankten oder Hospitalisierten. Wir verdrängen, dass es nicht um "die anderen" geht, denn Folgeerkrankungen nach Covid-19 können uns treffen, unsere Kinder, Eltern, Grosseltern, die Ungeimpften, Geimpften und Geboosterten."

 

Klare Faktenlage

Auch die Virologie-Gesellschaft, in der Fachleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz organisiert sind, widerspricht dem Ziel der Herdenimmunität klar und verfasste unlängst eine Stellungnahme. In den vergangenen Wochen sahen wir weltweit, insbesondere auch bei unseren europäischen Nachbarn, wie die Anzahl an SARS-CoV-2-Infizierten mit näherungsweise exponentieller Dynamik anstieg und weiterhin ansteigt. Während Deutschland bis vor kurzem eine moderate Inzidenz verzeichnete, ist auch hier mittlerweile der erneute Beginn einer exponentiellen Ausbreitung zu beobachten2. In Österreich(133)  und in der Schweiz(230)  ist die 14-Tage Inzidenz im Vergleich zu Deutschland (47)  bereits deutlich höher.

 

"Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung grosser Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen".

Die Gesellschaft für Virologie, Fachleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

Unterschrieben haben das Dokument unter anderem Melanie Brinkmann, Christian Drosten und Isabella Eckerle.

 

Aufgrund der explosiven Infektionsdynamik, die man in allen Hotspots quer durch Europa feststellen könne, sei zu befürchten, dass ab einer bestimmten Schwelle auch in bisher unkritischen Regionen die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren ginge.

 

"Bei Überschreiten dieses Schwellenwerts sind die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmassnahmen nicht mehr realisierbar und eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile, einschliesslich besonders vulnerabler Risikogruppen, nicht mehr adäquat zu verhindern."

Die Gesellschaft für Virologie, Fachleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

 

Es sei zu erwarten, dass dies zu einer raschen Überlastung der Gesundheitssysteme führen würde, was zum Beispiel in Deutschland allein schon wegen des Mangels an Intensivpflegekräften bereits bei weit unter 20.000 Neuinfektionen pro Tag der Fall sein könnte. Hierunter werde nicht nur die Behandlung von COVID-19 Patienten, sondern die gesamte medizinische Versorgung leiden. 

 

Risikogruppen: zu zahlreich und zu unterschiedlich, um sie abschirmen zu können

Die Virologie-Gesellschaft weist auf eines der zentralen Probleme hin, die beim Schutz der Risikogruppen bestehen, wenn das Virus sich sonst unkontrolliert verbreiten darf: Diese sind zu zahlreich und zu unterschiedlich, um sie aktiv abschirmen zu können. So gelten neben dem Alter als Risikofaktoren für einen schweren Covid-19-Verlauf unter anderem Übergewicht, Diabetes, Krebs, Nierenschwäche, chronische Erkrankungen von Lunge oder Leber oder eine Schwangerschaft.

 

"Die Ausbreitung von Covid-19 in der Gemeinschaft zu kontrollieren, ist der beste Weg, um unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften zu schützen, bis sichere und wirksame Impfstoffe und Therapien in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen!"

 

Die Gesellschaft schliesst sich damit einer internationalen Erklärung an, die im Fachblatt "The Lancet" erschienen ist und ebenfalls die Strategie der "Great Barrington Declaration" zurückwies.

 

"Wir lehnen diese Strategie entschieden ab, obwohl wir selbstverständlich die enorme Belastung der Bevölkerung durch die einschneidenden Eindämmungsmassnahmen anerkennen. Auch die Gesundheitsversorgung in anderen, nicht mit Covid-19 assoziierten Bereichen, leidet unter den Einschränkungen, die zur Abmilderung der Pandemie verhängt wurden. Dennoch sind wir überzeugt, dass die Schäden, die uns im Falle einer unkontrollierten Durchseuchung unmittelbar aber auch mittelbar drohen, diese Belastungen um ein Vielfaches überträfen und in eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe münden können."

Gesellschaft für Virologie

 

Mit dieser Einschätzung sind die Experten nicht alleine: in einer Erklärung, die am 14. Oktober in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht wurde („John Snow Memorandum“), äusserten zahlreiche internationale ExpertInnen ebensolche Bedenken und raten mit allem Nachdruck von der Verfolgung der in der Great Barrington Declaration propagierten Strategie der unkontrollierten Durchseuchung ab.

"Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, da selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gibt, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können.  Eine mögliche Komplikation einer überstandenen COVID-19-Erkrankung stellt auch das sogenannte „long COVID“-Syndrom dar, das verschiedene Spätschäden an Atemwegen, Gefässen, dem Nervensystem oder anderen Organen zusammenfasst, welche die Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und vermutlich auch Lebenserwartung enorm einschränken.

Die Virologie-Gesellschaft urteilt sogar, Herdenimmunität anzustreben, sei "unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant". Man wisse noch nicht einmal, wie lang die Immunität anhalte. Und eine mögliche Komplikation der Infektion, das Long-Covid-Syndrom, könne die Lebensqualität langfristig einschränken.

"Wir respektieren abweichende Haltungen, die einzelne KollegInnen in den Medien und sozialen Netzen vertreten, da kontroverse Diskurse Wesensmerkmal sowohl der Wissenschaft als auch der Demokratie sind", heisst es weiter. Der Vorstand hielt aber die Stellungnahme für geboten, die laut vieler Gespräche und E-Mails auch die Haltung der Mehrheit der virologisch und ärztlich tätigen Mitglieder abbilde.

 

"Scheinheilige Eigenverantwortung" hat sich meist in Form von Egoismus manifestiert

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen seien nach der Vorgeschichte nicht überrascht, dass der Bundesrat bei hoher Inzidenz auch noch die Isolationspflicht abschafft und die schweizweite Maskenpflicht in Gesundheitseinrichtungen sowie im ÖV aufhebe. "Nein, wir sind masslos enttäuscht, dass diese vor Wochen geplante "Normalisierung" trotz anhaltend hoher Viruszirkulation einfach durchgezogen wurde, ohne Rücksicht auf Betagte und Vulnerable." Sie seien wütend und besorgt, dass es wieder vermehrt Heime gebe, in welchen man für einen adäquaten Schutz der betagten Angehörigen kämpfen müsse. Leider sende der Bundesrat damit das falsche Signal an die Bevölkerung und an die Kantone. Statt gegenseitige Rücksichtnahme zu fördern, proklamiere er erneut diese "scheinheilige Eigenverantwortung", die sich "in zwei Jahren Pandemie meist in Form von Egoismus manifestierte".

 

"Es ist beschämend, dass unser Land die Verhältnismässigkeit zur Maxime erklärt und bei Prävention und Infektionsschutz nicht einmal Mittelmässigkeit erreicht."

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Bildung Aber Sicher, IG Risikogruppe

 

Drängende Fragen

  • Warum schützt die Politik nicht unser überlastetes und nach zwei Jahren Pandemie ausgebranntes Gesundheitspersonal in den Spitälern?
  • Warum sorgen Bildungsdirektionen nicht für einen adäquaten Schutz von Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen am Arbeitsplatz?
  • Wir können nachvollziehen, wenn der Bundesrat Zero Covid als unrealistisch einschätzt. Aber muss man daraus folgern, dass hohe Inzidenzen unvermeidlich sind?
  • Warum wurde Low Covid (proaktive Niedriginzidenz-Strategie) mit einem intelligenten Massnahmenmix nie ernsthaft verfolgt?

"Seit Mitte 2021 haben wir uns für einen rechtzeitigen, adäquaten Schutz der Kinder in den Schulen eingesetzt, denn Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildung, sondern auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wir haben davor gewarnt, dass ungenügend geschützte Schulen das Infektionsgeschehen als Corona-Drehscheiben befeuern werden."
 Zivilgesellschaftliche Organisationen

 

Die  zivilgesellschaftliche Organisationen finden es zudem unerhört, dass Politik und EKIF sich um den Gesundheitsschutz der Kinder foutiert hätten und sich noch immer nicht darum kümmern würden: "Dass Kinder kein rechtzeitiges Impfangebot erhielten, dass sie in den Schulen bei ungenügenden oder nicht existenten Schutzmassnahmen ungefragt durchseucht wurden und noch immer werden." Sie seien wütend, dass Bildungsdirektionen nach Aufhebung der Maskenpflicht und Abschaffung der repetitiven Tests suggerieren, sie würden Schülerinnen und Schüler bestmöglich schützen, obwohl sie seit Bekanntwerden der Aerosol-Problematik (ca. Herbst 2020) noch keinerlei Anstrengungen unternommen haben, die Übertragungsrisiken in Schulzimmern durch geeignete Luftfilter zu senken."

 

Lüftungssysteme reduzieren die Übertragung von Covid-19 in Schulen um mehr als 80 Prozent

Erst vor einer Woche wurde durch eine neue Studie bestätigt, dass effiziente Lüftungssysteme die Übertragung von Covid-19 in Schulen um mehr als 80 Prozent reduzieren können. Ein Experiment, das von der Denkfabrik Hume Foundation beaufsichtigt wurde, verglich die Coronavirus-Ansteckungen in 10.441 Klassenzimmern in der italienischen Zentralregion Marken*. Das Experiment wurde zwischen September 2021 und Januar dieses Jahres durchgeführt. Den Bundesrat lässt das kalt. Darauf angesprochen zeigen sich einerseits Unkenntnis, Desinformation und Arroganz, die sich mit Auswürfen äussert, wie: "Man muss halt die Fenster regelmässig öffnen."

 

Studie der Denkfabrik Hume Foundation

Die Infektionen waren in den 316 Klassenzimmern mit mechanischen Lüftungssystemen viel niedriger, wobei die Verringerung der Fälle je nach Stärke der Systeme ausgeprägter war. Wie die Studie zeigt, konnte alleine mit sechs Luftersatzvorgängen die Übertragung von Covid-19 um 82,5 Prozent gesenkt werden.

 

Weltweit wurde in den meisten Schulen nicht gehandelt, und so sind auch heute, zwei Jahre nach der Pandemie, die Schulzimmer immer noch die gefährlichsten Ansteckungsorte. Mechanische Lüftungssysteme fehlen, obschon seit über einem Jahr, die Wirkung und der Nutzen bekannt sind. Stattdessen wurden die Lehrerinnen und Lehrer einfach gebeten, regelmässig zu lüften. Die Schülerinnen und Schüler sind dem System weiterhin fast überall schutzlos ausgeliefert.

 

Mehrwert Lüftungssysteme

Nicht nur Ansteckungen werden massiv reduziert. Durch installierte Lüftungen kann eine permanente Luftzirkulation gewährleistet werden. Sie bringen auch im Sommer Kühlung, sind geräuscharm und führen zu einer gleichmässigen Temperatur im ganzen Raum. Die Lüftungen verhindern zudem verbrauchte Luft im Klassenzimmer und erhöhen so auch die Konzentrationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler.

 

"Ist es nicht zynisch, wenn der verantwortliche Bundesrat die temporäre Schulschliessung zu Beginn der Pandemie als sein schlimmstes Erlebnis bezeichnet, jedoch kein Wort über die Folgen der massiven, seit sechs Monaten andauernden Durchseuchung der Kinder verliert? – Für unser reiches Land ist es ein unglaubliches Armutszeugnis, wenn Bildungsdirektionen den Familien mit schulpflichtigen Kindern wider besseres Wissen keinen tauglichen Infektionsschutz bieten."

Zivilgesellschaftliche Organisationen

  

Immer mehr Menschen leiden an Long-Covid

"Leider stehen immer mehr Menschen, die wir persönlich kennen, aufgrund von Long Covid vor ungelösten gesundheitlichen Problemen, die ihre Lebensqualität stark und anhaltend beeinträchtigen.", halten die Zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrer aktuellsten Stellungnahme fest.

 

"Wo ist die Menschlichkeit, die Empathie gegenüber unserer eigenen Bevölkerung geblieben? Wir erwarten, dass die Politik bereit ist, jetzt aus den (wiederholten) Fehlern zu lernen und Versäumtes nachzuholen. Wir erwarten nachvollziehbares, evidenzbasiertes Handeln! Wir bleiben dran!"

 

Nach den gestrigen Fehlentscheiden des Bundesrates ist ein weiterer Höhepunkt des Scheiterns erreicht.

Unter der Leitung des Bundesrates übergeht die Gesellschaft erneut die "Interessen" der vulnerablen Menschen in der Schweiz. Immerhin zwei Millionen Menschen, also rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Dazu kommen über eine Million Kinder, die ebenfalls noch über keinen Schutz verfügen. Die Schweizer Politik hat versagt und hat sich gestern erneut von ihrer schlimmsten Seite gezeigt. Ohne, dass die vielen Rufe, Hilferufe, Anregungen, Fragen, Warnungen, Hinweise, Studien, Beweise, Erfahrungswerte aus verschiedensten Richtungen und von verschiedenen Seiten gehört wurden, liess man alles unkommentiert und ignorierte einfach. 

Interview mit dem Mitinitiator Dr. sc. techn. ETH Fredy Neeser von der Arbeitsgruppe Kinder schützen – jetzt! - kinder-schuetzen-jetzt.ch

 

DMZ: Ihr Engagement ist bewundernswert, vielen Dank dafür! 
Seit 2 Jahren kämpfen Sie für Vernunft beim Umgang mit den Massnahmen und vor allem für Sicherheit für Kinder und vulnerable Menschen in der Schweiz. Leider mit wenig Erfolg. Wieso denken Sie, stossen Sie immer noch auf taube Ohren bei Medien und Politik? Ist die Pandemie für die Menschen vorbei?

 

Fredy Neeser: Ich sehe das Hauptproblem darin, dass unsere Regierung Verwirrung stiftete und das Vertrauen der Bevölkerung verspielte, indem sie Fehleinschätzungen nicht korrigierte.

 

Ausgehend von den hohen Todeszahlen am Anfang der Pandemie fokussierte man zunächst auf die Vermeidung von Hospitalisierung und Tod – damals ging es vor allem um die stark gefährdeten Senioren. Dass Covid-19 auch langfristige Folgeerkrankungen verursacht, war noch wenig bekannt. Leider verpasste es der Bundesrat, die medizinischen und volkswirtschaftlichen Risiken von Covid-19 Folgeerkrankungen einschliesslich Long Covid angemessen zu evaluieren und der Bevölkerung zu erklären. Stattdessen fuhr er fort, nur auf die Vermeidung von Spitalüberlastung zu fokussieren.

 

Die geringere, doch keineswegs unbedeutende Wahrscheinlichkeit für symptomatische, schwere oder langfristige Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen führte leider zu Fehleinschätzungen und Verharmlosungen durch das BAG, die EKIF und Pädiatrie Schweiz – wir erinnern uns an Daniel Kochs Aussage «Die Kinder sind mit ganz grosser Sicherheit nicht die Treiber dieser Epidemie» oder Christoph Bergers «Covid macht de Chinde nüt» trotz einem Long-Covid-Risiko von mindestens 3%.

 

Leider wurden diese Fehleinschätzungen und Verharmlosungen vom BAG nie korrigiert – auch nicht, als im Herbst 2021 längst klar war, dass bei den ungenügenden Schutzmassnahmen an den Schulen eine massive Durchseuchung der Kinder drohte.

 

Alle diese Faktoren reduzier(t)en die Wahrnehmung der langfristigen Krankheitsrisiken in der Öffentlichkeit. Man glaubt, es betreffe nur «die anderen», und der nahende Long-Covid-Eisberg scheint viel kleiner, weil man erst seine Spitze sieht.

 

Die Koch’sche Fehleinschätzung «Die Bevölkerung kann sich mit Masken nicht wirksam schützen» wurde nicht angemessen aufgearbeitet – es fand nie eine Aufklärung über FFP2-Masken und die Wichtigkeit eines guten Sitzes statt. Auch wurde nicht rechtzeitig erkannt, dass das lange Beharren auf der Impfung als alleinigem Weg aus der Pandemie ein taktischer Fehler war, denn der Verzicht auf angemessene Schutzmassnahmen vermochte Impfunwillige nicht zu motivieren.

 

So förderte eine miserable Krisenkommunikation die Verunsicherung der Bevölkerung und trug zur Polarisierung und Ermüdung der Gesellschaft bei. In den Medien sehen wir generell eine Tendenz, die Meinungsvielfalt und Polarisierung einfach abzubilden. Es gibt zwar löbliche Ausnahmen wie die Mittelländische, doch leider hält man es vielerorts nicht für nötig, in die Tiefe zu gehen und Meinungen mittels Fakten einzuordnen, oder man hat zu wenig Ressourcen dafür. Nach der Ablehnung des Medienförderungspaketes wird die Situation nicht besser.

 

Die Bevölkerung sucht jetzt Harmonie und geht kontroversen Themen lieber aus dem Weg. So begann man nach dem Kontrollverlust in der Omikron-Welle, diesen zum «Glücksfall» umzudeuten. Bundesrat und Kantone behaupten, Omikron würde der Bevölkerung eine «hohe Immunität» verschaffen – trotz Unsicherheiten mit dem Boostern, den Reinfektionen und der Virulenz zukünftiger Varianten, mit denen bei hoher Inzidenz zu rechnen ist.

 

Nein, die Pandemie ist nicht vorbei, der Bundesrat und die Menschen tun nur so.

 

DMZ: Es herrscht Gruppenzwang: Es ist zu beobachten, dass niemand auffallen will und auch aus psychologischen Gesichtspunkten deshalb auf Maske verzichtet, weil es die anderen auch tun. Auch wenn man es besser wüsste und sich und andere weiterhin schützen dürfte und sollte. Wieso wird solchen Abläufen vom BAG und der Politik keine Rechnung getragen und weshalb werden die Menschen nicht dahingehend beraten? 

 

Fredy Neeser: Ich gehe davon aus, dass die viel höhere Schutzwirkung des gemeinsamen Maskentragens wie auch der FFP2-Maske sowohl dem BAG als auch den Kantonsregierungen hinlänglich bekannt ist. Das BAG sollte diese gegenseitige Rücksichtnahme fördern und mit einer verbesserten Maskenempfehlung erleichtern. Damit könnten wir Ansteckungen in stark frequentierten Innenräumen und die daraus resultierenden Long-Covid-Folgen effektiv reduzieren, bis adäquate Massnahmen für saubere Raumluft umgesetzt sind.

 

Allerdings hat die Polarisierung der Meinungen – auch innerhalb von Parteien – dazu geführt, dass sich die Politik beim Thema «Masken» meist nicht exponieren will. Man möchte schliesslich auch massnahmenkritische Wähler*innen bei der Stange halten. Da appelliert man doch lieber an die Eigenverantwortung. Doch leider funktioniert diese nur bei empathischen Menschen und eignet sich schlecht, solidarisches Verhalten und den Schutz des Gegenübers zu fördern. Eher dient sie der Politik als Feigenblatt zum Kaschieren der eigenen Untätigkeit.

 

Nicht hilfreich waren zudem die freizügig verteilten Dispensen, mit welchen die Wirksamkeit der Maskentragpflicht untergraben wurde. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens die Kantone an der Maskenpflicht in Gesundheitseinrichtungen und Heimen festhalten.

 

DMZ: Es fällt generell auf, dass die Bevölkerung sehr schlecht informiert ist und wurde und offenbar auch die Politiker immer noch Fake-News aufsitzen. Gerade gestern in der Pressekonferenz stellte man fest, dass nicht alle sattelfest sind und/oder gefährliche Aussagen machen (Grippevergleich, Wirksamkeit der Maske, Eigenverantwortung, Lüftungen...). An Bemerkungen von den befragten beiden Herren stellte man vor allem eines fest: Sie haben genug, sind überfordert, ausgepowert und genervt. So fielen dann auch die Antworten arrogant und süffisant aus. Wie erklären Sie sich, dass die offizielle Schweiz auch nach 2 Jahren immer noch keine ernsthafte Kommunikation betreiben kann?

 

Fredy Neeser: Es ist schwierig, glaubwürdige Kommunikation auf Augenhöhe zu betreiben, nachdem man das Vertrauen der Bevölkerung verspielt hat.

 

Die Wissenschaft hat seit Beginn der Pandemie in Rekordzeit viele Unsicherheiten für uns aus dem Weg geräumt. Trotzdem ist noch vieles unklar, was die weitere Entwicklung der epidemiologischen Lage und die gesundheitlichen Langzeitfolgen betrifft, und das war nicht anders zu erwarten. Doch eine Corona-Politik, welche Unklarheiten herunterspielt und bei hohen Fallzahlen die Risiken von Folgeerkrankungen nicht berücksichtigt, ist nicht vertrauensfördernd und weder ethisch noch juristisch (Epidemiengesetz) vertretbar.

 

Fehler gehören in einer Krise dazu, aber Vertrauen geht verloren, wenn sie zu oft wiederholt und nicht berichtigt werden. Zum Beispiel, wenn Bundesrat und BAG noch immer nicht bereit sind, offen über Aerosole zu sprechen und sich mit Verweis auf die Eigenverantwortung beim Lüften der Verantwortung entziehen. In gewissen Kreisen zeigt man sich gerne etwas uninformiert. Man bringt damit zum Ausdruck, dass man diejenigen, die es genau nehmen, also die verstaubten Beamten und Bürokraten dort oben in Bern, die Erbsenzähler und die Wissenschaftler nicht allzu ernst nehmen solle.

@gwendolan1 auf Twitter hat es auf den Punkt gebracht:

 

https://twitter.com/gwendolan1/status/1509366563698262024

 

In einer länger andauernden Krise ist es essentiell, dass Entscheide zu Massnahmen nachvollziehbar sind. Die Kriterien für die Steuerung in der Krise müssen transparent sein. Es muss klar sein, welche Massnahmen bei welchen Kriterien getroffen werden. Dies schafft Planbarkeit und Vertrauen.

Das Warten und Beobachten des Bundesrates war spätestens seit der Delta-Welle im Herbst 2021 und der darauf folgenden unkontrollierten Durchseuchung für Wissenschaftler*innen nicht mehr nachvollziehbar. Die fehlende Nachvollziehbarkeit der Entscheide und die daraus folgende Verunsicherung haben zur Polarisierung der Bevölkerung und Verlängerung der Krise beigetragen.

Die Polarisierung erschwert eine kohärente Krisenkommunikation, was wiederum die Polarisierung fördert – ein Teufelskreis.

 

DMZ: Mit Ihrer Medienmitteilung reagieren Sie erneut auf die Politik. Das ist jeweils leider zu spät, was Ihnen natürlich auch bewusst ist, da die Politik aufgrund von Medienmitteilungen keine Beschlüsse ändert. Wieso machen sie sich immer noch die Mühe (was wir natürlich sehr schätzen)?

 

Fredy Neeser: Normalerweise kommunizierten wir mit unseren Informationskampagnen vor anstehenden Entscheiden – im Bestreben, durch Aufzeigen von Zusammenhängen Entscheide zu Gunsten eines proaktiven, ganzheitlichen Vorgehens zu fördern, zum Beispiel für einen wirksamen Infektionsschutz (Käsemodell, intelligentes Kombinieren niederschwelliger Massnahmen).

 

Dieses Mal fiel jedoch auf, dass die ungünstige epidemiologische Entwicklung seit dem Öffnungsschritt im Februar wiederholt heruntergespielt wurde. Offensichtlich war man entschlossen, den Entscheid ohne Rücksicht auf die ungebremsten Infektionen durchzuziehen – eben rücksichtslos.

 

Diese Rücksichtslosigkeit kann nicht unkommentiert bleiben; sie scheint uns symptomatisch für die Corona-Politik der letzten sechs Monate, eine Politik, die eigentlich Vorbild für die Pandemiebekämpfung hätte sein sollen, aber letztlich nur Abbild der polarisierten Gesellschaft war.

 

DMZ: Ihre geschätzt Arbeit ist und bleibt wichtig - haben Sie noch Energie weiterzumachen? Was sind kommende Aktionen, die Sie geplant haben?

 

Fredy Neeser: Tatsächlich wirkte die Ignoranz der Politik seit Herbst 2021 demoralisierend. Die Untätigkeit bei steigenden Fallzahlen, die ungefragte Durchseuchung von Kindern und Familien, der Omikron-Kontrollverlust und schliesslich die verfrühten Lockerungen zehrten an den Kräften und liessen uns mit dem Gefühl zurück, der Willkür einer unsolidarischen, unmenschlichen Politik ausgesetzt zu sein.

 

Anderseits spüren wir in unserer empathischen Community und der zugehörigen Twitter-Bubble eine enorme Solidarität zwischen Familien, Long-Covid-Betroffenen, Risikogruppen und wissenschaftlich orientierten Mitmenschen, die bei der Informationsbeschaffung hervorragend zusammenarbeiten. Das gibt uns Hoffnung, dass wir in nächster Zeit der Wissenschaft mehr Gehör verschaffen können.
Es gibt in der Politik «Luft nach oben» für evidenzbasiertes Handeln.

 

Ich werde mich auf jeden Fall dafür einsetzen, dass die Kantone vorwärts machen mit Auflagen für saubere Raumluft in Schulzimmern – die Aufklärung über Aerosole gehört dazu.

 

Sobald die Batterien wieder aufgeladen sind, werde ich mich zusammen mit unserer Community für eine nachhaltige und menschlichere Niedriginzidenz-Strategie engagieren. Die Politik muss die gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden aufgrund mangelhafter Prävention endlich korrekt bewerten und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. 

 

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