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AT: Ukraine-Krieg als Wendepunkt für Österreichs Sicherheitspolitik?

DMZ –  POLITIK ¦ MM ¦ Lena Wallner ¦                                   

 

Der russische Angriff auf die Ukraine vor mittlerweile beinahe vier Wochen hat die Welt erschüttert. Der Krieg in Europa, der unfassbares menschliches Leid verursacht und noch lange nicht ausgestanden zu sein scheint, hat auch enorme Auswirkungen auf die Sicherheitsarchitektur des Westens. Darüber und über die dadurch aufgeworfenen Herausforderungen für die österreichische Sicherheitspolitik – Stichwort Neutralität – diskutierten gestern in der Internet-TV-Sendung des Parlaments Politik am Ring unter der Moderation von Gerald Groß VertreterInnen der fünf Parlamentsfraktionen mit dem Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber sowie mit Velina Tchakarova, der Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik.

 

Was können beziehungsweise sollen Europa und Österreich tun?

Man habe Putins Plan seit 20 Jahren beobachten können, erklärte Helmut Brandstätter, Bereichssprecher für Außenpolitik der NEOS, der Westen aber sei blind gewesen. Putin habe in den letzten zwei Jahrzehnten viel Geld in die Hand genommen, mit dem Ziel, die europäische Gesellschaft zu zerstören: Oligarchen hätten sich in Europa eingekauft, Putin habe die Grundstoffindustrie zum Teil rückverstaatlicht, er habe Wahlkämpfe rechtspopulistischer Parteien in Europa finanziert. Auch Michel Reimon, Europasprecher der Grünen, betonte, dass man schon lange sehen konnte, was Putin plane und in welche Richtung er gehe. Putins Drehbuch gebe es seit Jahren. Dazu komme, dass Putin in Österreich wie nirgendwo sonst versucht habe, tief in die nationale Politik einzugreifen, und dagegen müsse sich Österreich im eigenen Interesse wehren.

 

Petra Steger, EU-Sprecherin der FPÖ, verurteilte Russlands Angriff auf die Ukraine ausdrücklich, betonte aber, dass es in solch einer Situation Aufgabe der Politik sei, besonnen zu agieren. Man dürfe keinesfalls Öl ins Feuer gießen, was mit der Perspektive einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine oder der Durchsetzung der von der Ukraine geforderten Flugverbotszone zweifellos passieren würde, so die Abgeordnete. Ihrer Meinung nach, so Steger, müsse sich Österreich in dieser Situation neutral verhalten. Friedrich Ofenauer, Verteidigungssprecher der ÖVP, ergänzte, dass Österreich neutral war, sei und es auch bleiben werde. Der 24. Februar stelle jedoch eine Zäsur dar, als Folge dessen müssen Europas, aber auch Österreichs Energie-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik neu gedacht und ausgerichtet werden. Die EU müsse mit einer Stimme sprechen und geeint sein. Putin werde den Krieg zumindest politisch verlieren, zeigte sich Robert Laimer, Verteidigungssprecher der SPÖ, überzeugt. Für die EU, die eine enorme wirtschaftliche Kraft habe, könne dieser Krieg zu neuer politischer Stärke führen; man müsse nur weiterhin an einem Strang ziehen. Gleichzeitig gelte es aber, so auch Laimer, besonnen zu bleiben.

 

Es sei derzeit schwer, wenn nicht sogar unmöglich, zu beantworten, wie der Krieg ausgehen werde und wie ein Ausweg aus der Eskalationsspirale gelingen könne, so der Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber in seiner Einschätzung der Lage. Fest stehe, dass man auch nach Ende des Krieges nicht sofort zur Tagesordnung werde übergehen können. Da eine Kapitulation der Ukraine nicht absehbar sei, sei davon auszugehen, dass die kriegerischen Handlungen auf lange Sicht in eine Art Guerillakrieg übergehen könnten, der lange andauern und nicht minder verlustreich bleiben könnte, so Gruber.

 

Moderne Ausgestaltung der österreichischen Neutralität nötig

Die Frage laute nicht, ob man für oder gegen die Neutralität sei, betonte NEOS-Abgeordneter Helmut Brandstätter, sondern was Österreich für die Sicherheit der Menschen tue, die hier leben. Zu den Bedrohungsszenarien zählten schon lange vor dem Krieg in der Ukraine hybride Bedrohungen wie Hackerangriffe, die ein großflächiges Blackout zur Folge haben könnten. Die Antwort darauf könne nur eine gemeinsames europäisches Vorgehen sein: Da Österreich sich nicht alleine wehren könne, müsse man im Rahmen der EU  dagegen auftreten. Deshalb gelte es, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter zu forcieren und auszubauen, so der Abgeordnete.

 

Petra Steger (FPÖ) wies auf den hohen Stellenwert der Neutralität bei  der österreichischen Bevölkerung hin und kritisierte, dass diese trotzdem  seit Jahren ausgehöhlt werde – speziell durch die Hinwendung Österreichs zur EU. Gefragt nach seiner Position im Hinblick auf die Neutralität betonte ÖVP-Abgeordneter Ofenauer, dass sie Österreich gute Dienste geleistet habe und dies auch zukünftig tun werde. Wenn man sich über die Zukunft der Neutralität Gedanken mache, müsse man sowohl die militärische, als auch die zivile und die geistige Landesverteidigung miteinbeziehen, gab er zu bedenken.

 

Die österreichische Neutralität müsse "modern und offensiv" ausgestaltet werden, zeigte sich Grünen-Abgeordneter Reimon überzeugt. Österreich müsse sich eine außenpolitische Rolle suchen, die den neuen Bedingungen entspreche. Das könne nur innerhalb einer europäischen Außenpolitik geschehen, in der die  neutralen EU-Mitgliedstaaten möglicherweise eine besondere Rolle spielen könnten. Österreich müsse sich selbstbewusst nach vorne drängen und seine Erfahrungen aktiv einbringen. Das würde das Argument, Österreich, das von Nato-Staaten umgeben ist, sei nur Trittbrettfahrer, sofort entkräften, so der Europasprecher der Grünen.

 

Aufgrund der Ereignisse in der Ukraine zeigten bislang neutrale Staaten wie Schweden oder Finnland  Interesse an einem Nato-Beitritt. Das liege aber hauptsächlich daran, dass diese Länder derzeit eine andere Bedrohung spürten als Österreich mit seiner besonderen geostrategischen Lage inmitten von Europa, umgeben von Nato-Mitgliedern, erklärte Experte Bernhard Gruber. Österreich sei bündnisfrei, und deshalb gelte es für das österreichische Bundesheer umso mehr, ein breites Spektrum an Fähigkeiten abzudecken. Die Gefahr, die für Österreich bestehe, sei weniger ein klassischer Angriff einer Armee, sondern vielmehr Bedrohungen wie Cyberattacken, Blackouts oder Drohnenangriffe, betonte Gruber, der das österreichische Bundesheer grundsätzlich gut aufgestellt sah, diesem betreffend Abwehr von Cyberkriminalität, im Luftbereich und bei der Digitalisierung aber Aufholbedarf attestierte.

 

Destabilisierung der Ukraine als Destabilisierung der Europäischen Union

Putin führe nicht nur Krieg gegen den unabhängigen Staat Ukraine, sondern auch gegen die Bevölkerung der Ukraine, erklärte Velina Tchakarova, Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik. Mit diesem umfassenden Krieg, so Expertin Tchakarova, solle die ukrainische Bevölkerung gebrochen und ihr die Widerstandsfähigkeit genommen werden. Das habe bereits eine extrem hohe Zahl an Menschen in die Flucht getrieben, was die umliegenden Staaten wie auch die EU vor große Herausforderungen stelle. Die europäische Solidarität werde aber nicht abnehmen, sondern weiter zunehmen, zeigte sich Tchakarova überzeugt.

 

FPÖ-Abgeordnete Steger betonte in diesem Zusammenhang, dass nun in erster Linie den Flüchtenden, unter denen hauptsächlich Frauen und Kinder seien, geholfen werden müsse. Viele würden nach Europa flüchten, um die Krise abzuwarten und danach wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Diese gelte es rasch zu unterstützen.

 

Geschlossenheit der EU als "Erfolg" Putins?

Auf die Frage, wie lange die Geschlossenheit der EU anhalten werde, erwiderte Velina Tchakarova, dass der Krieg durchaus auch wieder zu einer Zerreißprobe Europas werden könne. Man müsse sich bewusst sein, dass trotz des geschlossenen Auftretens nach wie vor Konfliktlinien innerhalb der Mitgliedstaaten bestünden, so Tchakarova. Als Beispiel nannte die Politikwissenschaftlerin Ungarns Position im Hinblick auf russische Gasexporte und Polens Vorschlag, in der Ukraine eine UN-Peacekeeping-Mission einzusetzen. Zusätzlich fänden sich in diesem Spannungsfeld auch viele externe Agierende – darunter die USA, China oder die Türkei –, die ihre eigenen geopolitischen Interessen verfolgten und durchaus auch gegeneinander ausspielten. Daraus ergäben sich naturgemäß sicherheitspolitische Bedrohungen, attestierte Tchakarova, die von diesen Staaten – ob Partner oder Rivalen der EU – "gnadenlos ausgenutzt" würden.

 

Deshalb müsse man, so SPÖ-Verteidigungssprecher Laimer, in der derzeitigen Situation sensibel vorgehen. Man müsse verhindern, dass Russland sich vermehrt in Richtung China orientiere und sich schlussendlich "angliedere". Es gelte, trotz allem zu beachten, dass Russland ein Teil Europas sei und dass man Russland nicht verlieren dürfe. Laimer wies auf die Fehler Europas – Stichwort goldene Pässe – hin und betonte, dass man diesen Balanceakt trotz aller Widrigkeiten meistern und sich dieser Zeitenwende ehrlich stellen müsse.

Es gelte auch, im Hinblick auf die Ereignisse im näheren Umfeld Stellung zu beziehen, so NEOS-Abgeordneter Brandstätter: Österreich könne in der Frage liberale Demokratie versus Diktatur nur auf einer Seite stehen und das müsse man Orbán, Vučić und auch allen anderen klarmachen. Dieser Systemkampf finde derzeit statt und Europa als liberale Demokratie müsse stark sein, um ihn zu gewinnen. Europa habe in seiner Vielfalt eine unheimliche Kraft und Stärke, so ÖVP-Abgeordneter Ofenauer. Darin lägen aber auch etliche Bruchlinien, die von diversen Kräften ausgenützt würden. Die Europäische Union müsse in dieser schwierigen Gemengelage agieren, und Österreich sei besonders gefordert, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wo die Bruchlinien lägen.

 

Der Ukraine-Krieg als Auslöser einer Zeitenwende in der Energiepolitik

Österreich müsse "so schnell wie möglich raus" aus der Abhängigkeit von russischem Gas, so Grünen-Abgeordneter Reimon. Jede Sanktion müsse, damit sie langfristig durchhaltbar sei, Putin mehr schaden als der EU – so könne die grüne Position auf europäischer Ebene umrissen werden. Die Suche nach Alternativen sei momentan schmerzhaft und schwierig, insbesondere wenn man sich beispielsweise an Saudi-Arabien wenden müsse, wo erst kürzlich 81 Menschen hingerichtet wurden, so Reimon. Als großes Zukunftsziel nannte ÖVP-Abgeordneter Ofenauer die Energieautarkie. Das Thema sei aber hochkomplex, da ein sofortiger Umstieg auf nachhaltige Energieerzeugung nur bedingt machbar sei, denn man müsse in allen Bereichen auf Rohstoffe aus anderen Ländern – die möglicherweise ethisch nicht akzeptabel seien – zurückgreifen.

 

Die EU habe in der Vergangenheit viele strategische Fehler gemacht, die in vielen Bereichen zu einer Abhängigkeit von anderen Staaten geführt hätten, kritisierte Petra Steger (FPÖ). So gesehen müsse sich die EU vielmehr darauf fokussieren, unabhängiger von anderen Staaten zu werden, was aber nicht bedeuten dürfe, die Handelsbeziehungen mit Russland zu kappen. Russland sei geografisch ein Teil Europas, schon allein aus diesem Grund müsse man daran arbeiten, diese Beziehungen in Zukunft wieder zu verbessern, führte die Abgeordnete aus. Robert Laimer (SPÖ) betonte abschließend die Wichtigkeit des Ausbaus erneuerbarer Energieträger, gab aber auch zu bedenken, dass man noch nicht so weit sei, sich von den fossilen Energieträgern "abzunabeln". Die EU müsse sich in Sachen Energielieferungen breiter aufstellen und diese besser, also anders organisieren.

 

 

Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦ 

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