· 

Schon vor mehr als 100 Jahren gab es Experten zufolge eine Corona-Pandemie

DMZ –  WISSENSCHAFT ¦ Sarah Koller ¦                          

KOMMENTAR

 

Dass es schon vor der aktuellen Pandemie Coronaviren gab, ist unstrittig. Aber eine Pandemie ähnlichen Ausmasses? Ein mehrere Jahre andauerndes Ereignis weist verblüffende Parallelen auf. Wissenschaftler vermuten, dass es bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Corona-Pandemie gab. Denn auch die Russische Grippe wurde wahrscheinlich durch ein Coronavirus verursacht. 

 

Wie konnten man zum ersten Mal die Beschaffenheit der Viren entdecken und sie verstehen? Katie Dabin, Kuratorin im Wissenschaftsmuseum, Schweiz, fasst es so zusammen:

  • Als der englische Arzt Edward Jenner 1796 den ersten Impfstoff zum Schutz gegen das Pockenvirus entwickelte, wusste niemand – Jenner eingeschlossen, dass Viren existieren und die Ursache vieler Krankheiten sind. Krankheiten wurden erklärt als höhere Gewalt, Ungleichgewicht der Säfte oder durch Miasmen – "schlechte Luft" – verursacht.
  • Erst in den späten 1800er Jahren begannen Wissenschaftler zu zeigen, dass etwas anderes und etwas kleineres als Bakterien Pflanzen- und Menschenkrankheiten verursachen – obwohl diese frühen Experimente nicht genau zeigen konnten, was genau am Werk war. Im Gegensatz zu Bakterien und anderen Mikroorganismen waren Viren zu klein, um unter einem Lichtmikroskop gesehen zu werden – doch dies war das Einzige, was den Forschern damals zur Verfügung stand, um Phänomene zu erkennen, die zu klein waren, um sie von blossem Auge sehen zu können.
  • Das Tabakmosaikvirus (TMV), das Pflanzen infiziert, war das erste Virus, das jemals identifiziert wurde, und steht seitdem an der Spitze der Virusforschung. Erste Hinweise auf das Virus gab es Ende des 19. Jahrhunderts, als eine mysteriöse Infektionskrankheit den Tabak schädigte.

Parallelen zur „Russischen Grippe“

Die Existenz ist belegt, auch, dass ihr rund eine Million Menschen zum Opfer fielen. Strittig ist allerdings der Erreger. Indizien sprechen dafür, dass es sich nicht um einen Influenza-Erreger handelte, sondern um ein Coronavirus. Denn Wissenschaftler vermuten eine Tier-Mensch-Übertragung. Auch dieses Virus wurde durch Reisende überallhin verbreitet und forderte viele Todesopfer, also genau gleich, wie heute bei Covid-19. Wer den Infekt damals überlebte, wurde oft lange nicht gesund (dies und das Fehlen von Konzentration, die Depression und Angst erinnern sehr an das, was heute Long-Covid-Symptome genannt wird). Es gibt Studien, die nahelegen, dass dieses Virus ungefähr 1890 auf den Menschen übergegangen ist.

 

Die Pandemie begann im Sommer 1889 in Zentralasien, von wo aus sie den Handelsrouten folgend sich nach Russland, China und von Russland aus nach Europa und dann weltweit ausbreitete. Die Ausbreitung erfolgte in Wellen. Der ersten Welle von 1889/1890 folgten bis 1895 drei weitere Wellen unterschiedlicher Ausprägung. Die "Russische Grippe" war mit bis zu einer Million Opfern weltweit die bis dahin schwerste Epidemie einer Atemwegsinfektion, übertroffen erst durch die Spanische Grippe, die ab 1918 weit über 25 Millionen Opfer forderte.

 

Der Eindruck, den das Aufflammen der Epidemie im Herbst 1889 auf das Publikum machte, zeigt sich in einem Gedicht über die Russian Flu, das der spätere Premier Winston Churchill verfasste, der damals 15 Jahre alt war und die Eliteschule Harrow besuchte. 

 

"The rich, the poor, the high, the low

Alike the various symptoms know

Alike before it droop.

 

Wissenschaftler fanden heraus, dass das Genom des damaligen Coronavirus OC34 einem Coronavirus ähnelte, das bei Rindern vorkommt. Dazu ist das heutige Coronavirus in einem einzelnen Gen einem anderen Virus sogar noch ähnlicher: einem Coronavirus, das in Schweinen in Umlauf ist.

 

In Artikel des Fachjournals Microbial Biotechnology erklären die Experten, dass es einen genetischen Austausch gab, und so das neue Coronavirus entstanden sein könnte. Wie uns bekannt ist, wird auch bei Sars-CoV-2 eine Tier-Mensch-Übertragung vermutet. Neben den molekularen Indizien gibt es aber noch mehr Parallelen. Laut dem Parsons Report aus England erkrankten Kinder an der Russischen Grippe - nicht zu verwechseln mit der Russischen Grippe der 1970er Jahre - seltener schwer als Erwachsene. Männer waren stärker betroffen als Frauen, gestorben sind vor allem alte Menschen. Sogar von Geschmacks- und Geruchsverlust ist die Rede.

Eine Bestimmung der Letalität der Infektion erweist sich als schwierig, wo – wie etwa in Grossbritannien – Todesursachen damals bereits statistisch erfasst wurden. Vor allem in den ersten Jahren wurde meist Lungenentzündung oder eine nicht näher spezifizierte Atemwegserkrankung als Todesursache benannt und nur selten Influenza. Die Häufigkeit dieser Erkrankungen macht es auch schwierig, auf die konkrete Pandemie zurückzuführende zusätzliche Todesfälle statistisch zu ermitteln.

 

Ein weiteres Charakteristikum der "Russischen Grippe" schliesslich sind die auffällig oft in den Berichten erscheinenden psychischen Auswirkungen, die nach dem Überwinden der eigentlichen Erkrankung weiterbestanden bzw. erst auftraten. Man sprach von „nervlichen Invaliden“, gequält von „post-influenzaler Depression“, „Lethargie“, „grippaler Katalepsie“, „hysterischem Koma“, „Melancholie“ und „Neurasthenie“. F. B. Smith und Mark Honigsbaum spekulieren, dass die in den 1890er-Jahren stattfindende kulturelle Wende hin zur Literatur der Dekadenz, der Kunst des Symbolismus und der Obsession des Fin de Siècle mit Krankheit, Wahnsinn und Tod mit einem langfristigen Einfluss überstandener Influenza-Erkrankungen zusammenhänge. Einen solchen Zusammenhang hat man zum Beispiel bei Edvard Munchs berühmtem Gemälde "Der Schrei" vermutet, dessen erste Versionen 1893 entstanden. Direkt belegbar sind solche Vermutungen jedoch nicht.

 

Wie endete die Pandemie damals?

Es gab, wie oben bereits erwähnt, vier Wellen zwischen 1889 und 1895. „Sie waren ziemlich heftig, was die Todesraten anbetrifft“, sagt Historiker Robert Jütte im Beobachter. „Bis zum Jahr 1900 musste sich die Welt mit dem Erreger beschäftigen – auch mit dem jetzigen Virus werden wir noch Jahre leben müssen.“ Überdies zeigt die Analyse von zeitgenössischen medizinischen Berichten, dass die klinischen Symptome der „russischen Grippe“ von 1889–1895 (wie oben bereits ausführlich erwähnt) denen von COVID-19 ähnelten, einer vom Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Erkrankung. So wurden Geschmacks- und Geruchsverluste sowie Langzeitfolgen beobachtet, die denen von Long Covid ähnelten. Der Verlauf der damaligen Pandemie kann darum auch wertvolle Hinweise darauf liefern, wie sich die COVID-19-Pandemie langfristig weiter entwickeln könnte.

Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der DMZ ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 

Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.

Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.

Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst die Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.

Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.
Kommentare: 0