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Straumanns Fokus am Wochenende - Der General

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

In ihrem klugen Buch «Die Torheit der Regierenden» (1984) erstellt die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman eine Typologie des politischen Irrtums. Unter welchen Umständen und durch welche Fehlleistungen und -einschätzungen kam es in der Geschichte zu den grössten politischen Dummheiten? Eine der Konstanten, die sie in ihrer Untersuchung herausdestilliert, lautet: Es kam mit Regelmässigkeit zu grossen politischen Torheiten, wenn das Militär über die Politik zu dominieren begann. Das heisst: Wenn die Politik den Generälen Gelegenheit gab, das Ruder zu übernehmen. Als die deutsche Admiralität 1917 den unbeschränkten Seekrieg eröffnete. Als die amerikanischen Generäle um William Westmoreland 1968 immer mehr Truppen nach Vietnam beorderten und den Krieg nach Laos und Kambodscha ausweiteten. Immer war das Fiasko vorprogrammiert. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte Kennedy auf seinen General Le May gehört, der Kuba einfach von der Landkarte wegbombardieren wollte. Die Staaten – wenn sie fähig sind, aus der Geschichte zu lernen – sollten sich hüten, Generäle in die Politik zu befördern, etwa ihnen das Verteidigungsministerium zu überlassen.

 

Der gegenwärtige amerikanische Aussenminister, Lloyd Austin, ist ein General, dekoriert mit drei Sternen. Wer das Buch von Barbara Tuchman kennt, kommt dieser Tage nicht umhin, sich daran zu erinnern, und zwar angesichts einer Aussage Austins, die er diese Woche in Kiew machte. Im Anschluss an die Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski, die er gemeinsam mit seinem Kollegen aus dem Aussenministerium, Antony Blinken, führte, sagte er: «Wir wollen Russland so schwächen, dass es solche Dinge wie den Einmarsch in die Ukraine nie mehr wird unternehmen können.»

 

Das war, mit Verlaub, das dümmstmögliche Statement, das ein amerikanischer Verteidigungsminister von sich geben konnte. Es entspringt einer primitiven Ein-für-allemal-Denkweise von Strafmassnahmen, die keine anderen Kriterien als die Anzahl von Divisionen und Flugzeugträgern kennt. Historisches Bewusstsein bleibt aussen vor. Stalin hat so gedacht, als er 1945, anlässlich der Konferenz von Jalta, forderte, Deutschland müsse deindustrialisiert und zu einem Agrarstaat gemacht werden, damit nie wieder Gefahr von Deutschland ausgehen könne.

 

Die Geschichte kennt einschlägige Beispiele, wie mit den Verursachern von Kriegen umgegangen werden kann, wenn sie denn einmal besiegt sind. Unmittelbar nachdem 1815 Napoleon von der Heiligen Allianz besiegt worden war, nahm der Wiener Kongress Frankreich – natürlich nicht mehr das napoleonische, sondern dasjenige der restaurierten Bourbonen-Herrschaft unter Louis XVIII. – wieder ins Konzert der Mächte auf. Weshalb? Weil die Engländer, die Preussen, die Russen und die Österreicher ein Gespür für das Gleichgewicht hatten, ohne das es keinen Frieden geben kann. Für ein halbes Jahrhundert blieb Europa von Kriegen verschont.

 

Umgekehrt ging man 100 Jahre später in Versailles vor: Deutschland wurde die komplette Kriegsschuld angelastet, es wurde beschnitten und mit unendlichen Reparationen belegt. Die Folgen waren der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, 20 Jahre nach Versailles.

 

Wes Geistes Kind General a.D. Lloyd Austin ist, macht seine Kiewer Aussage deutlich. Unbekannt ist nur, ob sie seiner politischen Unerfahrenheit geschuldet ist oder ob sie von Präsident Biden abgesegnet war. Die Art und Weise, wie die deutsche Regierung von den USA gleichzeitig gedrängt wurde, der Ukraine schwere Waffen zu liefern (wobei höchst umstritten ist, ob daraus ein militärischer Nutzen hervorgehen kann), lässt Ungutes erahnen. Deutschland, das unter Willy Brandt höchst erfolgreich eine auf Aussöhnung und Partnerschaft ausgerichtete Ostpolitik betrieb und noch unter Merkel den «Wandel durch Handel» mit Russland suchte, wird jetzt wieder mit allen Stricken an die Seite der USA gezwungen. Dass es keine Annäherung an Putin geben kann, ist selbstverständlich – aber ohne eine spätere Annäherung an Russland wird kein Frieden in Europa möglich sein.

 

Die USA aber wollen etwas anderes. Der Ausgang des Krieges in der Ukraine wird über Russlands Stellung in der Welt entscheiden. Der Aussage Austins zufolge hat Amerika für Russland die Demütigung beschlossen, die Herabwürdigung zu dem, was Barack Obama meinte, als er von «Russland als einer regionalen Macht» sprach. Immer noch gehen die Amerikaner davon aus, auch ein grosser Krieg, auch einer mit dem Einsatz von nuklearen Waffen, lasse sich auf Europa beschränken. Das ist eine grosse politische Torheit. Putin wird nicht hinnehmen, vor der Welt vorgeführt zu werden. Und eine Nachkriegslösung ohne Sinn für das Gleichgewicht zwischen den grossen Blöcken USA – Russland – China wird den Kern zukünftiger Kriege in sich tragen. Dieses Gleichgewicht herzustellen, muss das Ziel Europas sein, auch wenn das Amerika nicht gefällt. Europa ist derzeit froh, dass Joe Biden sich im Ukraine-Krieg klar positioniert. Aber dennoch müssen wir anstreben, dass der Krieg nicht für eine neue Spielart des Trump’schen «America first» benutzt wird.

Ob Lloyd Austin diese Komplexitäten bedacht hat, als er Putin und Lawrow provozierte? Wohl kaum. Es bleibt dabei: Haltet die Generäle fern von politischen Entscheidungen. Wie heisst es in einem Lied des unerreichten österreichischen Chansonniers und Kabarettisten Georg Kreisler mit dem Titel «Der General» (auf youtube abrufbar)? «Der arme Mensch ist General, da ist der Schaden schon total… Er näht sich Borten an den Rock und kleine Sterne, und wenn die andern salutiern, das hat er gerne… Ja sagn sie selbst: Ist das normal? Aus dem wird nie etwas, der bleibt a General.»

 

 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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