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Straumanns Fokus am Wochenende - Tatbeweis gefragt

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Exakt zwölf Wochen ist es her, dass die Truppen von Wladimir Putin die Ukraine überfallen und ein mörderisches Blutvergiessen begonnen haben, das die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe geführt und sie aller Sicherheiten beraubt hat. Aber der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an alles. Der Schock, den der Krieg in der westlichen Welt ausgelöst hat, ist ansatzweise verarbeitet. Die Nachrichten über das Grauen haben Eingang gefunden in unseren Alltag. Hat sich dadurch unsere Beurteilung des Geschehens verändert?

 

Ja und nein. Montesquieu, der französische Aufklärer, hat bereits im 18. Jahrhundert zwei wesentliche Dinge zur Frage der Beurteilung von Kriegen gesagt: Erstens hält er dafür, bei Kriegen zwischen Anlass und Ursachen zu unterscheiden, und zweitens solle man diejenigen, die den Anlass geben, nicht mit denjenigen verwechseln, die den Krieg unvermeidlich machten. In diesem Sinne halten wir fest: Unsere Beurteilung der Schuldfrage, wer den Krieg veranlasst habe, hat sich um keinen Deut verschoben. Der Kreml, unter der absolutistischen Führung Wladimir Putins, hat sich diesen Krieg zuschulden kommen lassen, völkerrechtswidrig, einer Kulturnation unwürdig, und alle in seinem Rahmen begangenen Menschenrechtsverletzungen gehen auf sein Konto.

 

Was aber die tieferen Ursachen betrifft, so zeigt sich inzwischen ein differenzierteres Bild. Folgende vier Punkte, die zu Beginn noch kaum jemand zu schreiben wagte, haben sich zu Gewissheiten erhärtet:

Erstens. Das Versprechen, das 1990 seitens der NATO (durch den damaligen amerikanischen Aussenminister Baker und seinen deutschen Amtskollegen Genscher) dem russischen Präsidenten Gorbatschow gegeben wurde, nämlich dass die NATO im Fall der deutschen Wiedervereinigung «keinen Fussbreit» noch Osten vorrücken würde, ist eine historische Tatsache. Sie bleibt wahr, obwohl Gorbatschow darauf verzichtet hat, dieses Versprechen schriftlich einzufordern. Es gibt genügend Dokumente, die es belegen.

 

Zweitens ist deshalb nicht wegzudiskutieren, dass in den folgenden beiden Jahrzehnten dieses Versprechen der NATO systematisch gebrochen wurde. Sogar Henry Kissinger, der als früherer Aussenminister vor keiner Gewalttat zurückschreckte (man erinnere sich an den Putsch in Chile 1973), hielt diesen wiederholten Wortbruch für den «grössten Fehler der amerikanischen Aussenpolitik nach dem Kalten Krieg».

 

In diesem Zusammenhang ist – drittens – interessant, dass neuerdings vermehrt auf ein Buch von Zbigniew Brzezinski aufmerksam gemacht wird, das er (als Präsidentenberater von Lyndon B. Johnson bis zu Jimmy Carter) nach dem Ende des Kalten Krieges vorgelegt hat: «The Grand Chessboard» («Das grosse Schachbrett», 1997). Darin entwickelt er den Schlüssel zur Frage, wie sich die USA ihres Widersachers Russland ein- für allemal entledigen könne: Indem es der USA gelingen würde, die Ukraine in die westlichen Bündnisse (EU, NATO) zu holen.

 

Viertens. In der Folge haben die USA bis 2014 5 Milliarden Dollar aufgewendet, um die Ukraine pro-westlich zu stimmen, und sie haben anlässlich der Maidan-Unruhen 2014 die Chance genutzt, eine pro-amerikanische Regierung zu installieren. Seit Beginn des Krieges im Februar haben die USA der Ukraine Waffen im Wert von 40 Milliarden Dollar geliefert.

 

Diese Tatsachen machen uns stutzig. Sie irritieren uns hinsichtlich der Beurteilung der Hintergründe des aktuellen Krieges, und dies umso mehr, als die westlichen Leitmedien diskret darüber hinweggehen. Der Begriff «Einkreisung» bezüglich der NATO-Strategie gegenüber Russland ist in den grossen Medienorganen (NZZ, FAZ, Süddeutsche, ARD, ZDF, SRG) absolutes Tabu. Dabei muss man nur eine Weltkarte zur Hand nehmen, die die Ostverschiebung der NATO und die Etablierung amerikanischer Stützpunkte zeigt, und man weiss Bescheid.

 

Was wir aber nicht wissen, ist: Handelte es sich bei der offensichtlichen Einkreisung um eine kluge, vorausschauende Sicherheitspolitik, oder um eine provozierende Aggression gegenüber den Sicherheitsinteressen einer vorübergehend geschwächten Weltmacht? Und was wir ebenso wenig wissen: Wie wird sich die Situation im pazifischen Raum entwickeln, wo die USA angesichts einer vergleichbaren Konstellation (China – Taiwan analog zu Russland – Ukraine) eine exakt identische Einkreisungspolitik vorantreiben?

Die militärische Situation in der Ukraine nach zwölf Wochen Krieg würde Gelegenheit geben, Waffenstillstandsverhandlungen voranzutreiben mit dem Ziel, die Ukraine in einen neutralen Status überzuführen. Es gibt Anzeichen, dass Moskau in zunehmendem Mass dafür zu gewinnen wäre. Der Westen könnte so den Beweis antreten, dass es ihm ernst ist, den Krieg zu beenden. Aber wiederum beschleichen uns Zweifel: Wollen die USA das überhaupt? Hat Amerika USA 45 Milliarden in die Ukraine investiert, um sie am Ende neutral zu sehen?

 

Die USA werden Gelegenheit erhalten, den Tatbeweis anzutreten: Dass es ihnen darum geht, das Blutvergiessen zu beenden, und nicht um die zynische Strategie, den Krieg möglichst lange in Gang zu halten, um Russland sich ausbluten zu lassen. Das wäre kein Triumph Amerikas, sondern der Ursprung späterer, mörderischer Folgekonflikte. 

 

 

Seit über einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  

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