· 

Natalies Diary: Warum mich «Religionsfreiheit» nervt!

Bild von AdrianMedia auf Pixabay 
Bild von AdrianMedia auf Pixabay 

DMZ –  Natalie Barth ¦                                Bild von AdrianMedia auf Pixabay 

KOLUMNE

 

Religionsfreiheit heisst nicht nur, ich bin frei, eine Religion auszuüben. Sondern es heisst auch, dass ich das Recht habe, mich von einer Religion zu befreien. Das verstehen viele nicht»

(Nariman Al Moulhid)

 

Religiöse Gruppen und einzelne sehr religiöse Menschen pochen ja recht gerne auf ihrem Recht der freien Religionsausübung. Schnell ist bei vielen die Grenze erreicht, an der sie sich diskriminiert fühlen und auf tatsächliche oder vermeintliche Intoleranz stossen. Wie sieht es denn umgekehrt aus? Wieviel Probleme bereiten Religionen und kleinere religiöse Gruppen Menschen, die ihre Werte, Moral, Regeln und Einstellungen nicht teilen? Wie ist es denn da um Freiheit bestellt, die sie anderen zugestehen sollten? Religionsfreiheit ist keine Einbahnstrasse.

 

Sorry, aber ich kann das Wort «Religionsfreiheit» kaum noch ertragen. Unter dem Deckmantel der heiligen Kuh «Religion» dürfen Homosexuelle und andere queere Menschen diskriminiert, menschenunwürdige Praktiken verübt und Kinder durch verstörende Geschichten gefügig gemacht werden. Es wird Gehorsam gefordert, es werden Regeln körperlich oder seelisch eingeprügelt und es wird mit Liebesentzug und anderem seelischen Missbrauch ganz legal gearbeitet. Dinge, die jeden Psychologen die Hände über den Kopf zusammenschlagen lassen.

 

Aber hey, wir wollen ja nicht intolerant sein und Religionen diskriminieren! Und darum schauen wir lieber weg, damit sich jegliche religiöse Gruppe nicht in ihrer Glaubensausübung gestört fühlt! Ganz egal, WAS da so passiert, nicht wahr?

 

Was Religionsfreiheit auch heisst

Religionsfreiheit heißt auch, sich von Religion BEFREIEN zu dürfen! Ohne Strafe und harte Konsequenzen. Und davon sind wir sogar hier in Europa in manchen Teilen unserer Gesellschaft noch meilenweit entfernt. Die Gesetzeslage sieht düster aus! Der Schutz von Kindern, die in extremen, fundamentalistischen Gruppen aufwachsen müssen, ist NICHT gegeben. Aussteiger werden geächtet oder gestalkt, aus Familien verstossen, erpresst, körperlich bedroht und manchmal sogar ermordet. Einzelfälle? Erschreckenderweise leider nicht.

 

Schön, dass jeder seine Religion, seinen Glauben leben darf. Aber ein Zuviel der Toleranz gegenüber den menschenverachtenden Regeln und Gepflogenheiten in vielen fundamentalistischen, manipulativen Gruppen – egal ob christlich, jüdisch, muslimisch - ist meiner Meinung nach einfach nicht angebracht. Und verfrachtet uns gleichzeitig gesellschaftlich zurück ins Mittelalter!

 

Natürlich wird ein Mord oder Gewalttätigkeit von den Behörden verfolgt werden. Aber all die Grauzonen zwischen legalem und illegalem Verhalten und all das, was dazu führte, damit so etwas überhaupt passieren kann – religiöser Fanatismus – wird einfach hingenommen, unter dem grossen Zauberwort «Religionsfreiheit».

 

Es wird darüber gesprochen: Christliche Fundamentalisten

Ja, es ist ein heikles Thema. Positiv ist jedoch, dass in den Medien immer mehr christliche Gemeinschaften in unserer Kultur blossgestellt werden, die sich mit Berufung auf die Bibel so menschenverachtend und missbräuchlich verhalten. Wie die Zeugen Jehovas, die Ex-Mitglieder als «Abtrünnige» und «geistig krank» betiteln und den Kontakt zu ihnen vollständig abbrechen, weil sie wie bei einer buchstäblichen Krankheit, die Gruppe infizieren würden. Oder die OCG (Organische Christus-Generation), bei der körperliche Gewalt nichts Ungewöhnliches darstellt und biblische Lehren mit gefährlichen Verschwörungstheorien vermixt werden. Auch diverse Freikirchen werben zwar gerne mit dem Wort «frei» und erwecken den Anschein, weltoffen zu sein. Gleichzeitig werden aber die Rechte von Homosexuellen und Frauen in der Gemeinde massiv eingeschränkt.*

 

Und ja, auch in den grossen Landeskirchen gab es und gibt es manche Untergruppe, die einer Sekte in nichts nachsteht. Die ARD-Dokumentation «Geknechtet unterm Kreuz – Leben in einer katholischen Sekte», beschreibt z.B. die «Integrierte Gemeinde», die vor allem in den 1970er Jahren einen grossen Zulauf erlebte und auf radikale Weise das Christentum leben und die katholische Kirche erneuern wollte. Diese Gruppe wurde erst 2020 aufgelöst:

https://programm.ard.de/TV/tagesschau24/Startseite/?sendung=287214630678&fbclid=IwAR3uTwE6gfgVSK3KrreCaYVJuQWhVRoMFI8E0t8DBtGM1W-5KMK-3T4yIU0

 

Vor einigen Monaten habe ich ein Interview mit einem ehemaligen Pastor geführt, der in eine Gemeinschaft hineingeboren wurde, die unter einer Dachorganisation der evangelischen, landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, in Österreich und in den Niederlanden läuft. In dieser Gemeinschaft wurde auf teils sehr fundamentalistische Art und Weise der Glaube an Christus verteidigt. Die Bibel wurde wortwörtlich genommen und das Verständnis, die Auslegung und das Ausleben dieser war DIE Wahrheit. Sogar eine buchstäbliche Hölle und die Angst davor waren bereits als Kind Bestandteil seines Lebens: https://youtu.be/B7tc4dgmE44

 

Jüdische und muslimische Fundamentalisten

Aber es ist auch ein Thema, an das sich viele nicht rantrauen, wenn es um die gleichen abartigen Gepflogenheiten in fundamentalistischen Richtungen des Islam oder Judentums geht. Mir scheint auch, dass manche Sektenberatungen sich nicht gerne öffentlich über solche extremistischen Gruppierungen dieser zwei Weltreligionen äussern und dabei klar benennen, dass viele der Kriterien, die eine Gruppe als gefährlich und hochmanipulativ, ja destruktiv für eine Gesellschaft, kennzeichnen, durchaus auch hier zutreffen.

 

Das ist leider fatal für deren Opfer, die - wenn die Sache nicht klar benannt wird – auch kaum Gehör für ihre Geschichte finden. Erst wenn eine Sache einen Namen bekommt und in der Gesellschaft enttabuisiert wird, nimmt sie Einzug in das Bewusstsein von Menschen, wird ernst genommen. Ohne klaren Namen, ohne Bezeichnung und Beschreibung der missbräuchlichen Situation, existiert diese auch nicht und es kann sich folglich nichts verändern.

 

Das Leben in und der Ausstieg aus streng orthodoxen jüdischen Gemeinden kann zum Beispiel ganz genauso grässlich sein, wie bei vielen Gruppen, die man in der Gesellschaft als Sekte deklarieren würde. Vor kurzem entdeckte ich eine neue, sehr bewegende Reportage des SRF, bei der ein Aussteiger aus einer solchen jüdischen Gemeinde erzählt, was dieser Schritt für ihn bedeutete: «Jude ohne Gott» https://youtu.be/WzKrwZRm408

 

Einen wirklich sehr schockierenden Bericht gibt es vom SRF auch über muslimische Aussteiger: «Wenn Muslime nicht mehr an Allah glauben»: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/vom-glauben-abfallen-drohungen-und-folter-wenn-muslime-nicht-mehr-an-allah-glauben

 

Die Aufzählung von missbrauchenden, manipulierenden religiösen Gemeinschaften ist natürlich nicht vollständig. Religiöser Extremismus und geistlicher/spiritueller Missbrauch können wohl unter der Flagge jeglicher Religion der Menschheit gefunden werden. Und nicht nur das, die Dynamiken lassen sich in sämtlichen Bereichen menschlicher Gesellschaften, auch den nichtreligiösen, beobachten: In Familien, in der Naturheilkunde, in der Psychotherapie, in der Arbeitswelt, in der Esoterik, in der Politik etc.

 

Wann sich etwas ändert

Es wird immer Menschen geben, die die ersten sind, wenn sie einer hässlichen Geschichte die Anonymität nehmen. Menschen, die in diesem Fall den Deckmantel der «Religionsfreiheit» wegziehen und an die Öffentlichkeit bringen, was im Verborgenen passiert. Dann werden sie zwar oft erst belächelt oder als Spinner, als Dramaqueens, als Lügner, als Einzelfälle abgetan. Aber es gibt ein beruhigendes Phänomen in menschlichen Gesellschaften: Wenn einer den ersten Schritt tut und dabei eine Grenze überschreitet, ein Tabu, dann folgt ihm ein weiterer Mensch, der nun ebenfalls den Mut aufbringt, diese Grenze zu übertreten. Und noch einer. Und noch einer. Und plötzlich gibt es eine Menge von Menschen, denen endlich Gehör geschenkt wird, weil sie keiner mehr ÜBERhört. Und damit ist das Fundament gelegt, dass sich etwas gravierend verändern kann: 

Eine Veränderung zum Schutz von Menschen, die Religionsfreiheit etwas anders verstehen, als dies manch fundamentalistisch gläubiger Mensch tut, der gerne auf seinem Recht auf diese Freiheit pocht. Oder als so manche der religiösen Sondergemeinschaften, die schnell mal klagen, wenn ihnen dieses Recht scheinbar beschnitten wird.

 

Ein Aspekt von Religionsfreiheit, der ebenfalls als grundlegendes Recht in unserer Gesellschaft angesehen werden sollte:

 

Eine Freiheit VON Religion.

Ohne Konsequenzen.

Ohne Strafe.

Ohne Ächtung.

Ohne Angst.

Ohne Verluste.

 

 

Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com, auf dem es viele Artikel zu allen möglichen Themen auch zum Anhören gibt. Ausserdem betreibt sie den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach».

 

 

*Quellen:

 

Zeugen Jehovas: https://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/2011524?q=geistig+krank+abtrünnige&p=par (Absatz 6)

 

OCG: https://www.srf.ch/sendungen/dok/ocg-radikale-christen-soehne-des-sektenfuehrers-ivo-sasek-bestaetigen-kindesmisshandlung

 

Freikirche ICF: https://www.blick.ch/schweiz/wie-icf-und-andere-evangelikale-gemeinschaften-die-schweiz-erobern-sie-sind-so-frei-id15197884.html

 

Evangelikale Freikirchen: https://www.planet-wissen.de/kultur/religion/jenseits_der_traditionellen_kirchen/evangelikale-christen-100.html

 

Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der DMZ ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 

Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.

Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.

Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst die Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.

Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0