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Die Gaskrise wird uns mehr fordern als wir ahnen

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦                                 

KOMMENTAR

 

Ende März noch wurde in Deutschland eine Studie von Ökonomen diskutiert, die ein sofortiges Gasembargo forderten und als Folge ein paar Prozent Wachstumseinbuße zudem für kurze Zeit kalkulierten. Das fand viele Anhänger, aber auch Kritiker: https://dirkspecht.de/2022/03/die-folgen-eines-gas-embargos-sind-nicht-modellierbar/. 

 

Wirtschaftsminister Habeck musste sich u.A. in einer Lanz-Sendung von einer der Autorinnen, Prof. Pittel, gar eine wissenschaftsfeindliche Haltung vorwerfen lassen, weil er das weder für eine valide Berechnung, noch für eine besonders gute Idee hielt: https://dirkspecht.de/2022/04/habeck-argumentiert-nicht-wissenschaftsfeindlich-eher-verletzt-pittel-die-wissenschaftlichkeit/.

 

Nun sind wir drei Monate weiter und es zeichnet sich kaum überraschend ab, dass insbesondere die Gaslieferungen von russischer Seite immer weiter gedrosselt werden. Europa muss offensichtlich mit einem Embargo von der anderen Seite rechnen. Da Gas für Russland einen weit höheren politisch/strategischen als einen ökonomischen Wert hat, ist das leider vollkommen logisch. Der eigene Schaden für Russland ist weit geringer als die Folgeschäden in Europa – da liegt es auf der Hand, diese Karte zu spielen. Auch die Art, in der es erfolgt, ist naheliegend: Schrittweise, asymmetrisch gegenüber den Ländern Europas und langsam. Je länger das Thema arbeiten kann, desto besser frisst es sich in die Debatten unserer Gesellschaften und desto effektiver kann es durch Desinformationskampagnen begleitet werden, die Schuldige ausmachen und Ursachen verdrehen.

 

Niemand sollte diese Gemengelage unterschätzen. Europa wird eine Rezession kaum erspart bleiben. Das trifft uns in einer Phase, in der die Erholung von Corona noch längst nicht abgeschlossen ist – und Corona ist es auch noch nicht. Die bereits vor dem Ukraine-Krieg erkennbaren Folgen bei Lieferketten und Inflation werden durch den russischen Angriff deutlich verstärkt. Ergebnis ist eine nicht nur politische, sondern nun auch ökonomische Krise, welche besonders großen sozialen Sprengstoff mit sich bringt – was wiederum die erforderliche politische Stabilität belastet. Die Staaten Europas haben aber nach Finanz- und Corona-Krise, die beide nicht mal ausgestanden sind, nun nicht mehr die Ressourcen, die Folgen mit Geld zu verdecken. Insbesondere die Energie- und Lebenshaltungskosten werden mit aller Deutlichkeit bis zum Verbraucher durchschlagen. Für alle ein Ärgernis, für viele eine erhebliche Belastung, für nicht wenige untragbar. Leider sollten wir sogar damit rechnen, dass mit der Spürbarkeit der Krisenfolgen, die nicht mehr staatlich verdeckt werden können, die Wirksamkeit russischer Lieferkürzungen und Desinformationskampagnen nochmals zunimmt – weshalb beides sich steigern dürfte.

 

Je stärker wir das spüren, desto leiser wird es um die März-Studien. Im Gegenteil wird nahezu täglich erkennbarer, dass die Folgen weitaus größer sind – und dass wir sie tatsächlich immer noch nicht kennen. Leider wächst die Wand, vor der wir stehen, nur weiter an. Inzwischen werden auch erste Folgen bei den Preisen genannt. So wird offen kommuniziert, dass die Verbraucher von Gas sich auf eine Verdreifachung ihrer Kosten einrichten müssen, was bald auch durchschlagen muss, denn rein ökonomisch steht das ganze Gas-Versorgungssystem vor dem Kollaps.

 

Das Problem bei den Gas-Lieferketten besteht darin, dass hier eine Vielzahl an Akteuren über diverse Zwischenhandelsstufen oft mit Festpreisen und längeren Laufzeiten operiert. Daher erfolgen bis heute viele Lieferungen bis zum Verbraucher zu Konditionen, die längst eklatant defizitär sind. Das ist dann kein systemisches Problem, wenn es nur vorübergehend ist und nur wenige Akteure trifft. Beim Strom beispielsweise haben wir bereits Insolvenzen von Billiganbietern gesehen, die aber gut aufgefangen werden konnten. Beim Gas ist die Hoffnung, dass die Preisexzesse sich wieder zurück bilden und das System nur vorübergehend unter Druck gerät, längst dahin.

 

Jenseits der Frage, ob überhaupt genug Gas für alle zu beschaffen ist, haben wir also ökonomisch bereits das Problem drohender Insolvenzen in der Versorgungskette. Wie schnell dieses Kartenhaus nun ins Wanken kommt, sieht man an der raschen Abfolge der Maßnahmen: Mit der Stützung der Gazprom Germania und ersten 10 Milliarden hat es vor erst zwei Wochen begonnen (https://dirkspecht.de/2022/06/weitere-zehn-milliarden-energiesubvention-duerfen-nicht-einfach-verschwiegen-werden/), vor wenigen Tagen kamen weitere 15 Milliarden (https://dirkspecht.de/2022/06/habeck-bereitet-den-ernstfall-vor/) hinzu und nun wird vorbereitet, die Preise möglichst bald bis zum Endverbraucher durchzureichen (https://dirkspecht.de/2022/06/habeck-kuendigt-preissteigerungen-an/). Das führte zur ersten Schätzung einer Verdreifachung.

 

Ob das reicht, muss man skeptisch sehen. Wir haben in den vergangenen Jahren enorm vom billigen Gas profitiert, wobei der Profit leider nur teilweise beim privaten Verbraucher angekommen ist. Der Durchschnittspreis im Einkauf von Gas lag bei 20 Euro pro Megawattstunde. Man darf vermuten, dass Großkunden wie BASF mit eigenen Lieferverträgen deutlich besser davon kamen. Sowohl in der Industrie, als auch in den Versorgungsketten wurde prima verdient, die Verbraucher bekamen durch günstige Preise auch etwas ab. Jetzt aber kostet die Beschaffung bis zu 120 Euro pro Megawattstunde. Bei einem Gesamtverbrauch von einer Milliarde Megawattstunden in Deutschland sprechen wir also von Mehrkosten in Höhe von 100 Milliarden Euro, die nun irgendwie aufzubringen und im System zu verteilen sind. Diese Rechnung präsentiert Stadtwerke-Vertreter Ingbert Liebing (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/steigende-gaspreise-stadtwerke-warnen-vor-hohen-energiekosten-18130487.html).

 

Natürlich weiß niemand so genau, wer aktuell zu welchen Konditionen welche Mengen aus welchen Quellen auch immer einkaufen kann. Vor allem aber weiß niemand, wie diese bewusst so kompliziert formulierte Situation sich weiter entwickeln wird. Liebings Rechnung mag so etwas wie der größte anzunehmende Schaden sein, aber es ist sicher eine ganz gute Orientierungsgröße – zudem mit dem Hinweis, dass es sich bei den 100 Milliarden bis auf weiteres um jährliche Mehrkosten handelt!

 

Diese Mehrkosten sind aber nur ein Teil des Schadens, wenn es zu Rationierungen kommt – und mit denen ist leider zu rechnen (https://dirkspecht.de/2022/06/3102/). Diese Erkenntnisse führen nun dazu, dass es zwei neue Studien gibt. Passend zur Kommunikation von Ministerpräsident Söder (https://dirkspecht.de/2022/06/soeder-fordert-energiesicherheit/), der von Habeck Energiesicherheit verlangte – woher auch immer die kommen mag – hat heute die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) eine Prognos-Studie veröffentlicht, der zufolge der BIP-Rückgang durch einen Stopp russischer Lieferungen durch „Domino-Effekte“ 12,7% betragen würde. Das liest sich schon ganz anders als die März-Studien.

 

Diese bayerische Kommunikation hat vermutlich zwei Hintergründe: Bayern hat eine besonders hohe Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen, ähnlich der in Ostdeutschland. Über die Sünden der früheren Landespolitik wird gerne geschwiegen, aber es war eben nicht nur das „System Schröder“, welches die Gazprom-Deals so förderte. Nun macht man sich in Bayern natürlich zurecht Sorgen über die Folgen, nicht zuletzt in der Wirtschaft. Man darf vermuten, dass wir hier die ersten Vorboten eines Verteilungskampfes sehen, denn alle bereiten sich hinter den Kulissen darauf vor, dass es nicht nur zu erheblich steigenden Kosten, sondern auch zu Lieferausfällen kommt.

 

Wer dann leer ausgeht oder gekürzt wird, ist Aufgabe der Bundesnetzagentur. Bisher gilt hier, dass insbesondere private Haushalte bevorzugt werden und die Industrie die Hauptlast von Rationierungen zu tragen hätte. Man darf vermuten, dass Bayern diese Prioritäten diskutieren möchte – und das ist jenseits der Frage, wer das alles verursacht hat leider auch richtig. Niemand will kalte Wohnungen, niemand will auf sein warmes Wasser verzichten, aber wir sollten uns der bitteren Frage stellen, ob ein größerer Flurschaden in unserer Industrie nicht mindestens mal gleichrangig zu diskutieren ist.

 

Das Thema der Rationierungen wird vermutlich auch recht bald auf die Agenda kommen und wir sollten es zurecht fürchten, denn es ist unglaublich komplex, was bei unseren gesellschaftlichen Debatten vorsichtig formuliert nicht förderlich ist. Wenn man sich die dümmliche Debatte zu der Marginalentscheidung einer Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken anschaut (https://dirkspecht.de/2022/06/die-gaskrise-ist-eine-gaskrise-und-keine-stromkrise/), mag man sich gar nicht vorstellen, wie das bei den – leider sehr wahrscheinlichen – Rationierungen von Gas aussehen wird.

 

Aber wir werden um diese Debatte nicht herum kommen. Eines zeichnet sich bereits ab und das hat wie im oben verlinkten Beitrag bereits beschrieben dann doch eine Verbindung zum Strom: Die rein technische Bedeutung der Gaskraftwerke für die Stabilität der Stromversorgung sollte niemand unterschätzen. Wir werden das Gas an der Stelle durch andere Kraftwerke nicht substituieren können und wir sollten anerkennen, dass Strom sakrosankt ist: Gasrationierungen werden für uns ungeahnte teuer und schmerzhaft, ein großer Blackout im Stromnetz wäre tödlich. Das hat in einer modernen Industriegesellschaft Folgen, die Elsberg in „Blackout“ keineswegs als Utopie beschrieben hat – man sollte es als fiktionales Sachbuch bewerten.

 

Um abschließend zur Atomdebatte noch etwas beizutragen: Es ist keineswegs der alberne Habeck alleine, der vom Sparen und dabei auch vom Duschen spricht. Wir reden über ein europäisches Problem und das ist eng vernetzt. Habeck spricht zunehmend aus Brüssel und anderen Hauptstädten zu uns, weil die Europäer insgesamt betroffen sind und ihre Energiesicherheit nicht die Reserven hat, die man lange vermutete. Ein mögliches russisches Gasembargo trifft indirekt alle. So brauchen beispielsweise die Franzosen nicht trotz, sondern wegen ihrer Atomstrompolitik zuverlässig Importe von Strom vor allem aus Deutschland. Davon wird aber viel durch die Spitzenlastkraftwerke benötigt – und die laufen NUR mit Gas.

 

Wer also unsere Debatte auf die Atomkraftfrage reduzieren möchte, sollte sich schlau machen, was in Frankreich gerade passiert: Dort sind es die CEOs der ansonsten bitter konkurrierenden Energiekonzerne, die – Achtung! – eindringlich zum Sparen aufrufen. Ferner plant Frankreich die Reaktivierung von – siehe da – Kohlekraft, um die Versorgung sicherzustellen (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/engie-edf-und-total-versorger-rufen-zum-energiesparen-auf-18130238.html).

 

Es ist leider die Kombination aus einem technisch sehr komplexen und für uns alle unfassbaren teuren Problem, das diese Gesellschaft bisher nicht kannte. Energiesicherheit war nie Thema. Daher werden wir uns schwer tun, es anzunehmen, zu verstehen und vor allem zu erkennen: Es ist existenziell.

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