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Natalies Diary: Grössenwahn und absolute Kontrolle – Die Illusion der Selbstoptimierung

DMZ –  Natalie Barth ¦                                

KOLUMNE

 

„Hinter dem Drang zur Kontrolle steht Furcht. Die Furcht etwas Schmerzliches erfahren zu müssen. Jede unserer Gegebenheiten beleidigt das Ego, das glauben möchte, es besässe die volle Kontrolle…Wir können lernen, die Tatsache anzunehmen, dass wir manchmal einfach nicht fähig sind, einen unangenehmen Wandel in unserem Leben aufzuhalten.“

 

Das obige Zitat stammt aus dem Buch „Fünf Dinge, die wir nicht ändern können und das Glück, das daraus entsteht“ von David Richo. Ich habe es, wie viele meiner Bücher, in einer der Bücherkabinen gefunden, in denen man selbst ein Buch bringt und dafür ein anderes mitnimmt. Ein supergeniale Idee, wie ich finde.

 

Warum mich dieses Buch in dem Moment angezogen hat? Weil ich mir immer mal wieder schwer damit tue, Gegebenheiten in meinem Leben zu akzeptieren, die einfach nicht zu ändern sind. Und ich weiss, dass ich mit diesem „Hindernis“ fürs echte Leben nicht unbedingt allein dastehe.

 

Ich hatte lange Zeit kaum Kontrolle darüber, was in meinem Leben geschah, fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Als ob mein Dasein festgelegt wäre und es keine Chance zur Veränderung gäbe. Irgendwann wollte ich diesen Umstand aber nicht mehr akzeptieren. Ich wollte nicht mehr jammern, wie scheisse alles ist. Ich wollte etwas anderes aus meinem Leben machen, mich wieder wirklich lebendig fühlen. Und so kam ich mit einer Industrie in Berührung, die in den letzten Jahrzehnten einen Mega-Boom erlebte: Die Industrie der Selbstverwirklichung und der Selbstoptimierung.

 

Eine Milliarden-Industrie entsteht 

Ich verschlang Bücher, besuchte Workshops, machte eine Weiterbildung als Coach, buchte Life-Coaching-Kurse, die über Wochen liefen und Business-Coachings, um auch in meinem Geschäft die Kontrolle über mein Leben und meine Finanzen zu haben. Dabei merkte ich nicht, dass ich in ein anderes Extrem abdriftete und auf Versprechungen hereinfiel, die in vielen Bereichen dieser Mega-Industrie leider am laufenden Band herausgeschleudert werden: „Du kannst ALLES erreichen, was Du willst.“ „Es liegt ganz allein an Dir, was Du in Deinem Leben hast, denn Du ziehst es durch Deine Gedanken an.“ „Was auch immer in Deinem Leben passiert, Du hast es selbst verursacht.“

 

Als grössenwahnsinnige Göttin

das pure, unverdiente Glück des Lebens

mit Füssen treten

 

Es ist eine Sache, zu glauben, dass wir überhaupt nichts in unserem Leben ändern können. Damit verschenken wir unsere Macht an andere, lassen diese über uns bestimmen, leben unter unserem eigentlichen Potenzial und sterben letztlich innerlich irgendwie ab. Manchmal verlieren die Begeisterung und die Freude über unser Dasein und vegetieren eigentlich nur noch vor uns hin…So wie ich es viele Jahre lang erlebte, als ich glaubte, ich könnte gar nichts an meinem „Schicksal“ ändern.

 

Aber eine andere, noch viel dämlichere Sache ist es, zu glauben, wir hätten keine Grenzen, könnten kleine Götter spielen, indem wir Körper, Beruf und Liebe optimieren wie es uns gefällt und ALLES, was uns im Leben passierte, hätten wir selbst fabriziert. Es ist nicht nur ganz knapp an der Realität des Lebens vorbeigedacht und etwas grössenwahnsinnig. Es ist auch eine brutal egoistische und menschenverachtende Lebenseinstellung.

 

Der Egoismus der Selbstoptimierung

Denn wenn ich das glaube, lasse ich einerseits sämtliche nichtbeinflussbare soziokulturelle Faktoren ausser Acht. Und andererseits gebe ich deutlich zu verstehen, dass andere Menschen an ihrem Unglück vollkommen selbst die Verantwortung tragen, unter allen Umständen. Und dass sie sich nur allein durch ihre eigene Einstellung wieder aus der Scheisse rausholen können. Dann braucht es meinerseits in letzter Konsequenz kaum Mitgefühl und noch viel weniger Handeln und Helfen für Notleidende. Ein Flüchtender aus der Ukraine oder aus Syrien oder wo auch immer auf diesem Erdball wird sich schön bedanken, wenn er am Krieg in seinem Heimatland auch noch selbst die Schuld trägt (und nicht der grössenwahnsinnige Putin oder ein al-Assad).

 

Manchmal kann man

an seiner Lebenssituation nichts,

absolut gar nichts ändern.

Punkt.

 

Manchmal schäme ich mich zutiefst, dass auch ich dieser anderen, extremen Seite nachgesprungen bin. Denn wenn ich ehrlich sein soll, ich habe in dieser Zeit oft negativ über andere Menschen gedacht, die tief in einer Krise - und das vielleicht über Jahre hinweg - steckten: „Selbst Schuld. Der muss doch nur dies oder das ändern und sein Leben endlich in die Hand nehmen. Aber er tut ja nix. Also kein Mitleid!“

 

Grosser Fehler! Denn es mag stimmen, dass dieser Mensch weniger in die Hand nimmt in seinem Leben, als er eigentlich könnte. Aber woher weiss ICH, was er könnte und was nicht? Ganz schön anmaßend, das für einen fremden oder auch nahestehenden Menschen beurteilen zu wollen! Manchmal kann man an seiner Lebenssituation nichts, absolut gar nichts ändern. Punkt. Oder vielleicht könnte man an einer speziellen Situation sogar etwas rütteln, aber manchmal kann man es zu diesem bestimmten Zeitpunkt einfach nicht. Der Druck, der durch diese „Lebensweisheiten“ aufgebaut wird, ist extrem belastend für jemanden, der in diesem Moment kaum Kontrolle über sein Leben hat.

 

Und daran bin auch ich letztlich gescheitert: Am Anspruch an mich selbst, als Gedanke eingepflanzt in mein Gehirn von einer Industrie, die mit permanenter Selbstoptimierung ein Milliarden-Geschäft macht. Alles muss optimiert werden: Der Lifestyle, die Finanzen, das Business, der Körper, der Charakter, das Beziehungsleben, die Spiritualität. In letzterem Bereich scheint es mir, als würden die Auswüchse der Grössenwahnsinnigkeit die exorbitantesten Auswüchse annehmen. Dort begegnete mir die Einstellung, man könne allein aus der Kraft der Gedanken Gegenstände materialisieren, beispielsweise eine Tafel Schokolade (wortwörtlich so geäussert).

 

Manchmal sind wir tatsächlich nicht fähig, einen unangenehmen Wandel in unserem Leben aufzuhalten. Ja, manchmal fehlt uns die Kontrolle komplett und wir haben keine Chance sie uns zurückzuholen. Und genau das macht uns Angst, macht uns unsicher. Und mit Unsicherheit kommen wir Menschen ganz schlecht klar. Wir wollen Sicherheit und Kontrolle, um auf jeden Fall Schmerz und Leid zu vermeiden. Und dann bauen wir uns philosophische Konstrukte, die über die Realität hinwegtäuschen. Und lassen uns von Gurus und Führern und Leitfiguren hypnotisieren, die diese scheinbare Sicherheit oder diese „logischen“ Erklärungen ganz locker aus dem Ärmel schütteln.

 

 

Mit Unsicherheit kommen wir schlecht klar.

Wir wollen Sicherheit und Kontrolle, um auf jeden Fall Schmerz und Leid zu vermeiden.

 

Dabei kann genau das, nämlich die Akzeptanz dessen was ist, dazu führen, wieder etwas Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen.

Aus einer desaströsen Gegebenheit des Lebens, an der nichts zu ändern ist, können wir Kraft gewinnen. Wir können daran wachsen und eine Stärke entwickeln, die wir ohne diese niemals hätten gewinnen können. Wir lernen, das wertzuschätzen, was wir haben, ohne uns ständig zu beklagen oder gar alles Gute uns selbst zuzuschreiben und damit als grössenwahnsinnige Göttin das pure, unverdiente Glück des Lebens mit Füssen zu treten.

 

Eine ganze Szene zu verteufeln ist auch extremistisch!

Was ich noch gelernt habe bzw. immer noch lerne: Sich auf den Extremen, den Polen gegensätzlichen Denkens und Handelns aufzuhalten, ist weder für einen selbst noch für das wertschätzende Zusammenleben in einer Gemeinschaft oder Beziehungen förderlich. Ausserdem entspricht es selten der Realität. Ich kann heute Bücher lesen, denen ich viel Wertvolles für mein Leben entnehme und gleichzeitig sagen, was mir in diesem Buch gegen den Strich geht und ich nicht akzeptabel für mich empfinde. Ebenso ist es bei mir mit Menschen, denen ich zuhöre, von denen ich etwas lernen möchte.

 

So ergeht es mir übrigens auch mit dem eingangs erwähnten Buch, dass ich mir aus der Bücherkabine schnappte. Ich habe viel Nachdenkenswertes und Wertvolles entnommen. Andererseits habe ich irgendwann ganze Seiten übersprungen, weil mir schon wieder ein zu dogmatisches Gedankengut in eine bestimmte spirituelle Richtung entgegensprang. Ich weiss heute, was ich annehmen will und was ich getrost ablehnen kann.

 

Denn eines kann ich bei all der Anklage gegen diese Selbstoptimieruns-Industrie auch zugeben: Ein Teil davon hat mich tatsächlich weitergebracht. Es gab einige Menschen, Bücher und Kurse, die es schafften, mich aus meiner Hilflosigkeits-Starre und einem festgefahrenen Denken herauszukatapultieren. Mir neue Wege zu zeigen. Die gesamte Persönlichkeitsentwicklungsszene oder auch Spiritualität komplett zu verteufeln (was leider sehr oft passiert von sogenannten Aufklärern, die „ja nur warnen wollen“), ist schon wieder ein Extrem, das nicht gesund ist.

 

Ich weiss heute immer besser, was mir geholfen hat und immernoch hilft, die Verantwortung und die Macht für mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wo das funktioniert und vor allem wo nicht. Was mir guttut und was mir schadet. Ich weiss aber auch, dass „Gesetze“, die IMMER und bei JEDEM gelten sollen – wie z.B. das in der Szene permanent zitierte „Gesetz der Anziehung“ (Prinzip: Gleiches zieht Gleiches an) – nicht existieren. Immer dann, wenn aus einem interessanten Ansatz, der situationsbezogen durchaus sinnvoll und richtig sein kann, ein Dogma wird, ist der Weg für Extremismus geboren.

 

Absolute Kontrolle ist eine Illusion. Ebenso wie absolute Hilflosigkeit. Balance heisst das Zauberwort. Und genau das fällt uns so verdammt schwer.

 

 

Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com, auf dem es viele Artikel zu allen möglichen Themen auch zum Anhören gibt. Ausserdem betreibt sie den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach». 

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